TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/8 W279 2179570-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.07.2020
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Entscheidungsdatum

08.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W279 2179570-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.06.2020, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).

2. Bei der mit einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung des BF am selben Tag gab dieser an, am XXXX in Kabul geboren und ledig zu sein. Er bekenne sich zur Glaubensrichtung des sunnitischen Islam und gehöre der Volksgruppe der Tajik an. Er habe 8 Klassen der Grundschule in Mazar-e-Sharif besucht. Zuletzt habe er in der Stadt Mazar-e-Sharif, Straße XXXX gelebt. Er sei gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan ausgereist, diese sei jedoch in Pakistan verblieben.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er an, dass er eines Tages mit einem Mitschüler eine Diskussion gehabt habe, weil dieser „Allah“ gesagt habe. Der BF habe ihn gefragt, warum er nicht einfach Gott sagen würde, da Allah der Name einer Statue sei. Weiters habe er mit ihm über den Koran diskutiert und gefragt, warum der Koran in Arabisch und nicht in ihrer Sprache, Dari, geschrieben sei. Das habe einer der Mitschüler in der nächsten Stunde dem Religionslehrer erzählt, der ihn daraufhin zur Rede gestellt habe. Er habe ihn geschlagen und aus der Klasse geworfen. Am nächsten Tag sei er mit der Begründung, dass er ungläubig sei, erneut aus der Klasse geworfen worden. Als die Schule zu Ende gewesen sei, habe er seine Sachen aus der Klasse holen wollen, als der Lehrer zu ihm gesagt habe, dass er mit ihm ins Lehrerzimmer gehen solle. Dort habe er ihm gesagt, dass er zulassen müsse, dass er ihn vergewaltige oder er die gesamte Geschichte der Schuldirektion melden würde. Der Lehrer habe ihn angegriffen, er habe aber flüchten können und sei nach Hause gegangen. Am nächsten Tag habe der Direktor Bescheid gewusst und den BF in die Direktion zitiert. Dieser habe ihm erklärt, dass er ihn bei der Polizei melden und seine gesamte Familie eine Strafe bekommen würde. Daher habe seine Familie Afghanistan verlassen müssen.

3. Am 23.02.2017 langte eine Stellungnahme des BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. In dieser wollte der BF eine Richtigstellung des Erstbefragungsprotokolls sowie ergänzende Angaben machen. Demnach sei der Geburtsort des BF nicht Kabul, sondern Mazar-e-Sharif. Außerdem würden sich zwei Onkel des BF, wovon einer österreichischer und einer niederländischer Staatsbürger sei, sowie seine Tante und Cousine, ebenfalls österreichische Staatsbürgerinnen, in Österreich aufhalten. Zu seinem Fluchtgrund wolle er ergänzend vorbringen, dass er von dem Religionslehrer im Lehrerzimmer bereits sexuell belästigt und festgehalten worden sei. Er habe sich jedoch befreien und nach Hause laufen können, wo er seinen Eltern von dem Vorfall berichtet habe. Noch am selben Abend hätten die Eltern des BF einen Anruf von einem Kommandanten erhalten, der mit der Familie verwandt sei. Dieser habe der Familie mitgeteilt, dass eine Anzeige gegen sie erstattet worden sei, die bereits in höheren militärischen Kreisen behandelt werde. Er habe sie damit warnen wollen. Die gesamte Familie habe noch am selben Abend den Wohnort verlassen und sei zunächst nach Kabul gefahren und von dort in Richtung Pakistan aufgebrochen. Bei einer Rückkehr habe der BF nicht nur Angst vor einer Strafe, sondern befürchte entführt, verschleppt oder umgebracht zu werden. Er befürchte, dass seine Akte nach wie vor offen sei und er jederzeit gefunden und aufgegriffen werden könne. Insbesondere deshalb, weil mittlerweile auch der verwandte Kommandant in Haft sei und bedrängt werde, den Aufenthaltsort der Familie bekannt zu geben. Miteingebracht wurden Kopien der Dokumente der österreichischen sowie niederländischen Verwandten.

