TE Vwgh Beschluss 2020/9/7 Ra 2020/18/0111

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Veröffentlicht am 07.09.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte

Norm

B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Februar 2020, W200 2168599-1/19E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M M, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Bund hat dem Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der im Jahr 2000 geborene Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte im Alter von 15 Jahren unbegleitet nach Österreich und beantragte am 16. November 2015 internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 24. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).

3        Die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis in Bezug auf die Nichtgewährung internationalen Schutzes (Spruchpunkte I. und II. des Bescheides) ab. Hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides gab das BVwG der Beschwerde hingegen statt und änderte die verwaltungsbehördliche Entscheidung dahingehend ab, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Mitbeteiligten ein befristeter Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ in der Dauer von zwölf Monaten erteilt wurde. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4        Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die unter Hinweis auf ihrer Ansicht nach vergleichbare Fälle aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung geltend macht, auch im gegenständlichen Fall liege keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich vor, dass bereits von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden könne. Hinzu komme, dass das BVwG im angefochtenen Erkenntnis auch die Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 durch das BFA beseitigt habe. Über die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte sei aber nach den gesetzlichen Vorgaben erst zu entscheiden, wenn ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Da diese Voraussetzung gegenständlich nicht vorliege, sei dem BVwG keine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte zugekommen.

5        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der insbesondere die psychische Erkrankung des Mitbeteiligten, die eine fortgesetzte Behandlung erforderlich mache, hervorgehoben und die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragt wurde.

6        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Hat das Verwaltungsgericht - wie im vorliegenden Fall - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.

Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen. Liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG danach nicht vor, ist die Revision gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

7        Im vorliegenden Fall ging das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich vom Mitbeteiligten auch einen persönlichen Eindruck verschafft hatte, im Ergebnis davon aus, dass die Integration des Mitbeteiligten während seines Aufenthalts in Österreich - ungeachtet seiner schwierigen psychischen Lage (festgestellte posttraumatische Belastungsstörung sowie rezidivierende depressive Episoden mit vermehrt auftretenden Suizidgedanken, die eine regelmäßige medikamentöse und psychotherapeutische Betreuung notwendig machen) - ein außergewöhnliches Ausmaß erreicht hat, die in der angefochtenen Entscheidung im Einzelnen beschrieben wird (intensive und vielfältige persönliche, schulische und berufliche Integration in die österreichische Gesellschaft, außerordentlich gute Deutschkenntnisse, engagierter Gesamteindruck, Unbescholtenheit). Das Verwaltungsgericht setzte sich gleichzeitig mit den fehlenden Bindungen des Mitbeteiligten zum Herkunftsstaat auseinander, den der Mitbeteiligte schon im Alter von 15 Jahren verlassen hatte und in dem keine nahen Familienangehörigen mehr leben. Es beschäftigte sich auch mit der Frage, inwieweit die Integrationsschritte des Mitbeteiligten durch das Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus gemindert seien und verwies darauf, dass dem letztgenannten Umstand wegen der (bis vor kurzem vorliegenden) Minderjährigkeit des Mitbeteiligten und der dadurch eingeschränkten Einsichtsmöglichkeit weniger Gewicht zukomme. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte gelangte das BVwG zu dem Schluss, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im Entscheidungszeitpunkt die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im Bundesgebiet und an der Fortführung seines bestehenden Privatlebens in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwögen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich deshalb als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK.

8        Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht mit Revision angefochten werden kann (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0370 bis 0372, mwN).

9        Zu Recht verweist die Revisionsbeantwortung des Mitbeteiligten darauf, dass die vorliegende Entscheidung des BVwG sämtliche maßgeblichen Kriterien aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung beachtet und vertretbar gewürdigt hat. Die Amtsrevision bezieht sich zwar auf Vorjudikate des Verwaltungsgerichtshofes, in denen die außergewöhnliche Integration der Betroffenen verneint wurde, vermag aber nicht hinreichend darzulegen, dass die dort beurteilten Sachverhalte mit dem vorliegenden Einzelfall in allen relevanten Umständen vergleichbar waren. Der Verwaltungsgerichtshof vermag daher die Schlussfolgerung der Amtsrevision, das BVwG sei mit der vorliegenden Entscheidung von den höchstgerichtlichen Leitlinien abgewichen, nicht nachzuvollziehen.

10       Wenn die Amtsrevision einwendet, das BVwG sei im angefochtenen Erkenntnis selbst davon ausgegangen, dass die psychische Erkrankung des Revisionswerbers die Gewährung von subsidiärem Schutz nicht rechtfertige, weshalb ihr auch im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung kein Gewicht zukomme, ist ihr lediglich zu entgegnen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus einerseits und für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung andererseits nicht übereinstimmen. Aus der Nichtgewährung des subsidiären Schutzes lässt sich deshalb nicht auf die - von der Amtsrevision offenbar intendierte völlige - Unbeachtlichkeit der massiven psychischen Beeinträchtigung des Mitbeteiligten und der Notwendigkeit einer sichergestellten fortgesetzten Behandlung im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK schließen.

11       Soweit die Amtsrevision geltend macht, dem BVwG sei wegen der Behebung des verwaltungsbehördlichen Abspruchs über den Aufenthaltstitel gemäß
§ 57 AsylG 2005 keine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte zugekommen, ist gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf den hg. Beschluss vom 27. April 2020, Ra 2020/21/0121, zu verweisen, in dem derselbe Einwand mit ausführlicher Begründung als nicht zielführend erachtet wurde.

12       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

13       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere § 51 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. September 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180111.L00

Im RIS seit

20.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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