TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/2 L502 2187479-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.12.2019
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Entscheidungsdatum

02.12.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

L502 2187479-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.01.2018, FZ. 13-133592909/160516350, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.06.2019, zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I, erster Satz, des Bescheides wird abgewiesen mit der Maßgabe, dass dieser lautet:

"Ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 11.04.2016 wird gemäß § 54 Abs. 5 AsylG als unzulässig zurückgewiesen".

2. In Stattgebung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I, zweiter Satz, und die Spruchpunkte II, III und IV werden diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF), ein türkischer Staatsangehöriger, reiste spätestens am 14.08.1992 in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er sich seither aufhält und von 14.10.1992 bis 20.05.2015 über gültige Aufenthaltstitel verfügte.

2. Am 15.05.2015 beantragte er beim Magistrat Wien die Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels nach dem NAG. Dieser Antrag wurde nach Erteilung eines Verbesserungsauftrags an ihn rechtskräftig zurückgewiesen.

3. Am 11.04.2016 beantragte er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG. Unter einem wurden von ihm mehrere Beweismittel vorgelegt.

4. Am 21.02.2017 langte beim BFA eine Mitteilung über Verwaltungsanzeigen der Polizeiinspektion XXXX gegen ihn ein.

5. Am 17.07.2017 langte beim BFA eine Mitteilung des Bezirksgerichts (BG) XXXX über die Anhängigkeit eines Strafverfahrens gegen ihn ein.

6. Mit Aktenvermerk vom 28.08.2017 hielt das BFA das Ergebnis einer telefonischen Erhebung bei seiner ehemaligen Lebensgefährtin fest.

7. Am 29.08.2017 wurde er vor dem BFA zu seinem Antrag vom 11.04.2016 niederschriftlich einvernommen.

Am 20.09.2017 brachte er mehrere Unterlagen als Beweismittel in Vorlage.

8. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 22.01.2018 wurde sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 11.04.2016 gemäß § 55 AsylG abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt III). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG wurde gegen ihn ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV).

9. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 23.01.2018 wurde ihm gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG von Amts wegen ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

10. Gegen den am 25.01.2018 zugestellten Bescheid des BFA wurde mit 22.02.2018 binnen offener Frist durch seinen damaligen Rechtsvertreter Beschwerde erhoben.

11. Die Beschwerdevorlage des BFA langte am 28.02.2018 beim BVwG ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren in der Folge der Gerichtsabteilung L502 zugewiesen.

12. Der Rechtsvertreter des BF brachte mit Schriftsatz vom 08.05.2019 mehrere Beweismittel in Vorlage. Unter einem wurde die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens beantragt.

13. Das vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Anschluss in Auftrag gegebene Gutachten langte dort am 17.06.2019 ein.

14. Am 19.06.2019 wurde vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung in der Sache des BF in dessen Anwesenheit durchgeführt.

15. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Strafregister sowie dem Zentralen Melderegister (ZMR) den BF betreffend.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der og. Verfahrensgang steht fest.

1.2. Die Identität des BF steht fest. Er wurde in der Türkei geboren und ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste spätestens am 14.08.1992 in das österr. Bundesgebiet ein und besitzt hier - mit Unterbrechungen - seit der Einreise eine aufrechte Meldeadresse. Insgesamt ist er seit mehr als 27 Jahren in Österreich aufhältig. Von 14.10.1992 bis 15.05.2015 verfügte er durchgehend über gültige Aufenthaltstitel. Er besitzt einen bis 15.12.2023 gültigen Befreiungsschein des Arbeitsmarktservice (AMS).

Er ist ledig, aus einer früheren Lebensgemeinschaft stammt seine in Österreich geborene Tochter, ein gemeinsamer Wohnsitz mit ihr besteht nicht und leistet er aktuell weder Unterhaltszahlungen für sie noch besteht ein aufrechter Kontakt zu ihr. Darüber hinaus leben in Österreich noch seine Eltern, zwei Brüder und weitere Verwandte. Er lebt mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt, von denen er auch finanziell unterstützt wird. Er spricht sehr gut Deutsch, gut Türkisch und etwas Kurdisch. Er hat in Österreich einen Pflichtschulabschluss gemacht und besitzt eine Taxilenkerberechtigung.