4. Nach Zulassung seines Verfahrens erfolgte am 05.10.2017 eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Der BF gab eingangs an, dass er in der Provinz Balkh, Stadt Mazar-e-Sharif geboren sei und zuletzt in der Straße XXXX gelebt habe. Seine Eltern seien zwischenzeitlich in Pakistan. Er habe ein paar Mal mit ihnen gesprochen, seit 10 Monaten habe er jedoch keinen Kontakt mehr zu ihnen. Die Geschwister seiner Mutter würden alle in Österreich oder Deutschland leben. Er sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Er habe 8 Jahre lang die Schule besucht.

Zu seinem Fluchtgrund befragt führte er aus, dass er in der Schule während der Pause mit Mitschülern über Religion diskutiert habe. Er habe in den Raum geworfen, warum nur in islamischen Ländern Krieg herrsche und warum der Koran nur auf Arabisch und nicht in ihrer Muttersprache geschrieben sei. Er habe auch gesagt, dass der Name Allah nicht der ihres Gottes, sondern der einer alten Mondgötze sei. Sie hätten begonnen zu streiten und ihn als Ungläubigen bezeichnet. In der darauffolgenden Koranstunde hätten seine Mitschüler ihn bei ihrem Koranlehrer verpetzt. Dieser habe ihm mit einem Holzstab auf die Hände geschlagen und ihn der Klasse verwiesen. Nach der Schule sei er in die Klasse zurückgegangen um seine Sachen zu holen, als der Lehrer ihn plötzlich fest gepackt und gesagt habe, dass er mit ihm schlafen solle, sonst würde er es dem Direktor verraten und allen Lehrern erzählen, dass er sich gegen den Koran gestellt habe. Er habe sich aus dem Griff des Lehrers lösen können und sei nach Hause gelaufen. Er habe seinen Eltern jedoch nichts erzählen wollen und sei am nächsten Tag wieder in die Schule gegangen. Nach dem Unterricht habe der Lehrer erneut mit dem BF reden wollen und habe ihn in eine größere Klasse gebracht. Er habe dem BF gesagt, dass er erfahren habe, dass sein Vater in Russland studiert habe und nicht bete und nicht faste, außerdem sei er blond und grünäugig. Auch er und sein Bruder würden zu hell aussehen. Sie seien alle Ungläubige. Erneut habe er gesagt, dass der BF mit ihm schlafen müsse, sonst würde er dem Direktor und allen Lehrern erzählen, dass er die anderen Schüler gegen den Islam aufbringen wolle. Der Lehrer habe ihn fixiert, der BF habe sich aber befreien können und sei nach Hause gelaufen, wo er seinen Eltern von den Vorfällen berichtet habe. Im Laufe des Abends habe dann der Ehemann der Schwester des Vaters des BF angerufen, der in einer großen Polizeistation gearbeitet habe und habe ihnen mitgeteilt, dass gegen den BF und dessen Vater Anzeige erstattet worden sei, es einen Haftbefehl gebe und sie in großer Gefahr seien. Er habe die Familie aufgefordert, alle Wertgegenstände einzupacken und zu ihm nach Hause zu kommen. Von dort sei er mit seiner Familie mit einem Taxi zum Bahnhof in Mazar-e-Sharif gefahren, um nach Kabul zu kommen. Dann hätten sie Afghanistan verlassen. Seine Mutter habe ihm am Telefon erzählt, dass der Schwager seines Vaters verhaftet worden sei und seitdem vermisst werde.

