TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/6 W246 2140682-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2020
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Entscheidungsdatum

06.07.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W246 2140682-1/42E

Schriftliche Ausfertigung des am 23.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Heinz VERDINO als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (auch XXXX ), geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gerhard MORY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2016, Zl. 1075045706-150732799, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 23.06.2021 erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der – zu diesem Zeitpunkt bereits volljährige – Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 24.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.06.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt.

3. Am 03.09.2015 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Rahmen des Dublin-Verfahrens.

4. Mit Bescheid vom 07.09.2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 70/2015, als unzulässig zurück und führte aus, dass für die inhaltliche Prüfung des Antrages Ungarn zuständig sei. Gleichzeitig ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über den Beschwerdeführer gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015, die Außerlandesbringung an und erklärte seine Abschiebung nach § 61 Abs. 2 leg.cit. für zulässig.

5. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 29.09.2015, Zl. W144 2114789-1/3E, gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 84/2015, statt und behob den bekämpften Bescheid.

6. Am 21.06.2016 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass seine Familie damals in den Iran gereist sei, weil sie Probleme mit den Mudschaheddins wegen der Grundstücke der Familie des Beschwerdeführers gehabt habe. Sein Vater sei im Jahr 2001 in den Iran gegangen und im Jahr 2004 nach Afghanistan zurückgekehrt, weil er die Grundstücke wiedererlangen habe wollen. Dann sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, bei der ein Onkel und ein Cousin des Beschwerdeführers ums Leben gekommen seien. Der Vater des Beschwerdeführers sei verletzt worden, habe aber in den Iran fliehen können.

7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. ab. Weiters erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit., erließ ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016, und stellte gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit. die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

8. Der Beschwerdeführer erhob gegen den im Spruch genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.11.2017 u.a. in Anwesenheit der damaligen Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der er ausführlich zu seinen Fluchtgründen, seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie im Iran und seiner Integration in Österreich befragt wurde.

Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Dabei wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I. Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 145/2017, ab; weiters gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides statt, erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 leg.cit. den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.11.2018.

Dabei stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu der in Afghanistan bestehenden Blutfehde seiner Familie mit einer anderen Familie aufgrund von Steigerungen, Widersprüchen und Ungereimtheiten in seinen Angaben nicht glaubhaft sei, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides abzuweisen sei. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz in Afghanistan eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde und ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in den in Frage kommenden Städten nicht zur Verfügung stünde.

10. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beantragte mit Schreiben vom 21.11.2017 fristgerecht eine schriftliche Ausfertigung des am 17.11.2017 mündlich verkündeten Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 138/2017.

11. Am 02.01.2018 erfolgte die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses vom 17.11.2017 durch das Bundesverwaltungsgericht.

12. Der am 29.03.2018 gestellte Antrag des Beschwerdeführers auf Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich Spruchpunkt I. des o.a. Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes (der sich insbesondere darauf stützte, dass der Beschwerdeführer und u.a. Herr Dr. XXXX bei einem Romaufenthalt die dort lebende Schwester des Beschwerdeführers besucht und dabei neue Tatsachen hinsichtlich der Blutfehde der Familie in Afghanistan erfahren hätten) wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 23.04.2018, W246 2140682-2/2E, gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 138/2017, als unbegründet abgewiesen. Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 11.06.2019, Zl. E 2160/2018-5, die Behandlung der Beschwerde gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.04.2018 ab und wies den gleichzeitig erhobenen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ab.

13. Mit Erkenntnis vom 30.09.2018, Zl. Ra 2018/01/0068-6, hob der Verwaltungsgerichtshof nach am 08.02.2018 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhobener außerordentlicher Revision das mündlich verkündete Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.11.2017, schriftlich ausgefertigt am 02.01.2018, im Umfang seiner Spruchpunkte A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.

