Entscheidungsdatum
08.10.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W184 2171332-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.08.2017, Zl. 1066186602/150422854, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2019 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005, §§ 52, 55 FPG und § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 26.04.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.
Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.
IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“
Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst:
Die beschwerdeführende Partei habe bei der Erstbefragung am 27.04.2015 angegeben, dass er aus Ghazni in Afghanistan stamme und im Alter von drei Jahren mit seiner Familie in den Iran geflüchtet sei. Nun habe er sich von einem Schlepper für USD 10.000,- nach Europa bringen lassen. Den Fluchtgrund aus Afghanistan könne er nicht sagen. Im Iran finde er keine Arbeit mehr und die Iraner wollen die Afghanen nicht mehr im Land haben.
Bei der Einvernahme durch das Bundesamt am 18.03.2016 habe die beschwerdeführende Partei ausgesagt: Er gehöre zur Volksgruppe der Hasara und habe im Iran drei bis vier Jahre eine Schule für afghanische Flüchtlinge besucht und in der Folge als Hilfsarbeiter, Schuster, Bauarbeiter und Helfer auf einem Bauernhof gearbeitet. Sein Vater sei vor elf Jahren bei einem Autounfall gestorben und die Mutter arbeite als Teppichwäscherin und versorge die Familie. Im Iran habe er einen Bruder, zwei Schwestern und seine Ehefrau. Seine Schleppung habe USD 6.000,- gekostet, dies seien seine gesamten Ersparnisse gewesen und außerdem haben seine Mutter und eine Schwester ihren Schmuck verkaufen müssen. An Afghanistan habe er keine Erinnerungen mehr. Im Iran sei er schlecht behandelt worden, nur ein Schuster, der Christ sei, habe ihn als Arbeiter fair bezahlt. Dies habe sein Interesse am Christentum geweckt. Nun gehe er in Österreich regelmäßig in die Kirche und fühle sich als Christ.
Die beschwerdeführende Partei habe als Beweismittel unter anderem ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 21.09.2016, ein Zeugnis vom 24.02.2017 über die Pflichtschulabschlussprüfung und mehrere Kursbestätigungen und Empfehlungsschreiben vorgelegt und zuletzt mit Schreiben vom 27.06.2017 erklärt, dass er sich sehr für den christlichen Glauben interessiert habe, sich aber jetzt doch nicht taufen lasse, weil seine Ehefrau im Iran Moslemin sei und dadurch einen Schaden zu befürchten hätte.
Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung.
Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung wurde schließlich zu den einzelnen Spruchpunkten dargelegt, dass der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt werden könne, weil ein asylrelevantes Vorbringen nicht glaubhaft gemacht worden sei und außerdem eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorhanden sei. Auch eine refoulementrelevante Gefährdung bestehe nicht, weil die Sicherheitslage in mehreren Provinzen stabil sei. Die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK und für eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz lägen nicht vor, weshalb eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage mangels besonderer Umstände zwei Wochen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere ausgeführt wurde, dass die Sicherheitslage in ganz Afghanistan unzureichend sei. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.10.2019 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, RI = Richter, BF = beschwerdeführende Partei, RV = Rechtsvertreter der beschwerdeführenden Partei, D = Dolmetscher):
„RV legt folgende Unterlagen zur Integration vor …: Zum einen handelt es sich um ein Konvolut von Fotos, die den BF mit seinem Bekanntenkreis zeigen, das erste Bild ist die Ordensgemeinschaft der XXXX in XXXX , auf den weiteren Bildern sind weitere Bekannte abgebildet. Auf einem Bild (Foto 16) ist der BF und ein Geistlicher abgebildet, es ist der XXXX . Das zweite Konvolut: ein Auszug aus dem Kirchenblatt, ein Zertifikat A2-Deutschprüfung, Zeugnisse über die Pflichtschulabschlussprüfung, diverse Teilnahmebestätigungen, ein Empfehlungsschreiben eines Mitschülers, mehrere Unterlagen über Aktivitäten, z. B. Teilnahmebestätigung der Caritas, Teilnahmebestätigung an einem Schwimmkurs, Teilnahmebestätigung der Fremdsprache Deutsch B1, Bestätigung über verrichtete gemeinnützige Tätigkeiten der Caritas, Schreiben von Frau Dr. XXXX vom 24.09.2019 (irrtümlich 24.07.2017), in welchem die psychische Belastung des BF festgehalten wird, weshalb seine weiteren Integrationsbemühungen - wie bis zur Entscheidung des BFA - danach nicht mehr möglich waren; ein Schreiben, in welchem der BF zu einer Teilnahme am XXXX eingeladen wurde; ein Schreiben der XXXX .
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie nach Afghanistan zurückkehren?
BF: Weil ich Afghanistan noch nie gesehen habe, ich weiß nicht, was für ein Land das ist, wie die Gesellschaft dort ist, und ich habe dort niemanden.
RI: Sind Sie gegenwärtig wegen einer Krankheit in medizinischer Behandlung?
BF: Derzeit benutze ich nur einen Asthma-Spray, diesen brauche ich auch manchmal vor dem Schlafengehen. Ich habe im Iran im Chemie-Bereich gearbeitet, weshalb ich diese Krankheit bekommen habe.
RI: Haben Sie in Afghanistan Verwandte?
BF: Nein, meine Mutter und meine Schwestern sind im Iran. Meine ganze Familie ist im Iran.
RI: Ihre Mutter, Ihre Schwester und wer noch?
BF: Meine Mutter, zwei Schwestern und meine Ehefrau. Mein Bruder hat sich vor ca. zwei Jahren auf den Weg nach Europa gemacht …
RI: Sie stehen noch in Kontakt mit Ihrer Mutter und Ihren Schwestern?
BF: Ja.
RI: Wovon leben Ihre Verwandten im Iran?
BF: Sie leben in der Stadt XXXX , meine Mutter arbeitet.
RI: Wo leben die Verwandten Ihrer Mutter?
BF (auf Deutsch): Ich habe keine Onkel und Tanten.