In Österreich habe er eine Freundin, wohne aber nicht mit ihr zusammen. Außerdem habe er die HBLW besucht, zurzeit lerne er für den Führerschein. Die Familie auf den eingebrachten Fotos seien Iris und Gerhard, seine Patenfamilie.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurde vom BF ein Aufnahmeprüfungszeugnis für die Fachhochschule der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe (nicht bestanden) vom 30.06.2016, die Bestätigung des Lehrganges Übergangsstufe an der BMHS für Jugendliche ohne Kenntnisse der Unterrichtssprache Deutsch, eine Teilnahmebestätigung der Volkshochschule Linz für einen A1 Deutschkurs, ein Schülerausweis, ein Zeitungsartikel der Linzer Nachrichten sowie ein Fotobuch mit insgesamt 14 Blättern in Vorlage gebracht.

5. Mit Bescheid vom 08.11.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und dem BF der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt III.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Unter Spruchpunkt V. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, dass in einer Gesamtschau der Ausführungen nicht von einer glaubwürdigen Darstellung in Bezug auf das Fluchtvorbringen ausgegangen werden könne. Es bestehe vielmehr der eindeutige Eindruck, dass es sich bei dem Vorbringen nicht um tatsächlich erlebte Ereignisse, sondern vielmehr um ein auf die Erlangung von Asyl gerichtetes Konstrukt handle. So habe der BF mehrmals versucht, die Erstbefragung in Frage zu stellen und die Richtigkeit dieser fadenscheinig zu diskreditieren und der Behörde drei unterschiedliche Darstellungen der Ereignisse, die zur Flucht geführt hätten, vorgebracht. Der BF habe sich sowohl in massive zeitliche als auch inhaltliche Widersprüche verstrickt. So habe er im Rahmen der Erstbefragung und der Stellungnahme lediglich von einem Tag gesprochen, an dem ein sexueller Übergriff stattgefunden habe, im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme erklärte er jedoch, dass es derartige Übergriffe sowohl an Tag 1 als auch an Tag 2 gegeben habe. Einen Tag 3 – entgegen der Aussagen in der Erstbefragung und der Stellungnahme – erwähnte der BF in der niederschriftlichen Einvernahme ebenso wenig wie ein Gespräch mit dem Direktor. Eine unvollständige oder unrichtige Protokollierung könne der BF nicht geltend machen, da er mit seiner Unterschrift die erfolgte Rückübersetzung sowie die Richtigkeit der Protokolle bestätigt habe. Es sei darüber hinaus massiv widersprüchlich, dass der BF in seiner Stellungnahme ausgeführt habe, der Kommandant wäre in Haft bedrängt worden, den Aufenthaltsort der Familie bekannt zu geben, während er in der niederschriftlichen Einvernahme angab, dass der Kommandant verhaftet worden wäre und seitdem vermisst werde. Bezüglich einer Rückkehr sei anzuführen, dass der BF jung, gesund und in erwerbsfähigem Alter sei und eine 8-jährige Schulbildung in Afghanistan sowie eine einjährige Schulbildung in Österreich erhalten habe, Dari, etwas Englisch und Deutsch spreche. Daher gehe die belangte Behörde davon aus, dass der BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Darüber hinaus habe der BF noch eine Tante in Mazar-e-Sharif, wodurch von einem, wenn auch zeitlich begrenzten, Umfeld ausgegangen werden könne, dass den BF bei einer Rückkehr unterstütze. Auch eine finanzielle Unterstützung durch die Familie in Pakistan könne jedenfalls anfänglich angenommen werden.

6. Mit Meldung vom 25.11.2017 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von Seiten des Stadtpolizeikommandos Linz über eine mögliche Körperverletzung sowie eine Gefährliche Drohung des BF informiert.