Begründend hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass das Bundesverwaltungsgericht auf in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers stattfindende „Kampfhandlungen“ bzw. „Militäroperationen“ hingewiesen habe und dass das Bundesverwaltungsgericht offenkundig von einer allgemein prekären Sicherheitslage ausgegangen sei. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer „extremen“ Gefährdungslage bzw. einer „willkürlichen“ Schadensgefahr für den Beschwerdeführer iSd Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ließen sich daraus fallgebezogen jedoch nicht ableiten, zumal das Bundesverwaltungsgericht selbst in den Länderfeststellungen auf die – relativ – friedliche Situation in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers verweise. Mit dem bloßen Hinweis, dass der Beschwerdeführer seine Heimatregion als Kind verlassen habe und seither nicht mehr dort aufhältig gewesen sei, werde auch kein in der persönlichen Lebenssituation des Beschwerdeführers begründetes besonderes Gefährdungselement bzw. kein relevantes Unterscheidungsmerkmal, aufgrund dessen sich seine Situation kritischer darstellen sollte als für die sonstige Bevölkerung im Herkunftsstaat, dargelegt. Die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK iSd ständigen Judikatur werde daher nicht dargetan; auf die Frage der – vom Bundesverwaltungsgericht verneinten – Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative komme es daher im vorliegenden Fall nicht an.

14. Mit Schreiben vom 25.10.2019 nahm der Beschwerdeführer im Wege seines nunmehrigen Rechtsvertreters zum Verfahren Stellung. Dabei legte der Beschwerdeführer eine (erste) Sachverhaltsdarstellung des Dr. XXXX über ihre gemeinsame Romreise im März 2018 und die dort erfahrenen Erkenntnisse über die behauptete Blutfehde der Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan vor.

15. In der Folge erstattete der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 08.01.2020 im Wege seines Rechtsvertreters ein weiteres schriftliches Vorbringen.

Dabei führte der Beschwerdeführer u.a. aus, dass er nicht an Gott glauben würde und eine tiefe innere Ablehnung gegenüber dem Islam sowie dessen Priestern, den Mullahs, verspüren würde. Die Ablehnung des Islams, der Hass auf die Mullahs und die Überzeugung, dass eine wertoffene, religiös tolerante und liberale Gesellschaft einer islamistischen Gesellschaftsordnung vorzuziehen sei, seien Teil seines Wesens und seiner persönlichen Identität geworden. Es wäre ihm unmöglich, sich in Afghanistan soweit zu verstellen, dass er von seiner menschlichen Umgebung als Muslim wahrgenommen werde. Insbesondere wäre es ihm unmöglich, seinen Hass auf den Islam, den Islamismus und seine politisch-religiösen Vertreter sowie seine diesbezüglichen Meinungen zu verbergen. Sein Glaubensabfall und sein Hass auf den Islam sowie seine Vertreter würden daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu einer Gefährdung seines Lebens und seiner körperlichen Integrität führen.

Der Beschwerdeführer legte mit diesem Schreiben mehrere Länderberichte (Artikel von Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans, Asylmagazin 3/2017, 82 ff.; Anfragebeantwortungen von ACCORD vom 11.06.2013 und 25.08.2014 jeweils zu Blutrache in Afghanistan) vor.

16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.01.2020 u.a. in Anwesenheit des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers und eines Behördenvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie seiner Integration in Österreich befragt wurde. Weiters wurden die bei der Verhandlung anwesenden Ehegatten XXXX ausführlich v.a. zur Integration des Beschwerdeführers und ihrem gemeinsamen Leben mit dem Beschwerdeführer in Österreich befragt. Die Verhandlung wurde aus Zeitgründen vertagt.