Er leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung und besteht bei ihm der Verdacht auf das Vorliegen einer wahnhaften Störung. Aus diesem Krankheitsbild resultiert eine niedrige Frustrationstoleranz, eine Tendenz zur Übertreibung, zu theatralischem Verhalten sowie zur Dramatisierung und eine erhöhte Streitsucht. Er ist jedoch verhandlungs- und postulationsfähig.

1.3. Der BF bestritt seinen Lebensunterhalt von Jänner 1997 bis August 2015 - mit Ausnahme von Zeiträumen, in denen er Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe bezog, wobei die längste dieser Unterbrechungen etwa sechs Monate betrug - vorwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit bei verschiedenen Dienstgebern. Auch seit 2015 war er mehrfach als Taxilenker und LKW-Fahrer beruflich tätig.

1.4. Der BF wurde in Österreich wie folgt strafgerichtlich verurteilt:

Mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß § XXXX zu einer XXXX , wobei diese zur Gänze unter Verhängung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß § XXXX zu einer XXXX , die Probezeit wurde auf fünf Jahre verlängert;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß §§ XXXX zu einer XXXX ;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß XXXX zu einer XXXX , wobei diese unter Verhängung einer Probezeit von drei Jahren zur Gänze bedingt nachgesehen wurde;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß XXXX zu einer XXXX , wobei diese zur Gänze unter Verhängung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß XXXX zu einer XXXX , wobei XXXX unter Verhängung einer Probezeit drei Jahren bedingt nachgesehen wurden, unter einem wurde die Bewährungshilfe angeordnet;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß XXXX zu einer XXXX unter Bedachtnahme auf das Urteil des XXXX vom XXXX ;

mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX gemäß XXXX zu einer XXXX , wobei diese zur Gänze unter Verhängung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurde.

1.5. Der BF wurde im Zeitraum von 19.06.2009 bis 05.07.2017 insgesamt XXXX verwaltungsstrafrechtlich bestraft. Diesen Verwaltungsstrafen lagen Verstöße gegen das KFG, die StVO, das FSG, das FPG und das SPG zu Grunde.

Er wurde von XXXX bis XXXX in XXXX unter anderem wegen des Einschleusens von Ausländern in Untersuchungshaft angehalten.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde durch Einsichtnahme in den gg. Verfahrensakt des BFA, die Beschwerde des BF und die Urkundenvorlage seines Vertreters, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Einholung eines Sachverständigengutachtens und aktueller Auszüge aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister und dem Strafregister den BF betreffend.

2.2. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens stellten sich die Feststellungen oben als unstrittig dar.

3. Rechtliche Beurteilung:

Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.

Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.

Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde als gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Mit BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G) idF BGBl. I Nr. 68/2013, in Kraft getreten mit 1.1.2014, wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingerichtet.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG idgF sowie § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Zu A)

1.1. Am 12. September 1963 schlossen die damaligen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Rat der Europäischen Gemeinschaften mit der Türkei ein Abkommen zur Gründung einer Assoziation (Assoziierungsabkommen). Am 23. November 1970 verabschiedeten die Vertragsparteien das "Zusatzprotokoll zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation" (im Folgenden: ZP), das am 1. Januar 1973 in Kraft trat. In weiterer Folge wurde am 19.09.1980 durch den Assoziationsrat (dem durch das ZP Normsetzungskompetenz übertragen wurde) der Beschluss Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation (kurz: ARB 1/80) gefasst, welcher den vorangegangenen Beschluss Nr. 2/76 weitgehend ablöste.

In Art. 6 ARB 1/80 werden die Rechte türkischer Staatsangehöriger geregelt, welche je nach Beschäftigungsdauer in Österreich bestimmte Ansprüche im Hinblick auf ihre Weiterbeschäftigung und letztlich ihren Aufenthalt ableiten können.

Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 lautet:

Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Art 6 Abs. 2 ARB 1/80 lautet:

Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.

Gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gilt dieser Abschnitt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

1.2. Dem Akteninhalt war mit Blick auf einen von der belangten Behörde beigeschafften Sozialversicherungsdatenauszug vom 05.04.2016 (AS 2199 - 2247) zu entnehmen, dass der - im Alter von ca. 10 Jahren legal im Wege der Familienzusammenführung mit seinem bereits in Österreich aufhältigen Vater in das Bundesgebiet eingereiste (vgl. AS 2448 ff) und in der Folge rechtmäßig aufhältige - BF nach Absolvierung seiner Schulzeit zwischen 1992 und 1996 beginnend im Alter von ca. 16 Jahren zwischen Jänner 1997 und August 2015 bei verschiedenen Arbeitgebern unselbständig erwerbstätig war. Auch wenn diese Erwerbstätigkeiten immer wieder kurzfristig unterbrochen waren und er in den Zeiten dazwischen Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder Krankengeld bezogen hat, gehörte er über diesen langjährigen Zeitraum dem heimischen Arbeitsmarkt an. Zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Einvernahme im August 2017 wie auch der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 19.06.2019 befand er sich zwar im Krankenstand, aber auch in den Jahren 2016, 2017 und 2018 war er wieder als Taxifahrer und LKW-Fahrer unselbständig erwerbstätig (S. 5 der Niederschrift v. 19.06.2019). Er ist im Besitz eines Befreiungsscheins des AMS vom 16.12.2018 mit Gültigkeit bis 15.12.2023. Längere Aufenthalte in seinem Herkunftsstaat über kurze Urlaubsreisen hinaus waren nicht festzustellen.

In Anbetracht dieser Umstände hat der BF die in Art. 6 ARB 1/80, dritter Gedankenstrich, vorgesehene Rechtstellung erworben.

Für das erkennende Gericht erhellte im Übrigen nicht, weshalb das BFA im angefochtenen Bescheid zur Auffassung gelangte, dass sich der BF nicht auf den Assoziationsratsbeschluss berufen könne, zumal begründend lediglich ausgeführt wurde, dass einem Schreiben eines ehemaligen Rechtsvertreters des BF zufolge dieser sich nicht mehr auf den Assoziationsratsbeschluss berufen könne, weil sein Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung im Juli 2015 abgewiesen worden sei, und dass sich das BFA dieser Rechtsansicht anschließe.

Sind Rechte aus dem ARB 1/80 erst einmal entstanden, kann ein türkischer Staatsangehöriger sie nur unter zwei Voraussetzungen wieder verlieren. Entweder er verlässt den Aufnahmemitgliedstaat ohne berechtigte Gründe für einen nicht unerheblichen Zeitraum oder er stellt wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit gemäß Artikel 14 dar (VwGH 28. Februar 2006, 2002/21/0130; sowie jüngst VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Aus der rechtskräftigen Zurückweisung seines Antrages auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung vom 15.05.2015 konnte sohin nicht, wie die belangte Behörde vermeinte, der Verlust einer nach Art 6 ARB 1/80 erworbenen Rechtstellung resultieren.

1.3. In seinem Erkenntnis vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0009, führte der VwGH unter Rz. 16 und 17 aus:

"Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vom Revisionswerber behauptete Bestehen einer Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 seinem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 von vornherein den Boden entzogen hätte. Denn die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem 7. Hauptstück des AsylG 2005 (und damit insbesondere nach § 55 AsylG 2005) ist als subsidiäre Maßnahme konzipiert, die nur in Betracht kommt, wenn der betreffende Fremde nicht ohnehin über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügt. Das ergibt sich insbesondere aus § 54 Abs. 5 AsylG 2005, wonach die Bestimmungen des 7. Hauptstückes [des AsylG 2005] nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige gelten, und aus § 58 Abs. 9 Z 2 AsylG 2005, wonach ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück als unzulässig zurückzuweisen ist, wenn der Drittstaatsangehörige bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt. In diesem Sinn heißt es dann auch allgemein in den ErläutRV zum FNG, mit dem § 58 AsylG 2005 im Wesentlichen seine jetzt geltende Fassung erhalten hat, "Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück sollen daher nur jenen zugutekommen, die es auch benötigen." (1803 BlgNR 24. GP 49). Auch die in § 52 Abs. 3 vorgesehene Anordnung, dass im Fall der Zurück- oder Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 AsylG 2005 unter einem - ohne dass auf eine besondere Gefährlichkeit des Fremden abgestellt wird - mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, bringt zum Ausdruck, dass derartige Anträge nur für Personen ohne Aufenthaltsrecht gedacht sind.