BF (auf Dari): Weder mein Vater noch meine Mutter haben Geschwister und aus diesem Grund haben sie auch geheiratet.
RI: Wo lebt Ihre Ehefrau und wo leben die Verwandten Ihrer Ehefrau?
BF (auf Deutsch): Sie wohnt auch im Iran, in XXXX .
BF (auf Dari): Die Verwandten meiner Frau leben ebenso im Iran, in XXXX , aber nicht im selben Dorf.
RI: Mit wem wohnt Ihre Frau zusammen?
BF (auf Deutsch): Mit meiner Familie zusammen.
RI: Warum ist Ihre Frau nicht mit Ihnen zusammen nach Europa gekommen?
BF (auf Deutsch): Ich habe gehört, dass es gefährlich ist, und ich hatte Angst. Ich hatte auch nicht genügend Geld, um sie mitzunehmen.
RV: Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kontaktpersonen des BF alle Deutsch bzw. Deutsch und Türkisch sprechen. Der BF spricht Deutsch mit ihnen und er kann auch ein wenig Türkisch.
RI: Wann ist Ihre Frau geboren?
BF (auf Deutsch): … Ich glaube, es ist im europäischen Kalender XXXX .
RI: Sie waren noch sehr jung, als Sie geheiratet haben. Wie alt waren Sie?
BF: Ja, ich war ca. 16 Jahre alt. Wenn man keine Dokumente hat, kann man sich nicht einfach auf der Straße bewegen, die Polizei hält einen auf und fragt nach einem Ausweis. Man kann auch keine Arbeit finden. Erstens, weil meine Mutter schon alt war, und zweitens, weil sie nicht wollte, dass ich mit anderen Jungen abhänge, da ich keine Arbeit hatte, deswegen verheiratete sie mich im jungen Alter.
RI: Wie lange vor der Eheschließung haben Sie Ihre Ehefrau gekannt?
BF: Wir haben im Iran in einer Ortschaft gelebt, die nicht so groß war, und alle Afghanen kannten sich gegenseitig. Meine Mutter kannte meine jetzige Frau von der Arbeit, meine Schwester kannte sie auch. Nachdem meine Mutter und meine Schwester sie mir vorschlugen, trat ich mit ihr in Kontakt. Es hat alles geklappt und wir wollten heiraten.
RI: Wie alt war Ihre Frau bei der Heirat?
BF: Sie war ein Jahr jünger als ich.
RI: Bei welcher Institution haben sie die Ehe geschlossen?
BF: Bei uns ist es traditionell so, dass ein Scheich bzw. Mullah die Ehe schließt.
…
RI: Haben Sie damals bei der Eheschließung eine Urkunde darüber bekommen?
BF: Es ist so, dass vor der Eheschließung über alle Bedingungen gesprochen wird, der Bräutigam muss für die Kosten aufkommen, und nach der Eheschließung wird natürlich eine Heiratsurkunde ausgestellt. Weiters sind auch Zeugen anwesend.
RI: Die Heiratsurkunde, die Sie uns übermittelt haben, hat das Datum XXXX , da waren Sie bereits in Österreich.
BF: Nach meinem negativen Bescheid wurde ich auch auf das Datum angesprochen, das Datum, das oben links auf der Heiratsurkunde steht, ist das Abholdatum, an welchem meine Familie die Heiratsurkunde von den Geistlichen abgeholt hat. Weiters stehen dort die Namen der Zeugen und das Datum der Eheschließung auch darauf.
D dazu: Auf dieser Heiratsurkunde stehen keine Zeugen.
RI: Hier auf dieser Heiratsurkunde stehen keine Namen von Zeugen.
Die Heiratsurkunde wird dem BF gezeigt.
BF: Das ist nicht die originale Heiratsurkunde, welche die Geistlichen bei der Eheschließung ausgestellt haben. Denn die Geistlichen haben die Heiratsurkunde auf einem A4-Zettel geschrieben und damit ist meine Familie zum Büro von Großayatollah XXXX gegangen und dies ist eine Bestätigung des Büros über die Heirat und die Heiratsurkunde.
RV: Die originale Heiratsurkunde kann nur einmal ausgestellt werden und danach kann man nur noch eine Bestätigung darüber erhalten.
RI: Warum haben Sie uns nicht die Heiratsurkunde selbst übermittelt?
BF: Weil der Dolmetscher beim BFA mir sagte, dass ich mit der von den Geistlichen geschriebenen Heiratsurkunde zu einer Institution hingehen und diese bestätigen lassen soll, weil er meinte, dass die handgeschriebene Heiratsurkunde hier in Österreich nicht gültig wäre, obwohl dort alle Bedingungen der Eheschließung und die Namen der Zeugen angeführt wurden und diese auch unterschrieben wurde.
RI: Sie haben bei der Erstbefragung gesagt, Sie seien ledig.
BF: Bei der Erstbefragung wurde ich überhaupt nicht nach meinem Familienstand gefragt, ich wurde nach meinem Namen, dem Namen meines Vaters und meinem Alter gefragt. Ich war sehr müde und erschöpft und konnte mich nicht konzentrieren. Vielleicht haben sie aufgrund meines jungen Aussehens „ledig“ geschrieben. Da ich mich nicht konzentrieren konnte, kam ich nicht auf die Idee zu sagen, dass ich verheiratet bin.
RI: Sie haben vorhin gesagt, Sie können nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil Sie die Verhältnisse dort nicht kennen und keine Angehörigen dort haben. Spricht noch irgendetwas dagegen, warum Sie nicht nach Afghanistan zurückkehren können?