In der Verhandlung brachte der Beschwerdeführer u.a. folgende Unterlagen in Vorlage:

?        „AQUA-Vereinbarung“ mit dem AMS sowie der XXXX GmbH hinsichtlich einer Qualifizierungsmaßnahme

?        Bestätigung der XXXX GmbH vom 09.01.2020 über die Anstellung des Beschwerdeführers als Praktikant mit Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann im Bereich Lebensmittel und über seine Übernahme als Regelbetreuer mit unbefristetem Vertrag ab 11.03.2020

?        Anwesenheitsliste hinsichtlich der Tätigkeit bei der XXXX GmbH für die Monate September 2018 bis Dezember 2019

?        Auszug aus dem Auskunftsverfahren hinsichtlich der Meldungen des Beschwerdeführers

?        Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung („bestanden“)

?        Führerschein

17. Die mit Ladungen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.02.2020 für den 22.04.2020 ausgeschriebene mündliche Verhandlung wurde aufgrund der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Situation hinsichtlich der COVID-19-Pandemie in der Folge wieder abberaumt.

18. Mit Schreiben vom 18.06.2020 nahm der Beschwerdeführer im Wege seines Rechtsvertreters abermals zum Verfahren Stellung. Dabei legte er u.a. folgende weiteren Unterlagen vor:

?        Weitere (zweite) Sachverhaltsdarstellung des Dr. XXXX über die gemeinsame Romreise im März 2018 und die dort erfahrenen Erkenntnisse über die behauptete Blutfehde der Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan samt Fotos und Flugbuchungsbestätigungen zu dieser Reise

?        Schreiben der Schwester des Beschwerdeführers in Dari samt Übersetzung ins Italienische

?        B1-Zeugnis zur Integrationsprüfung (Sprachkompetenz und Werte- sowie Orientierungswissen)

19. Das Bundesverwaltungsgericht setzte am 23.06.2020 u.a. in Anwesenheit des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers die zuvor vertagte öffentliche mündliche Verhandlung fort und befragte den Beschwerdeführer und den als Zeugen geladenen Dr. XXXX ausführlich zu einem möglichen Abfall vom Islam und einer etwaigen westlichen Orientierung des Beschwerdeführers. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl entsandte aus dienstlichen und personellen Gründen keinen Vertreter zu diesem Verhandlungstermin.

In der Verhandlung legte der Beschwerdeführer den Bescheid der Wirtschaftskammer XXXX vom 06.05.2020 hinsichtlich der Zulassung zur Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf „Einzelhandelskaufmann – Lebensmittelhandel“ samt Prüfungsterminen vor.

Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Dabei gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides statt und erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 29/2020, (in der Folge: AsylG 2005) den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.06.2021. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer sich mittlerweile aus freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit sowie Nachhaltigkeit getragen, somit aus innerer Überzeugung, von seinem vorherigen Glauben abgewendet habe, weshalb ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan im gesamten Staatsgebiet eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK drohen würde.

20. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beantragte mit Schreiben vom 25.06.2020 fristgerecht die schriftliche Ausfertigung des am 23.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie im Iran:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX (auch XXXX ) und ist am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Ghezelbash, einer Untergruppe der Volksgruppe der Tadschiken.

Er ist in einem Dorf in der Provinz Balkh in Afghanistan geboren, von wo aus er gemeinsam mit seiner Familie im Alter von ca. vier Jahren in den Iran gegangen ist. Im Iran besuchte der Beschwerdeführer für ca. neun Jahre die Schule. Er war nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von ca. vier Jahren nie mehr in Afghanistan aufhältig.

Drei Brüder des Beschwerdeführers sind nach wie vor im Iran aufhältig. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in den USA, wo mittlerweile auch die Eltern des Beschwerdeführers aufhältig sind. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in Italien. Der Beschwerdeführer steht mit seinen beiden Schwestern in Kontakt.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich und einem Abfall vom Islam:

1.2.1. Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und die Deutschzertifikate A1 („sehr gut bestanden“), A2 („gut bestanden“) und B1 („bestanden“) erlangt; er spricht ein zwar einfaches aber grammatikalisch gutes sowie gut verständliches Deutsch. Zudem war er von Beginn seines Aufenthaltes an auch um seine sonstige Weiterbildung bemüht, was v.a. durch seinen bestandenen Pflichtschulabschluss und die von ihm aktuell absolvierte Lehrabschlussprüfung zum Ausdruck kommt.