7. Mit Schriftsatz vom 06.12.2017 erhob der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Er brachte vor, dass die belangte Behörde dem BF in vollkommender Verkennung leicht zugänglicher Bericht vorgehalten habe, dass das geschilderte Vorbringen unglaubwürdig sei. Da diese Feststellung gänzlich willkürlich erscheine, werde auf ergänzende aktuelle Länderberichte verwiesen. Der BF werde aufgrund islamkritischer Äußerungen in der Schule, welche als Blasphemie ausgelegt werden könnten, gesucht. Islamkritische Äußerungen würden in Afghanistan mit dem Tod bestraft. Des weiteren sei es nicht nachvollziehbar, wie die Behörde zu der Ansicht komme, dass der BF verschiedene Versionen der Verfolgung vorgebracht habe. Hinsichtlich der vorgehaltenen Widersprüche in der Erstbefragung sei anzumerken, dass diese nicht den Zweck einer umfassenden Ermittlung von Fluchtgründen hätten und der BF außerdem in schlechter Verfassung gewesen sei und keine Rückübersetzung erhalten habe. Die angeblichen Widersprüche der Behörde würden konstruiert und willkürlich erscheinen, da der BF in Wahrheit ein widerspruchsfreies und nachvollziehbares Vorbringen erstattet habe. Auch der Umstand, dass sich der BF im westlich geprägten Österreich aufgehalten habe, könnte ihn aufgrund einer unterstellen politischen Einstellung oder einem unterstellen Werteabfall zur Zielscheibe von Übergriffen machen. Darüber hinaus sei die Lage in ganz Afghanistan derart schlecht, dass bei Rückführung eine Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK bestehen würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege nicht vor, da der BF aufgrund der geäußerten Islamkritik bzw. Blasphemie von afghanischen Behörden gesucht werde.

8. Mit Schreiben vom 14.09.2018 wurde das Bundesverwaltungsgericht darüber in Kenntnis gesetzt, dass der BF aufgrund der pornographischen Darstellung Minderjähriger in Erscheinung getreten sei. Am 27.11.2018 langte der diesbezügliche Abschluss-Bericht des Stadtpolizeikommandos Linz ein. Demnach habe der BF ein Video mit kinderpornographischem Inhalt auf seinen Facebook-Account erhalten.

9. Am 23.10.2018 langten Dokumente des BF hinsichtlich seiner bisher erfolgten Integration beim Bundesverwaltungsgericht ein. In Vorlage gebracht wurden ein Dienstvertrag vom 12.05.2018 als Küchenhilfe der XXXX für die Zeit vom 14.05.2018 bis 25.10.2018 und Lohnzettel von Mai bis September 2018. Der Arbeitgeber habe bereits um eine neue Arbeitsbewilligung angesucht, da er den BF weiterbeschäftigen wolle.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.06.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche, mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt nicht teilnahm.

Zu seinen Lebensumständen befragt gab er an, dass er in Afghanistan 8 Jahre und in Österreich eineinhalb Jahre die Schule besucht habe. Außerdem habe er von 2015 bis 2017 Hilfstätigkeiten in einem Heim ausgeübt und danach bei XXXX gearbeitet. Er habe eine Freundin, sie seien jedoch erst seit zwei Wochen zusammen, daher kenne er ihren Nachnamen noch nicht. Sie sei Krankenpflegerin und wohne in der Nähe von Linz.