BF: Sehr geehrter Herr Rat, lassen Sie mich meine ganze Geschichte detailliert erzählen. Denn ich war sehr jung, als meine Familie in den Iran gegangen ist, ich war noch ein Säugling. Allein das ist schon schlimm genug, dass man als Säugling auswandern muss. Es ist im Iran so, dass Afghanen ab dem 18. Lebensjahr von der Polizei festgenommen und nach Afghanistan abgeschoben werden. Ich war noch nie in Afghanistan, ich habe dort niemanden. Schon als Kind habe ich über den Krieg in Afghanistan gehört. Als ich nach Österreich kam, habe ich auch viel in Youtube und im Internet erfahren und gesehen. Afghanistan ist ein Land, in dem es die Daesh, die Taliban und die meisten terroristischen Gruppen der Welt gibt, welche aktiv sind. Nachdem ich 18 geworden bin und bereits verheiratet war, sagte mir meine Mutter, dass ich arbeiten gehen soll und Verantwortung übernehmen muss. Während ich noch ein Kind war und arbeitete, schlief ich in der Arbeitsstätte, weil ich Angst hatte, von der Polizei festgenommen und nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Nach dem Tod meines Vaters musste meine Mutter arbeiten, sie konnte jedoch nicht ewig für uns arbeiten gehen. Um einer Abschiebung nach Afghanistan zu entkommen, sagte mir meine Mutter, dass ich nach Europa flüchten solle. Aus Angst vor einer Abschiebung habe ich nicht einmal nach meiner Heirat gearbeitet, viele Afghanen, die nach Afghanistan abgeschoben worden sind, sind überhaupt nicht in den Iran zurückgekommen. Die Jugendlichen wurden sogar unterwegs sexuell missbraucht. Ich bin nicht nach Europa gekommen, um nach Afghanistan abgeschoben zu werden, wo ich niemanden kenne.
RI: Sie sagten, nachdem Sie 18 geworden sind, hat Ihre Mutter gesagt, Sie sollen arbeiten gehen. Wann sind Sie 18 geworden?
BF: Ich bin XXXX geboren und bin XXXX Jahre alt.
RI wiederholt die Frage.
BF: Ich bin im Jahr XXXX (D= XXXX ) 18 Jahre alt geworden.
RI: Ich habe Sie das gefragt, weil Ihre Mutter Ihnen sagte, Sie sollen mit 18 arbeiten gehen. Sie sind jedoch nach Ihren eigenen Angaben erst in Österreich 18 geworden.
BF: Ja, ich bin in Österreich 18 geworden. Meine Mutter hat es mir nicht am 18. Geburtstag gesagt, dass ich arbeiten gehen soll, sondern zu einem Zeitpunkt, als ich groß war.
RI: Wenn Sie sich so flüssig auf Deutsch äußern könnten, würde mich das freuen.
BF: Ich bin im Iran nicht in die Schule gegangen und außerdem hat meine Psyche seit dem Kindesalter sehr gelitten.
RI: Welcher Religion gehören Sie an?
BF: Ich gehöre dem Islam an.
RI: Welcher Glaubensrichtung des Islam?
BF: Ich bin Schiit.
RI: Sie haben nach Ihrer Ankunft in Österreich sehr schnell Deutsch gelernt, ein Zeugnis vorgelegt und auch die Pflichtschule abgeschlossen. Sie haben in den letzten zweieinhalb Jahren dann nicht mehr viel getan, was lernen oder arbeiten betrifft. Was sagen Sie dazu?
BF: Als ich noch sehr jung war, kam mein Vater durch einen Unfall ums Leben. Als Jugendlicher durfte ich nicht hinausgehen und ich war meistens zu Hause. Ich wurde sogar mit einem Messer in den Rücken und im Bauchbereich attackiert. Ich hatte keine Kindheit wie alle anderen Kinder. Als ich nach Österreich kam und die grüne Karte am ersten Tag erhielt, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Ausweis besaß. Unter den Folgen all dieser Geschehnisse habe ich gelitten und leide noch immer darunter.
RV: Ich möchte auf das Schreiben von Frau Dr. XXXX vom 24.09.2017 hinweisen, diese ist Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde im Ruhestand. Ebenso habe ich eine Bestätigung der Caritas, dass sich der BF in einer psychosozialen Beratung befindet. Diese Dame weist auch darauf hin, weshalb der BF bislang nicht in Behandlung war. Der BF ist in Behandlung bei Dr. XXXX , Facharzt für Psychiatrie, in XXXX , der letzte Termin war am 29.09.2019 …
RI: Wegen welcher Krankheit sind Sie in Behandlung und welche Behandlungen erhalten Sie und haben Sie darüber etwas Schriftliches?
BF: Ich habe keine Krankheit, ich leide nur unter Depressionen. Zu der vorletzten Frage würde ich noch ausführen, dass ich als Kind viel erlebt und gelitten habe. Wie Sie sehen können, habe ich in den ersten zwei Jahren in Österreich den Pflichtschulabschluss nachgeholt und viele Kurse belegt. Ich war sehr motiviert und engagiert. Nach dem ersten negativen Bescheid hat mich meine Vergangenheit wieder eingeholt. Stellen Sie sich vor, wir waren fünf Jahre lang in einem drei mal vier Meter großen Zimmer und es fühlte sich an wie ein Gefängnis. Ich hatte viele Pläne, nämlich mich ausbilden zu lassen, arbeiten zu gehen und leben wie jeder andere. Nach dem negativen Bescheid sah ich alle Chancen verloren.
RI: Müssen Sie regelmäßig Medikamente einnehmen?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in den viereinhalb Jahren in Österreich bereits gearbeitet?
BF: Ja, für die Caritas und für die „ XXXX “, welche ein Verein ist, der sich mit jugendlichen bis zu 25 Jahren beschäftigt. Ansonsten habe ich keine Arbeitserlaubnis, um einer Arbeit nachzugehen.
RI: Erzählen Sie mir, möglichst auf Deutsch, was Sie an einem durchschnittlichen Tag alles machen.
BF (auf Deutsch): Jetzt stehe ich um 9 Uhr auf, nicht immer, um 9 oder 10 stehe ich auf. Ich vorbereite Frühstück, dann Frühstück esse ich ca. 30 Minuten. Ich denke, was kann ich machen, ob ich arbeiten darf. Ich habe den ganzen Tag Zeit, ich gehe spazieren mit Freunden oder schwimmen. Ich überlege, wie ich meine Zeit nutzen kann.
BF (auf Dari): Ich kann nicht so gut und schön Deutsch sprechen, weil ich im Iran nicht in die Schule gegangen bin, und in diesem Punkt müssen Sie mir recht geben.