Weiters hat sich der Beschwerdeführer seit seiner Ankunft in Österreich auf verschiedene Weise ehrenamtlich engagiert, indem er z.B. für das Rote Kreuz (Besuch von Schulklassen als „Botschafter der Migration“) sowie die Caritas (u.a. Essensausgabe für Obdachlose und Küchendienste) tätig war und zuletzt während der ersten Monate der Corona-Krise Besorgungen für Nachbarn erledigte. Der Beschwerdeführer nahm zudem an einer Qualifizierungsmaßnahme des AMS, dem AQUA-Projekt, teil, über welches er längere Zeit bei der XXXX GmbH tätig war; der Beschwerdeführer könnte bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen aus Sicht des Arbeitgebers dort sofort wieder zu arbeiten beginnen.

Der Beschwerdeführer lernte im März 2016 Frau Dr. XXXX kennen, die sich ehrenamtlich engagierte und Asylwerbern – wie auch dem Beschwerdeführer – regelmäßig Deutschunterricht erteilte. Frau Dr. XXXX und ihr Ehemann, Herr Dr. XXXX , verbrachten in der Folge an den Wochenenden mehrfach Zeit mit mehreren Asylwerbern – wie auch dem Beschwerdeführer – und luden diese u.a. auch zu sich nach Hause zum Essen ein. Dabei sind die übrigen Asylwerber ab einem gewissen Zeitpunkt u.a. deshalb nicht mehr gekommen, weil sie kein „unislamisch“ vorbereites Fleisch essen wollten, womit der Beschwerdeführer von Anfang an kein Problem hatte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen dem Beschwerdeführer und den Ehegatten XXXX eine immer intensivere Beziehung, was schließlich dazu führte, dass der Beschwerdeführer im September 2017 bei den Ehegatten XXXX einzog und seitdem durchgehend dort wohnhaft ist. Er übergibt seitdem monatlich einen Pauschalbetrag von € 150,-- für Kost und Logie an die Ehegatten XXXX , der von diesen für den Beschwerdeführer verwaltet und auf einem Sparbuch für bestimmte Ausgaben angespart wird (dem Beschwerdeführer wurde von diesem Betrag z.B. ein Auto mitfinanziert). Zwischen dem Beschwerdeführer und den Ehegatten XXXX besteht mittlerweile eine sehr enge und fast schon familiäre Beziehung, was u.a. in gemeinsamen Wanderungen im Sommer (z.B. XXXX ), in Schlittenfahrten, beim Schi fahren sowie Langlaufen im Winter (u.a. am XXXX ) und durch gemeinsame Besuche von diversen Veranstaltungen (u.a. Perchtenläufe, Christkindlmärkte, Theater, Kino, Oper, Haus der Natur, Wohnhaus von XXXX , Festung XXXX , Keltenmuseum, XXXX , XXXX , Salzbergwerk, uÄ.), also insgesamt auch einem starken Näherbringen der österreichischen Kultur und Lebensweise gegenüber dem Beschwerdeführer, zum Ausdruck kommt und sich u.a. auch darin äußert, dass dem Beschwerdeführer bei Reisen der Ehegatten XXXX die Verantwortung für ihr Haus überlassen wird.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über männliche sowie weibliche österreichische Freunde und Bekannte (u.a. über seine Arbeit bei der XXXX GmbH, durch das Fitnesscenter und über seine Lehrabschlussprüfung), mit denen er auch seine Freizeit verbringt und z.B. die Disko besucht.

Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.2. Der Beschwerdeführer wurde als schiitischer Muslim von seinen Eltern v.a. im Iran streng-religiös erzogen, was insbesondere dadurch zum Ausdruck kam, dass er regelmäßig beten, fasten und die Moschee besuchen musste, wobei er dieser Ausübung der Religion schon damals eher ablehnend gegenüberstand. Als der Bruder des Beschwerdeführers im Jahr 2014 im Iran verstarb, gab der streng-religiöse Vater des Beschwerdeführers ihm die Schuld für den Tod seines Bruders, weil der Beschwerdeführer laut seinem Vater kein religiöser Mensch wäre und seine Religion nicht ausreichend praktiziert hätte. Daraufhin wandte sich der Beschwerdeführer verstärkt von seinem vorherigen Glauben ab und stand diesem auch ab seiner Ankunft in Österreich immer sehr kritisch gegenüber. Dies führte u.a. dazu, dass er in Österreich Schweinefleisch isst sowie regelmäßig Alkohol (wie Bier und Schnaps) trinkt, auch schon Geschlechtsverkehr mit Frauen hatte, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen als etwas sehr Positives erachtet, aktuell im Allgemeinen kein Interesse für Religionen aufbringt, den österreichischen (und somit auch den europäischen/westlichen) Werten und der hier praktizierten Kultur sowie Lebensweise sehr offen gegenübersteht und diese innerhalb sowie außerhalb seines österreichischen Familienverbandes, in den er nunmehr seit bereits drei Jahren integriert ist, auch tatsächlich lebt. Aus diesen Gründen wurde der Beschwerdeführer in der Vergangenheit von anderen afghanischen Asylwerbern ablehnend behandelt und u.a. auch eingeschüchtert.

Der Beschwerdeführer hat sich während seines Aufenthalts in Österreich im Laufe der Zeit – insbesondere während seines Zusammenlebens mit den Ehegatten XXXX – aus freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit sowie Nachhaltigkeit getragen, somit ab einem gewissen Zeitpunkt auch aus innerer Überzeugung, von seinem vorherigen Glauben abgewendet, wobei nicht davon auszugehen ist, dass er diesen Abfall vom islamischen Glauben, der mittlerweile fester Bestandteil seiner Identität geworden ist, bei einer Rückkehr nach Afghanistan verleugnen würde.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan aufgrund seines Abfalls vom islamischen Glauben physische und/oder psychische Gewalt v.a. von Seiten der Zivilbevölkerung.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-2020 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban, die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command-North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind im Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz (UNAMA 24.2.2019). Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten 6 Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden (UNAMA 30.7.2019).

Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäßig Operationen in der Provinz durch (RFERL 22.9.2019; vgl. KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019), dies unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.

Berichten zufolge errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019).

IDPs – Binnenvertriebene

UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 1.218 aus der Provinz Balkh vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 4.361 konfliktbedingt Vertriebene aus Balkh, die allesamt in der Provinz selbst verblieben (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 15.313 Vertriebene in die Provinz Balkh, darunter 1.218 aus der Provinz selbst, 10.749 aus Faryab und 1.610 aus Sar-e-Pul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 14.301 Vertriebene nach Mazar-e-Sharif und Nahri Shahi, die aus der Provinz Faryab sowie aus Balkh, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (UNOCHA 18.8.2019).

Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie sich weiterhin vor Bestrafungen durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung. Laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.6.2019).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 21.6.2019).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 21.6.2019). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 21.6.2019).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 21.6.2019).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 21.6.2019).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 2.9.2019). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34% (USDOS 21.6.2019). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019). Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (HRW 17.1.2019).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.2.2019). Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten, wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (USDOS 21.6.2019).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die unter anderem dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 7.6.2017; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und die von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 21.6.2019).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten, Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 21.6.2019).