Zu seinem Fluchtgrund befragt führte er aus, dass er Afghanistan etwa Ende 2014 verlassen habe, weil Krieg geherrscht und es Unsicherheit im Land gegeben habe. Außerdem habe seine Familie Probleme mit dem afghanischen Staat gehabt. Seine gesamte Familie sei vor drei Jahren in Pakistan verstorben. Er habe Afghanistan verlassen, da er in der Schule immer mit den Lehrern und Schülern über Religion und Allah gesprochen habe. Er habe gefragt, warum der Koran in Arabisch verfasst sei und nicht in ihrer Sprache. Daraufhin hätten ihn die Schüler als Ungläubigen bezeichnet. Einer der Schüler erzählte auch dem Lehrer von der Diskussion. Er habe gesagt, dass der BF versucht habe, andere davon zu überzeugen, von der Religion abzutreten. Daraufhin habe der Lehrer ihn mit einem Stock geschlagen und aus der Klasse geworfen. Nach der Unterrichtsstunde habe er seine Schultasche aus der Klasse holen wollen, als ihn der Lehrer zu sich gerufen habe. Er habe ihm gedroht, ihn beim Direktor anzuzeigen. Er habe gesagt, dass er ihn gut kenne und wisse, dass er nicht bete und seine ganze Familie ungläubig sei. Er habe gedroht, sie alle anzuzeigen, außer der BF würde mit ihm ins Bett gehen und Sex haben. Da habe der BF Angst bekommen und sei aus der Schule geflohen. Er sei so erschrocken gewesen, dass er mit niemandem habe reden wollen. Am nächsten Tag sei er erneut in die Schule gegangen und habe nochmals mit dem Religionslehrer diskutiert. Nach Unterrichtsende sagte der Lehrer, dass er alles über seine Familie wisse, dass sein Vater in Russland studiert habe und seine gesamte Familie Alkohol trinke. Er habe gesagt, dass man auch vom Aussehen her sehen würde, dass sie keine Muslime seien. Dann habe er erneut verlangt, dass der BF mit ihm schlafe. Er habe versucht ihn zu vergewaltigen, er habe jedoch entkommen können. Zu Hause habe er dann seiner Mutter und seinem Vater von dem Vorfall erzählt, als der Ehemann seiner Tante mütterlicherseits angerufen habe. Dieser habe erzählt, dass es eine Anzeige gegen die Familie gebe und ein Haftbefehl ausgestellt worden sei. Danach seien sie aus Afghanistan geflohen. Darüber hinaus sei er auf dem Papier zwar ein Muslim, er halte sich aber nicht an muslimische Rituale, da er nicht bete, Alkohol trinke und Schweinefleisch esse. Alle seine Verwandten würden in Österreich leben, in Afghanistan wäre er ganz alleine. Die Sicherheitslage sei sehr schlecht und es gebe eine Anzeige wegen Gotteslästerung gegen ihn.

Eingebracht wurde ein Arbeitsvertrag, wonach der BF ab 15.06.2020 arbeiten könne.

11. Am 15.06.2020 langte eine Urkundenvorlage des BF beim Bundesverwaltungsgericht ein. Eingebracht wurde ein Foto des BF mit seiner Freundin sowie ein Unterstützungsschreiben dieser.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht außerdem etwas Englisch und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der BF wurde in der Provinz Balkh, Stadt Mazar-e-Scharif geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern auf. Diese sind vor etwa drei Jahren in Pakistan verstorben. Der BF besuchte 8 Jahre lang die Schule.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen, ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.

1.2 Zu den Fluchtgründen des BF

Weder der BF noch seine Familie wurden in Afghanistan wegen Gotteslästerung angezeigt noch gegen diese ein Haftbefehl ausgestellt.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der BF ist derzeit wenig religiös interessiert. Er betet und fastet aktuell nicht.

Er ist nicht vom Islam abgefallen und er ist immer noch sunnitischer Moslem. Er tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Es ist niemandem in Afghanistan bekannt, dass der BF in Österreich angegeben hat, keine muslimischen Riten auszuüben.

Der BF war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Tadschiken und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Sunniten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Regierung oder der Polizei.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Lebensstils weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Mai 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.05.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF verfügt - an seiner Aufenthaltsdauer und seinem Alter gemessen - über durchschnittliche Deutschkenntnisse, arbeitete zwischen 2015 und 2017 als Hilfsarbeiter in einem Heim und anschließend bei XXXX . Seit 15.06.2020 kann der BF als Küchenhilfe und Reinigungskraft arbeiten.

Der BF hat seit Ende Mai 2019 eine Freundin, darüber hinaus leben Onkel und Tanten des BF in Österreich. Mit diesen hat er auch regelmäßig Kontakt. Der BF lebt weder mit seiner Freundin noch mit seinen Verwandten zusammen, es besteht keine wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen dem BF und seiner Freundin bzw. seinen Verwandten. Die Freundin des BF ist Krankenpflegerin. Ansonsten verfügt er über keine sozialen Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder, in Österreich.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Erörtert wurden das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, 18.05.2020, die UNHCR-Richtlinien vom August 2018 sowie die aktuellen EASO Guidelines.

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Bericht

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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