RV: Haben Sie derzeit Kontakt mit Ihrer Frau?
BF (auf Deutsch): Sowieso.
RV: Über welches Medium kommunizieren Sie mit Ihrer Frau?
BF: Whatsapp, zuletzt hatte ich heute Kontakt.
RV: Beim BF liegt eine Lethargie vor, die bereits Krankheitswert erreicht hat, er leidet nämlich wirklich an einer Depression. Daher konnte er in den letzten beiden Jahren in seiner Integration keine Fortschritte machen. Vielmehr ist es aufgrund seines psychischen Leidens sogar zu Rückschritten gekommen. Dem BF kann sicher keine böse Absicht unterstellt werden, dass er nach wie vor von der Grundversorgung lebt und allenfalls entsprechende Integrationsschritte setzt.
RV befragt den BF, welche Personen die vorgelegten Fotos zeigen.
BF zu Foto Nr. 1 (auf Deutsch): Hier habe ich in der Kirche für alle Schwestern gekocht. Ich habe Reis mit Fleisch und Gemüse gekocht, es heißt auf iranisch Ghorme Sabzi. Ich kenne einige der Schwestern, XXXX , XXXX und XXXX , er macht die Gartenarbeit. Hier sehen Sie auch eine Mitarbeiterin.
BF zu Foto Nr. 5 (auf Deutsch): Hier am Foto ist XXXX , ich habe jede Woche Kontakt, er hat aber leider nicht oft Zeit. Wir treffen uns aber circa zwei bis drei Mal im Monat. Wir treffen uns immer in der Bar und in der Disco.
BF zu Foto Nr. 8 (auf Deutsch): Er heißt XXXX , er ist mein Mathematiklehrer gewesen.
BF zu Foto Nr. 9 (auf Deutsch): Ich glaube, XXXX , ich kenne ihn vom Kontaktchor.
BF zu Foto Nr. 10 (auf Deutsch): Er heißt XXXX , wir treffen uns, ich habe ihn aber jetzt schon ein Jahr nicht gesehen. Wir haben uns sicher zehn Mal gesehen, wir tranken manchmal Bier. Er hat mir auch schöne Plätze in XXXX gezeigt.
BF zu Foto Nr. 12 (auf Deutsch): Das war mein Natur- und Techniklehrer, wir waren auf einer Party.
BF zu Foto Nr. 13 (auf Deutsch): Hier bin ich mit XXXX , ich glaube, es war 2016 oder 2017, als ich neu hier war, und wir waren zusammen im Gymnasium. Dort gab es eine Gruppe und sie lernten uns Deutsch, weil wir gar nicht Deutsch konnten. XXXX hat mir viel geholfen, Deutsch zu sprechen.
BF zu Foto Nr. 15 (auf Deutsch): Hier bin ich mit Schwester XXXX , sie gehört den XXXX an.
RV: Was unternehmen Sie mit Schwester XXXX ?
BF (auf Deutsch): Sie hat mir auch eine Bestätigung geschrieben, ich treffe sie auch circa zwei bis drei Mal im Monat.
BF zu Foto Nr. 16 (auf Deutsch): Ich bin hier mit dem XXXX .
RV: Der BF wäre aufgrund seines angenommenen Glaubens, nämlich des Christentums, einer Verfolgung ausgesetzt. Er wurde nicht getauft. Warum haben Sie sich nicht taufen lassen?
BF (auf Deutsch): Ich habe Probleme mit meiner Frau, wenn ich hier getauft werde, wäre ich Christ und meine Frau Muslimin. Wenn meine Frau hier wäre, würde ich ihr sagen, sie kann selber entscheiden.
RV: Der BF würde verfolgt werden, ob er getauft ist oder nicht, allein das Praktizieren des Glaubens würde ausreichen, um einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, und zwar sowohl in Afghanistan als auch im Iran.
RI: Was für einen Glauben haben Sie?
BF: Ich bin als Moslem geboren, meine Eltern sind Moslems, aber als ein Mensch mache ich und darf ich entscheiden, was ich für richtig halte. Ich darf mir die Religion selbst aussuchen. Als Moslem muss man sich, wenn man auf das WC geht und dabei die Kleidung verschmutzt, nachher reinigen. Man muss fünf Mal am Tag beten. Ich trinke Bier, und auf Partys trinke ich Alkohol. Ich will eine Religion, die ich mir selbst ausgesucht habe und in der ich mich wohl fühle. In der Kirche kann ich in Ruhe beten und ich fühle mich darin wohl.
RI: Wann waren Sie zuletzt in der Kirche?
BF (auf Deutsch): Letzte Woche war ich.
RI: An welchem Tag?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht genau, ich glaube, es war am 28. oder 29.
RI: In welcher Kirche waren Sie da?
BF (auf Deutsch): In der Klosterkirche in XXXX .
RI: Welche Messe war das?
BF: Es war kein Gottesdienst, die Schwestern beten drei Mal täglich in der Kirche. Ich bin hingegangen, um zu beten, in der Kirche empfinde ich eine Art der inneren Ruhe.
RV: Zu wem haben Sie gebetet?
BF: Zu meinem Gott.
RV: Würden Sie sagen, dass Sie Christ sind, auch wenn Sie eigentlich noch Muslim sind?
BF: Ja, warum kann ich das nicht?
RV: Wissen Sie über das Christentum Bescheid?
BF: Ja, ich gehe seit vier oder fünf Jahren in die Kirche.
RV: Was sind die wichtigsten christlichen Feiertage?
BF: Ostern, Weihnachten und Himmelfahrt.
RV: Was ist zu Weihnachten passiert?
BF: Jesus Christus ist am Kreuz gestorben, damit unsere Sünden vergeben werden, damit wir am 24. in den Himmel auffahren können.
RI: Waren Sie im Iran ein gläubiger Mensch, haben Sie fünf Mal am Tag gebetet und die religiösen Gebote befolgt?
BF: Ich habe nie gebetet.
RI: Waren Ihr Vater und Ihre Mutter sehr gläubig?