Die Revision in Bezug auf die abweisende Entscheidung nach § 55 AsylG 2005 könnte daher von vornherein nur dann erfolgreich sein, wenn dem Revisionswerber die behauptete Aufenthaltsberechtigung nicht zukommt. [Dass umgekehrt im Fall des Bestehens einer derartigen Aufenthaltsberechtigung der Antrag des Revisionswerbers nicht abzuweisen, sondern zurückzuweisen gewesen wäre, ist im gegebenen Zusammenhang unerheblich, denn das allein könnte mangels darin zu erblickender Rechtsverletzung nicht zu einer Stattgabe der Revision, § 55 AsylG 2005 betreffend, führen.] Kommt dem Revisionswerber diese Aufenthaltsberechtigung nicht zu, dann wäre nach § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 entscheidend, ob die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung seines Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist."

1.4. Aus diesen Ausführungen folgt für den gg. Fall, dass der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 11.04.2016 nicht gemäß §§ 55 AsylG abzuweisen, sondern gemäß § 54 Abs. 5 AsylG als unzulässig zurückzuweisen war.

Die Beschwerde des BF gegen Spruchpunkt I, erster Satz, des bekämpften Bescheides war daher mit der entsprechenden Maßgabe abzuweisen.

2.1. Mangels Anwendbarkeit des § 55 AsylG war in weiterer Folge auch der Anwendung des § 52 Abs. 3 FPG zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF der Boden entzogen.

2.2. Die allfällige Anwendung des § 52 Abs. 4 FPG zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF würde ein anhängiges Verfahren vor der zuständigen Niederlassungsbehörde über einen Antrag auf Erteilung eines weiteren bzw. auf Verlängerung der Gültigkeit eines bestehenden Aufenthaltstitels nach dem NAG sowie im Hinblick auf aus Sicht der Niederlassungsbehörde vorliegende Versagungsgründe iSd § 11 Abs. 1 und 2 NAG eine Verständigung des BFA gemäß § 24 NAG voraussetzen, was im gg. Fall mit Blick auf Sachverhalt und Verfahrensgang ausschied.

2.3. Die Anwendung des § 52 Abs. 5 FPG zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF setzt zum einen voraussetzen, dass dieser "... auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war", was angesichts der Feststellungen oben zu seiner Rechtsstellung nach § 6 ARB 1/80 zu bejahen ist, zum anderen aber auch, dass er zum Zeitpunkt der Erlassung einer solchen Rückkehrentscheidung "über einen Aufenthaltstitel Daueraufenthalt-EU (§ 45 NAG) verfügt", was im gg. Fall in formaler Hinsicht zu verneinen war.

2.4. Zieht man demgegenüber in Betracht, dass der BF im Lichte der Feststellungen zu seiner Rechtsstellung nach § 6 ARB 1/80 und mit Blick auf die Richtlinie 2003/109/EG, welche "die Rechtsstellung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen" regelt, und den darauf abstellenden § 45 NAG der Anwendbarkeit des § 52 Abs. 5 FPG unterliegt, weil ihm ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt-EU" zukäme, so ist diesbezüglich auf Folgendes zu verweisen.

Im bereits genannten Erkenntnis vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0009, führte der VwGH unter Rz. 21 ff aus, "dass die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch gegen jene Personen in Betracht kommt, die eine Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 innehaben."

Unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. insb. VwGH 27.6.2006, ZI. 2006/18/0138 und VwGH 26.09.2007, ZI. 2007/21/0215) legte der VwGH dar, der Europäische Gerichtshof habe für die Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung ausgeführt, dass darauf abzustellen sei, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sind, ausgelegt wird; Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 setze den zuständigen nationalen Behörden Grenzen, die denen entsprechen, die für eine gegenüber einem Angehörigen eines Mitgliedstaats getroffene Ausweisungsentscheidung gelten (EuGH 10.2.2000, Nazli, C-340/97, Rn. 56 ff, sowie EuGH 11.11.2004, Cetinkaya, C-467/02, Rn. 43 ff). Im Hinblick auf die somit in Bezug auf die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen angeordnete Gleichbehandlung von ARB-berechtigten türkischen Staatsangehörigen einerseits und - im Ergebnis - EWR-Bürgern andererseits folgerte der VwGH für das FPG in der Stammfassung, dass solche Maßnahmen gegen ARB-berechtigte türkische Staatsangehörige nur nach Maßgabe des § 86 Abs. 1 FPG, mit dem die Unionsbürger-RL umgesetzt wurde und der demnach umschrieb unter welchen Voraussetzungen (insbesondere) gegen EWR-Bürger ein Aufenthaltsverbot erlassen werden könne, in Betracht kämen und maß die Zulässigkeit eines Aufenthaltsverbotes gegen diese Personen an den Kriterien dieser Bestimmung (siehe etwa VwGH 27.06.2006, ZI. 2006/18/0138).

"Dass in Bezug auf den Umfang der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgelegt wird, hat der Europäische Gerichtshof auch in seiner jüngeren Judikatur zum Ausdruck gebracht (vgl. EuGH 8.12.2011, Ziebell, C-371/08, Rn. 67). Im eben genannten Urteil wurde aber erkannt, dass der erhöhte Ausweisungsschutz, wie er in Art. 28 Abs. 3 lit. a der Unionsbürger-RL festgelegt ist (umgesetzt ursprünglich durch § 86 Abs.1 fünfter Satz FPG, jetzt durch § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG), nicht auch auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu übertragen sei (Rn. 74).

Demgegenüber ist - gemäß den Rn. 79 ff des genannten Urteils Ziebell - für ARB-berechtigte türkische Staatsangehörige, die sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedsstaat aufhalten, Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthalts-RL) maßgeblich, sodass es darauf ankommt, ob der Betreffende eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt" (VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009)."

Aus diesen Ausführungen leitete der VwGH ab, dass seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ARB-berechtigte türkische Staatsangehörige nur nach Maßgabe jener Norm in Frage kommt, die Aufenthaltsverbote gegen EWR-Bürger regelt, sohin in Form eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 67 FPG idgF, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Durch die Novelle des FPG idF FrÄG 2011 ist es vielmehr zu einer grundsätzlichen Neuordnung des Systems aufenthaltsbeendender Maßnahmen gekommen, der zufolge in Umsetzung der Rückführungs-RL die neuen Institute der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots in das nationale Recht eingeführt wurden. Schließlich ist dieses neue System mit dem FNG-Anpassungsgesetz (BGBl I 68/2013) weiter verändert worden, weshalb mit Wirksamkeit vom 01.01.2014 die Rechtsinstitute der Ausweisung und des Aufenthaltsverbotes nach den §§ 66 und 67 FPG idgF ausschließlich gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige in Betracht kommen. Für alle sonstigen Drittstaatsangehörigen kommt hingegen nur mehr eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, allenfalls in Verbindung mit einem Einreiseverbot gemäß § 53 FPG, als aufenthaltsbeendende Maßnahme in Betracht.

Daran anknüpfend hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass türkische Staatsangehörige mit einer Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 "sonstige" Drittstaatsangehörige darstellen und daher dem Wortlaut des § 52 FPG folgend dem Anwendungsbereich dieser Bestimmung unterliegen.