Christentum und Konversion zum Christentum

Nichtmuslimische Gruppierungen wie Sikhs, Baha‘i, Hindus und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 21.6.2019). USDOS schätzte im Jahresbericht zur Religionsfreiheit 2009 die Größe der geheimen christlichen Gemeinschaft auf 500 bis 8.000 Personen (USDOS 26.10.2009). Religiöse Freiheit für Christen in Afghanistan existiert. Gemäß der afghanischen Verfassung ist es Gläubigen erlaubt, ihre Religion in Afghanistan im Rahmen der Gesetze frei auszuüben. Dennoch gibt es unterschiedliche Interpretationen zu religiöser Freiheit, da konvertierte Christen im Gegensatz zu originären Christen vielen Einschränkungen ausgesetzt sind. Religiöse Freiheit beinhaltet nicht die Konversion (RA KBL 1.6.2017).

Tausende ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 1.6.2017).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 2.9.2019). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken (USDOS 21.6.2019).

Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. Zur Zahl der Konvertiten gibt es keine Statistik. In den meisten Fällen versuchen die Behörden, Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden (RA KBL 1.6.2019).

Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 2.9.2019; vgl. USCIRF 4.2018, USDOS 21.6.2019), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 21.6.2019; vgl. AA 2.9.2019). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (WA 11.12.2018; vgl. AA 2.9.2019). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017).

Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal. Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Es gibt keine Berichte zu staatlicher Verfolgung aufgrund von Apostasie oder Blasphemie (USDOS 21.6.2019).

Beobachtern zufolge hegen muslimische Ortsansässige den Verdacht, Entwicklungsprojekte würden das Christentum verbreiten und missionieren (USDOS 21.6.2019). Ein christliches Krankenhaus ist seit 2005 in Kabul aktiv (CURE 8.2018); bei einem Angriff durch einen Mitarbeiter des eigenen Wachdienstes wurden im Jahr 2014 drei ausländische Ärzte dieses Krankenhauses getötet (NYP 24.4.2014). Auch gibt es in Kabul den Verein „Pro Bambini di Kabul“, der aus Mitgliedern verschiedener christlicher Orden besteht. Dieser betreibt eine Schule für Kinder mit Behinderung (PBdK o.D.; vgl. AF 4.1.2019).

Apostasie, Blasphemie und Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (AA 2.9.2019).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 21.6.2019) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie (AA 2.9.2019); auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen, dies weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017; vgl. USDOS 21.6.2019). Auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 21.6.2019).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (AA 2.9.2019). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.2.2019). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen. Es existieren keine Gesetze, Präzedenzfälle oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 1.6.2017).

Relevante ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen (CIA 30.4.2019; vgl. CSO 2019). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA 7.2016; vgl. CIA 30.4.2019). Schätzungen zufolge sind 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 2.9.2019).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 13.3.2019).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 2.9.2019). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 13.3.2019).

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.b; vgl. RFERL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.b). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.b). Aus historischer Perspektive identifizierten sich dari-persisch sprechende Personen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa durch das Siedlungsgebiet oder die Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel k?boli (aus Kabul), her?ti (aus Herat), maz?ri (aus Mazar-e Scharif), panjsh?ri (aus Panjsher) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name t?jik (Tadschike) bezeichnete ursprünglich traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (BFA 7.2016; vgl. GIZ 4.2019, MRG o.D.b). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (BFA 7.2016).

Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominierendste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.b). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).

1.3.2. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 01.06.2017 u.a. zur Situation von vom Islam abgefallenen Personen (a-10159) (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

„[…]

1) Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als ‚Weggehen‘ vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe […] (Landinfo, 4. September 2013, S. 10)

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die ‚heilige Religion des Islam‘ als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatliche Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten […] (Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, 26. Jänner 2004, Artikel 130)

Bezugnehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten ‚hudud‘-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten ‚hudud‘-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).

Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs-, Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten ‚Freedom of Thought Report 2016‘, dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei […] (IHEU, 1. November 2016).

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:

‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 10).

Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 ‚Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan‘ des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:

‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 10).

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:

‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten‘, die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen. Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist.‘ (UNHCR, 19. April 2016, S. 61).

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtslehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her ‚reif‘ seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige […] (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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