BF: An meinen Vater kann ich mich nicht erinnern, aber meine Mutter ist normal. Sie betet zwar, ist aber nicht strenggläubig.
RV: Was feiern wir zu Ostern?
BF: Ostern ist ein weiteres christliches Fest, es findet zwischen April und Juli statt. Drei Tage nach seinem Tod ist Jesus auferstanden und zu seinen zwölf Schülern gegangen, danach ist er in den Himmel gefahren.
RV: Wissen Sie, was die Zehn Gebote sind?
BF: Den Namen Gottes nicht verunehren, Eltern respektieren, nicht betrügen und nicht lügen.
RV: Haben Sie schon einmal etwas von der Dreifaltigkeit gehört?
BF: Vater Gott, Sohn Gottes Jesus und der Heilige Geist.
RV: Wissen Sie, was zu Pfingsten passiert ist?
BF: Nein, das habe ich noch nie gehört.
D sagt dem BF nochmals den Begriff auf Deutsch und Dari.
BF weiter: Es geht um eine Art Brot, nachdem wir das gegessen haben, fühlen wir uns mit Jesus verbunden. Ich möchte Ihnen, Herr Rat, etwas sagen, die Informationen, die ich über das Christentum habe, habe ich selbst eingeholt, um später selbst entscheiden zu können, welche Religion für mich die richtige ist.
RV: Der BF vertauscht die Dinge, er hat keinen Taufvorbereitungskurs gehabt, aber es zeigt sich, dass er die Inhalte kennt und offenbar den christlichen Glauben praktiziert.
RV: Wie viele Evangelien gibt es im Neuen Testament in der Bibel?
BF: Ich glaube, vier, Lukas, Matthäus, Markus und Johannes.
RV: Lesen Sie in der Bibel?
BF (auf Deutsch): Auf Persisch lese ich die Bibel.
RV: Der BF ist theologisch nicht vorgebildet, liest aber in der Bibel und verwechselt daher die Begriffe.
RV zu den Länderfeststellungen:
Den BF erwartet bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung. Vom überkonfessionellen Hilfswerk „Open Doors“ wird seit 2003 ein Weltverfolgungsindex geführt, in welchem sämtliche Länder, in denen Christenverfolgung vorherrscht, nach der Intensität der Verfolgung aufgelistet sind. Im Weltverfolgungsindex dieser Institution im Jahr 2019 ist Afghanistan auf dem zweiten Platz gereiht, der Iran findet sich ebenfalls in den Top 10, und zwar auf Platz 9. Die Liste ist leicht abrufbar im Internet bei entsprechender Eingabe von Suchbegriffen, weshalb diese Information als notorisch bekannt betrachtet werden kann. Die Christenverfolgung in diesen Ländern nimmt ein Ausmaß an, welches dazu führt, dass Menschen, die den christlichen Glauben praktizieren, jedenfalls Verfolgung erleiden. Ein förmlicher Übertritt zum christlichen Glauben durch die Taufe spielt hierbei keine Rolle. Den Verfolgern ist der Umstand einer vorhandenen Taufe oftmals gar nicht bewusst. Im Übrigen kann dem „Open Doors“-Bericht über Afghanistan etwa auch entnommen werden, dass sich Personen nur mit einer islamischen Konfession registrieren lassen können. Diese Personen erhalten dann ein islamisches Begräbnis, obwohl sie als Christen gelebt haben, was im Grunde absurd ist. Für Christen gibt es schlichtweg keinen Platz in der afghanischen und iranischen Gesellschaft.
RV zur Integration:
Den vorgelegten Unterlagen zur Integration kann entnommen werden, dass der BF grundsätzlich bestens integriert ist. Er ist allseits beliebt und kann eine Vielzahl von Teilnahmen an Kursen und verschiedensten Veranstaltungen nachweisen. Seine schulischen Leistungen sind sehr beachtlich. Der BF pflegt gute und intensive Kontakte in katholischen Kreisen. Er fühlt sich dem Christentum, und speziell der katholischen Konfession, sehr verbunden. Ungeachtet dessen ist darauf hinzuweisen, dass der BF sehr unter den Belastungen des Asylverfahrens leidet und bisher gelitten hat. Zugegebenermaßen lebt der BF nach wie vor von der Grundversorgung, es ist jedoch zu berücksichtigen, dass seine Integration in einigen Punkten weit über diejenige hinausgeht, welche bei anderen Asylwerbern vorliegt. Es ist diesbezüglich auf die bereits vorgebrachten sehr guten Beziehungen in katholischen Kreisen hinzuweisen. Dies stellt ein besonders hohes Integrationsmerkmal dar, zumal es sich bei der katholischen Religion noch immer um die Mehrheitsreligion in Österreich handelt. Es ist daher davon auszugehen, dass sich der BF zumindest langfristig bei weitem besser wird integrieren können als viele andere Aufenthaltsberechtigte, die aus anderen Gründen in Österreich verbleiben dürfen.
RV Schlussvorbringen:
Aus den Ergebnissen der heutigen Verhandlung folgt, dass sich die Frage stellt, welche Aussichten der BF bei einer „Rückkehr“ nach Afghanistan hätte. Von einer Rückkehr kann nämlich im eigentlichen Sinne gar nicht gesprochen werden, da der BF sein vermeintliches Heimatland gar nicht kennt. Er hat auch keinerlei Beziehungen in diesem Land. Wenn man die Bedeutung der Familie in der afghanischen Gesellschaft für das Überleben betrachtet, dann wäre das alleine schon Grund genug, dass man den BF nicht nach Afghanistan zurückschicken kann. Hinzu kommt, dass der BF auch überzeugter Christ ist, auch wenn er noch nicht getauft worden ist. Er würde daher mit Sicherheit in Afghanistan Verfolgung erleiden. Er hat schlichtweg keine Chance, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Im Übrigen wäre es auch wünschenswert, dass er mit seiner Familie im Iran zusammenkommt, falls die Beschwerde abgewiesen wird.
BF möchte noch anmerken (auf Deutsch): Früher habe ich ein schlechtes Leben gehabt. Ich möchte wie alle Leute normal leben. Ich will gerne arbeiten und auch lernen.