"Vor allem aber ist zu bedenken, dass türkische Staatsangehörige, gegen die in Einklang mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen werden, denen daher nach der Rückführungs-RL im Wege einer Rückkehrentscheidung eine Rückkehrverpflichtung in ihr Herkunftsland, ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder in ein anderes Drittland, in das sie freiwillig zurückkehren wollen und in dem sie aufgenommen werden, aufzuerlegen ist (Art. 6 Abs. 1 und 6 iVm Art. 3 Z 3 und 4 Rückführungs-RL). Das wird im österreichischen Rechtsbereich (seit 1. Jänner 2014 zur Gänze) nur mehr durch die Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG umgesetzt, die nach dem 8. Absatz dieser Bestimmung den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde, verpflichtet. Demgegenüber verpflichten Ausweisungen nach § 66 FPG und Aufenthaltsverbote nach § 67 FPG nur zur Ausreise aus Österreich (siehe § 70 Abs. 1 FPG)" (VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Aus diesen Ausführungen des VwGH ergibt sich, dass gegen türkische Staatsangehörige, die über eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 verfügen und deren Aufenthalt in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 beendet werden soll, anders als nach der bis 31. Dezember 2013 geltenden Rechtslage nicht mehr ein Aufenthaltsverbot, sondern eine Rückkehrentscheidung, allenfalls samt Einreiseverbot, zu erlassen ist.

2.5. Gemäß § 52 Abs. 5 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

2.6. Wie oben dargelegt wurde, hat der BF eine Rechtsstellung nach Art 6 ARB 1/80 erworben, weshalb die Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Fall des BF nach der hg. Judikatur eine Gefährdung voraussetzt, die jener gleichkommt, die die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger rechtfertigt.

Zudem ist im Sinne der Rechtsprechung bei der Gefährdungsprognose - abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des BF - darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist. Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen (vgl. VwGH 06.11.2018, Ra 2018/18/0203 mit Hinweis auf VwGH 30.6.2015, Ra 2015/21/0002).

Die fremdenpolizeiliche Beurteilung ist unabhängig und eigenständig von denen betreffenden Erwägungen eines Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs zu treffen (vgl. Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096). Es obliegt dem erkennenden Gericht festzustellen, ob eine Gefährdung im Sinne des FPG vorliegt oder nicht. Es geht bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119). Selbiges gilt auch für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot.

Ein allfälliger Gesinnungswandel eines Straftäters ist der ständigen Judikatur des VwGH zufolge grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (vgl. VwGH vom 25.01.2018, Ra. 2018/21/0004 sowie VwGH vom 19. April 2012, Zl. 2010/21/0507, und vom 25. April 2013, Zl. 2013/18/0056, jeweils mwN).

Das gilt auch im Fall einer (erfolgreich) absolvierten Therapie (VwGH vom 26.01.2017, Zl. Ra 2016/21/0233 - vgl. E 22. September 2011, 2009/18/0147; B 22. Mai 2014, Ro 2014/21/0007; B 15. September 2016, Ra 2016/21/0262).

Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach einer Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Dass es aber grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens - regelmäßig in Freiheit - bedarf, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, was grundsätzlich Voraussetzung für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes ist, kann nicht mit Erfolg in Zweifel gezogen werden (VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0193; vgl. auch VwGH vom 22. Jänner 2013, 2012/18/0185 und vom 22. Mai 2013, 2013/18/0041); ebenso wenig, dass dieser Zeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen sein wird, je nachdrücklicher sich die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009; 28.01.2016, Ra 20015/21/0013). Wenn sich die Gefährdung über einen - beginnend mit der Haftentlassung - Zeitraum von mehr als 8 Jahren nicht erfüllt, kann die diesem Aufenthaltsverbot zugrundeliegende Zukunftsprognose grundsätzlich nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. VwGH vom 09.09.2013, 2013/22/0117).

2.7. Der BF wurde unstrittiger Weise mehrfach rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt. U.a. wurde er mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.

Der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z. 1 FPG war durch diese rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung grundsätzlich erfüllt. Nach der hg. Rechtsprechung indiziert die Erfüllung eines der in § 53 Abs. 3 Z. 1 bis 8 FPG normierten Tatbestände das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (vgl. VwGH 24.05.2018, Ra 2017/19/0311). Allerdings liegt diese strafgerichtliche Verurteilung des BF inzwischen mehr als sechs Jahre zurück.