RV: In welchem Bereich möchten Sie arbeiten?
BF (auf Deutsch): Mit Hühnern oder auf der Baustelle. Ich kann mir Vieles vorstellen.
BF (auf Dari): Wenn ich einen positiven Bescheid und eine Arbeitserlaubnis habe, kann ich mir über alles Gedanken machen. Ich kann auf einer Baustelle arbeiten oder ich kann als Dekorateur arbeiten.
RV: Sie sagten vorher, mit Hühnern, können Sie auch mit Hühnern arbeiten?
BF (auf Deutsch): Ja, ich habe auch früher mit meinen Brüdern mit Hühnern gearbeitet und habe darin Erfahrung.
RV: Was haben Sie da mit Ihren Brüdern gearbeitet?
BF (auf Dari): Vom Hühnerzüchten bis zum Großziehen, bis sie groß genug zum Verzehr waren. Es kommt einem leicht vor, aber es steckt ein sehr kompliziertes Verfahren dahinter. Wir hatten 50.000 Hühner.“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hasara und der schiitischen Religion an. Er stammt aus der Provinz Ghazni und flüchtete im Alter von drei Jahren zusammen mit seiner Familie in den Iran. Dort besuchte er drei Jahre eine Schule und arbeitete in der Folge als Hilfsarbeiter, Schuster, Bauarbeiter und Helfer auf einem Bauernhof, bis ihn seine Familie im April 2015 von einem Schlepper illegal nach Österreich bringen ließ.
Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
Die von der beschwerdeführenden Partei behauptete Bedrohung in Afghanistan durch die Taliban wegen seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit sowie durch den Staat und die Bevölkerung wegen seines Abfalls vom Islam bzw. wegen seiner Konversion zum Christentum kann mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass bei der beschwerdeführenden Partei ein ernsthafter innerer Entschluss vorläge, nach dem christlichen Glauben zu leben, und dass er demnach vorhätte, auch nach Beendigung des Asylverfahrens sein weiteres Leben im christlichen Glauben zu führen und auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht zum Islam zurückzukehren. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan oder in den Iran wird sich die beschwerdeführende Partei problemlos wieder den dortigen religiösen Vorstellungen soweit anpassen, dass eine Verfolgungsgefahr nicht besteht.
Die beschwerdeführende Partei pflegt seit mehreren Jahren freundschaftliche Beziehungen zu den XXXX des Klosters XXXX in XXXX und zu anderen Katholiken und besucht diese Freunde regelmäßig, er fühlt sich in der Atmosphäre der Klosterkirche wohl und hat sich auch schon mit der christlichen Religion befasst. Eine innere religiöse Glaubensüberzeugung hat die beschwerdeführende Partei nicht entwickelt.
Der beschwerdeführenden Partei steht im Fall einer Verfolgung wegen seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit als schiitischer Hasara jedenfalls eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den verhältnismäßig sicheren Provinzen Afghanistans zur Verfügung, beispielsweise in den Städten Herat, Kabul und Masar-e Scharif.
Zur Rückkehrsituation der beschwerdeführenden Partei wird Folgendes festgestellt:
Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Insbesondere ist im Herkunftsstaat in mehreren Landesteilen die Sicherheitslage ausreichend und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet, z. B. in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Scharif.
Die beschwerdeführende Partei ist XXXX Jahre alt und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Er arbeitete bereits als Jugendlicher im Iran konsequent und erfolgreich in verschiedenen Berufen und konnte sich dadurch trotz widriger Bedingungen einen größeren Geldbetrag ersparen und davon einen Teil des Schlepperlohns bezahlen. Und auch in Österreich stellte er durch seine bemerkenswerten Ausbildungserfolge in den ersten zwei Jahren seine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit unter Beweis.
Die beschwerdeführende Partei hat mehrere nahe Angehörige im Iran, die ihn finanziell unterstützen können, nämlich seine Mutter, zwei Schwestern und eine Ehefrau.
Was den Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Partei betrifft, so benötigt dieser gelegentlich einen Asthmaspray. In psychischer Hinsicht ist die beschwerdeführende Partei seit der Erlassung des angefochtenen negativen Bescheides durch das jahrelange Asylbeschwerdeverfahren mit ungewissem Ausgang belastet, eine - etwa medikamentöse - Therapie nahm er deswegen noch nicht in Anspruch.
Zum Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei reiste im April 2015 illegal nach Österreich ein und hält sich seither viereinhalb Jahre aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet auf.
Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich kein Familienleben, sondern nur ein Privatleben. Die beschwerdeführende Partei erwarb bereits am 21.09.2016 ein ÖSD-Zertifikat A2 und legte am 24.02.2017 die Pflichtschulabschlussprüfung ab. In der Folge absolvierte er noch mehrere Kurse, insbesondere von Februar bis April 2018 einen Deutschkurs B1.1, allerdings ohne Prüfung. Außerdem hat die beschwerdeführende Partei in Österreich viele Freunde gewonnen. Die beschwerdeführende Partei stand noch nicht in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und ist nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bezieht laufend Leistungen der Grundversorgung in der Höhe von etwa EUR 750,- monatlich, zeitweise verrichtete er gemeinnützige Arbeiten. Die beschwerdeführende Partei ist strafgerichtlich unbescholten.
Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.
Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
„Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 29.06.2018
Kurzinformation vom 22.1.2019 …
Bei einem Anschlag auf einen Stützpunk des afghanischen Sicherheitsdienstes (NDS, National Directorate of Security) in der zentralen Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) kamen am 21.1.2019 zwischen zwölf und 126 NDS-Mitarbeiter ums Leben (TG 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019). Quellen zufolge begann der Angriff am Montagmorgen, als ein Humvee-Fahrzeug der U.S.-amerikanischen Streitkräfte in den Militärstützpunkt gefahren und in die Luft gesprengt wurde. Daraufhin eröffneten Angreifer das Feuer und wurden in der Folge von den Sicherheitskräften getötet (TG 21.1.2019; vgl. NYT 21.1.2019). Die Taliban bekannten sich zum Anschlag, der, Quellen zufolge, einer der tödlichsten Angriffe auf den afghanischen Geheimdienst der letzten 17 Jahre war (NYT 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019). Am selben Tag verkündeten die Taliban die Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den U.S.-amerikanischen Vertretern in Doha, Katar (NYT 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019, Tolonews 21.1.2019).
Am Vortag, dem 20.1.2019, war der Konvoi des Provinzgouverneurs der Provinz Logar, Shahpoor Ahmadzai, auf dem Autobahnabschnitt zwischen Kabul und Logar durch eine Autobombe der Taliban angegriffen worden. Die Explosion verfehlte die hochrangigen Beamten, tötete jedoch acht afghanische Sicherheitskräfte und verletzte zehn weitere (AJ 20.1.2019; vgl. IM 22.1.2019).
Des Weiteren detonierte am 14.1.2019 vor dem gesicherten Green Village in Kabul, wo zahlreiche internationale Organisationen und NGOs angesiedelt sind, eine Autobombe (Reuters 15.1.2019). Quellen zufolge starben bei dem Anschlag fünf Menschen und über 100, darunter auch Zivilisten, wurden verletzt (TG 21.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019, RFE/RL 14.1.2019). Auch zu diesem Anschlag bekannten sich die Taliban (TN 15.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019).
Quellen:
AJ - Al Jazeera (20.1.2019): Taliban attack in Afghanistan’s Logar kills eight security forces …;
IM - Il Messaggero (22.1.2019): Afghanistan, sangue sul disimpegno Usa: autobomba dei talebani contro scuola militare, 130 vittime …;
NYT - The New York Times (21.1.2019): After Deadly Assault on Afghan Base, Taliban Sit for Talks With U.S. Diplomats …;
Reuters (15.1.2019): Afghan Taliban claim lethal car bomb attack in Kabul …;
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (14.1.2019): Four Killed, 90 Wounded In Kabul Car-Bomb Attack …;
TG - The Guardian (21.1.2019): Taliban kill ‘more than 100 people’ in attack on Afghan military base …;
TN - The National (15.1.2019): Kabul attack: Taliban Claims truck bomb and warns of more to follow …;
Tolonews (21.1.2019) US, Taliban Hold Talks In Qatar With Peace Still Distant …
Kurzinformation vom 23.11.2018 …
Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt kamen am 20.11.2018 ca. 55 Menschen ums Leben und ca. 94 weitere wurden verletzt (AJ 21.11.2018; vgl. NYT 20.11.2018, TS 21.11.2018, LE 21.11.2018). Der Anschlag fand in der Hochzeitshalle „Uranus" statt, wo sich Islamgelehrte aus ganz Afghanistan anlässlich des Nationalfeiertages zu Maulid an-Nabi, dem Geburtstag des Propheten Mohammed, versammelt hatten (AJ 21.11.2018; vgl. TS 21.11.2018, TNAE 21.11.2018, IFQ 20.11.2018, Tolonews 20.11.2018). Quellen zufolge befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion zwischen 1.000 und 2.000 Personen, darunter hauptsächlich Islamgelehrte und Mitglieder des Ulemarates, aber auch Mitglieder der afghanischen Sufi-Gemeinschaft und andere Zivilisten, in der Hochzeitshalle (AJ 21.11.2018; vgl. LE 21.11.2018, NYT 20.11.2018, DZ 20.11.2018, IFQ 20.11.2018). Gemäß einer Quelle fand die Detonation im ersten Stock der Hochzeitshalle statt, wo sich zahlreiche Geistliche der afghanischen Sufi-Gemeinschaft versammelt hatten. Es ist nicht klar, ob das Ziel des Anschlags das Treffen der sufistischen Gemeinschaft oder das im Erdgeschoss stattfindende Treffen der Ulema und anderer Islamgelehrten war (LE 21.11.2018; vgl. TNAE 21.11.2018). Weder die Taliban noch der Islamische Staat (IS) bekannten sich zum Angriff, der dennoch von den Taliban offiziell verurteilt wurde (LE 21.11.2018; vgl. AJ 21.11.2018, IFQ 20.11.2018).
Am 12.11.2018 kamen bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt ca. sechs Personen ums Leben und 20 weitere wurden verletzt (Tolonews 12.11.2018; vgl. DZ 12.11.2018, ANSA 12.11.2018). Anlass dafür war eine Demonstration in der Nähe des „Pashtunistan Square" im Stadtzentrum, an der Hunderte von Besuchern, darunter hauptsächlich Mitglieder und Unterstützer der Hazara-Gemeinschaft, teilnahmen, um gegen die während des Berichtszeitraums anhaltenden Kämpfe in den Provinzen Ghazni und Uruzgan zu demonstrieren (Tolonews 12.11.2018; vgl. DZ 12.11.2018, KP 12.11.2018). Der IS bekannte sich zum Anschlag (DZ 12.11.2018; vgl. AJ 12.11.2018).
Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt kamen am 31.10.2018 ca. sieben Personen ums Leben und weitere acht wurden verletzt (Dawn 1.11.20181; vgl. 1TV 31.10.2018, Pajhwok 31.10.2018). Unter den Opfern befanden sich auch Zivilisten (Pajhwok 31.10.2018; vgl. 1TV 31.10.2018). Die Explosion fand in der Nähe des Kabuler Gefängnisses Pul-i-Charkhi statt und hatte dessen Mitarbeiter zum Ziel (Dawn 1.11.2018; vgl. 1TV 31.10.2018, Pajhwok 31.10.2018). Der IS bekannte sich zum Anschlag (Dawn 1.11.2018, vgl. 1TV 31.10.2018).
Quellen:
1TV (31.10.2018): Suicide attack kills seven outside Kabul prison …;
AJ - Al Jazeera (21.11.2018): ‘Brutal and barbaric’: Victims recount horror of Kabul attack …;
AJ - Al Jazeera (12.11.2018): Kabul: Suicide bomber targets protesters demanding security …;
ANSA - Agenzia Nazionale Stampa Associata (12.11.2018): Afghanistan: 67 morti in 24 ore …;
Dawn (1.11.2018): Seven killed in suicide attack near Kabul prison …;
DZ - Die Zeit (20.11.2018): Mehr als 50 Tote bei Anschlag in Kabul …;
DZ - Die Zeit (12.11.2018): Mehrere Tote bei Anschlag nahe Anti-Taliban-Demo …;
IFQ - Il Fatto Quotidiano (20.11.2018): Afghanistan. attacco kamikaze a Kabul durante incontro religioso: almeno 50 morti e 80 feriti gravi …;
KP - Khaama Press (12.11.2018): Protesters gather near Presidential Palace in Kabul over recent wave of violence …;
LE - L’Express (21.11.2018): Attentat a Kaboul: la lecture de verset du Coran soudain interrompue. raconte un blesse …;
NYT - New York Times (20.11.2018): At Leas 55 Killed in Bombing of Afghan Religious Gathering …;
Pajhwok Afghan News (31.10.2018): Suicide blast in front of Pul-i-Charhi prison leave 6 people dead …;
SS - Stars and Stripes (20.11.2018): Suicide bomb attack in Kabul kills at least 43. wounds 83 …;
TNAE - The National (21.11.2018): Kabul reels in grief after wedding hall attack …;
Tolonews (20.11.2018): Death Toll Rises To 50 In Kabul Wedding Hall Explosion …;
Tolonews (12.11.2018): Mol Confirms 6 Death In Kabul Explosion …;
TS – Tagesschau (21.11.2018): Deutschland verurteilt Anschlag in Kabul …
Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o.D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, „Kammer des Volkes“, genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga, auch „Ältestenrat“ oder „Senat“ genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o.D.). Der Terminus „Partei“ umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z. B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u. a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle „Coalition for the Salvation of Afghanistan“, auch „Ankara Coalition“ genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People‘s Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. „Sicherheitslage“).
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine „Amnestie“. In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (5.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan …;
AA – Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan‘s Paradoxical Political Party System: A new AAN report …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (12.4.2018): Afghanistan Election Conundrum (6): Another new date for elections …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (25.11.2017): A Matter of Registration: Factional tensions in Hezb-e Islami …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (11.10.2017): Mehwar-e Mardom-e Afghanistan: New opposition group with an ambiguous link to Karzai …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (21.8.2017): The Ghost of Najibullah: Hezb-e Watan announces (another) relaunch …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (4.5.2017): Hekmatyar‘s Return to Kabul: Background reading by AAN …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (3.5.2017): Charismatic, Absolutist, Divisive: Hekmatyar and the impact of his return …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (22.1.2017): Afghanistan‘s Incomplete New Electoral Law: Changes and Controversies …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (18.12.2016): Update on Afghanistan‘s Electoral Process: Electoral deadlock – for now …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document) …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (o.D.): The 'government of national unity' deal (full text) …;
AB - Afghan Bios (18.11.2017): Understanding Council of Political Currents of Afghanistan …;
AB - Afghan Bios (29.5.2017): New National Front of Afghanistan (NNF) …;
AB - Afghan Bios (15.1.2016): National Congress Party …;
AE – Afghan Embassy (o.D.): Islamic Republic of Afghanistan, The Constitution of Afghanistan …;
AJ – Al Jazeera (19.5.2018): Taliban pledge not to target army, police who leave “enemy ranks” …;
AM – Asia Maior (2015): Afghanistan 2015: the national unity government at work: reforms, war, and the search for stability …;
BFA Staatendokumentation (7.2016): Dossier der Staatendokumentation, AfPak – Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur …;
BFA Staatendokumentation (3.2014): Afghanistan; 2014 and beyond …;
Casolino, Ugo Timoteo (2011): "Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, PhD thesis, Università degli studi di Tor Vergata – Roma …;
CRS – Congressional Research Service (13.12.2017): Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy …;
CRS – Congressional Research Service (12.1.2017): Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy …;
DW – Deutsche Welle (29.9.2016): Friedensabkommen in Afghanistan unterzeichnet …;
DW – Deutsche Welle (30.9.2014): Understanding Afghanistan‘s Chief Executive Officer …;
DZ – Die Zeit (7.3.2018): Wir sind besiegt …;
HDN - Hürriyet Daily News (10.6.2018): Taliban agrees to unprecedented Eid ceasefire with Afghan forces …;
IPU – Inter-Parliamentary Union (27.2.2018): Afghanistan – Meshrano Jirga (House of Elders) …;
MPI - Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan …;
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (28.2.2018): Die afghanische Regierung macht den Taliban ein konkretes Angebot …;
NYT – The New York Times (11.3.2018): An Unprecedent Peace Offer to the Taliban …;
Reuters (7.6.2018): Afghanistan announces ceasefire with Taliban, until June 20 …;
Reuters (5.6.2018): Afghan President backs suicide bomb fatwa after 14 killed …;
RFE/RL – Radio Free Europe Radio Liberty (5.6.2018): Ghani Says Kabul Attack 'Against Values Of Islam', Backs Suicide Bomb Fatwa …;
TD – The Diplomat (24.3.2018): Uzbekistan‘s Afghanistan Peace Conference: What to Expect …;
TD – The Diplomat (7.3.2018): A Way Forward for Afghanistan After 2nd Kabul Process Conference …;
TH – The Hindu (10.6.2018): Taliban agrees to ceasefire during Id …;
Tolonews (9.6.2018): Taliban Orders Three-Day Eid Ceasefire …;
Tolonews (7.6.2018): Afghan Govt Announces Ceasefire With Taliban …;
Tolonews (29.4.2018): Six Wounded in Blast Close to Registration Center …;
Tolonews (16.4.2018): Taliban Rejects Ghani’s Call For Them To Take Part In Elections …;
Tolonews (11.4.2018): Taliban Discussing Peace Offer, Says Former Member …;
Tolonews (14.3.2018): Hizb-e-Islami Dismisses Three Senior Members …;
Tolonews (19.12.2017): Special Interview With Arghandiwal – Head of Hizb-e Islami …;
TS – Der Tagesspiegel (28.2.2018): Präsident Ghani macht den Taliban e