In der Folge wurde der BF mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom XXXX strafgerichtlich verurteilt. Auch diese Verurteilung liegt inzwischen mehr als fünf Jahre zurück.

Schon der Umstand, dass diese strafgerichtlichen Verurteilungen mehr als fünf bzw. die hinsichtlich § 53 Abs. 1 Z. 1 FPG maßgebliche mehr als sechs Jahre zurücklagen, stand der Annahme einer vom BF ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit entgegen (siehe dazu auch VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0049).

Auch aus den konkreten Tatumständen, insbesondere der "jüngeren" strafgerichtlichen Verurteilung, konnte keine ausreichend schwerwiegende vom BF ausgehende Gefährdung abgeleitet werden. Hinsichtlich der strafgerichtlichen Verurteilung des LG XXXX war ausgehend vom strafgerichtlich festgestellten Sachverhalt festzuhalten, dass der BF am 25. und 26.03.2013 versucht hat in zwei Bekleidungsgeschäften fremde Kleidungsstücke mit dem Vorsatz an sich zu nehmen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er ohne zu bezahlen das jeweilige Geschäft verlassen wollte, wobei er von Mitarbeitern der jeweiligen Firma aufgehalten wurde. Außerdem hat er am 21.06.2013 ein fremdes Mobiltelefon, welches er in einem Lokal gefunden hatte, an sich genommen, es sich zugeeignet und nicht an die Berechtigte zurückgegeben um sich durch dessen Zueignung unrechtmäßig zu bereichern. Alleine darin konnte jedenfalls keine relevante Gefährdung erblickt werden, zumal mildernd ins Gewicht fiel, dass die Hemmschwelle des BF durch Medikamenteneinfluss herabgesetzt war, es zu keinem Schaden kam und teilweise beim Versuch blieb. Daran vermochten auch die erschwerend gewichteten Aspekte (Begehung innerhalb offener Probezeit, Zusammentreffen eines Vergehens mit einem Verbrechen, einschlägige Vorstrafen) nichts zu ändern.

Auch keine der sonstigen Verurteilungen des BF ließ den Schluss zu, dass von ihm eine entsprechend schwere Gefahr ausgeht, zumal der BF dabei meist zu Geldstrafen bzw. nur zu geringen bedingten Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Selbst die Summe seiner strafgerichtlichen Verurteilungen ließ nicht auf eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit schließen, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sämtliche Verurteilungen schon fünf und mehr Jahre zurückliegen.

Nun verwies die belangte Behörde grundsätzlich zu Recht darauf, dass der BF seither zwar nicht mehr strafgerichtlich verurteilt wurde, er allerdings mehrfach verwaltungsstrafrechtliche Verfehlungen setzte und hierfür rechtskräftig bestraft wurde, was jedenfalls in die gg. Gefährdungsprognose miteinfließen musste. Allerdings lässt auch diese Häufung von Verwaltungsübertretungen des BF aus Sicht des erkennenden Gerichts noch nicht den Schluss zu, es gehe eine maßgebliche Gefährdung von ihm aus. Dies deshalb, da der Großteil dieser Bestrafungen ebenfalls mehrere Jahre zurückliegt und die Übertretungen - vor allem soweit sie auf Verstößen gegen die StVO, das FSG und das KFG zurückzuführen sind - per se keine derart gravierende Gefahr, wie es für die Rechtskonformität der gegenständlichen Rückkehrentscheidung nötig wäre, begründen können.

Soweit einer der jüngeren Verwaltungsstrafen aus dem Jahre 2017 ein aggressives Verhaltens des BF gegenüber einem Mitarbeiter des BFA zugrunde lag, weshalb er des Amtsgebäudes verwiesen wurde, er dieser Forderung nicht nachkam und letztlich unter Anwendung körperlicher Gewalt von Polizisten aus dem Amtsgebäude eskortiert werden mußte, war im Übrigen sein Fehlverhalten im Hinblick auf dessen Unrechtsgehalt insoweit zu relativieren, als sich aus dem jüngst vom BVwG eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten ergab, dass er über eine verminderte Kritikfähigkeit und Frustrationstoleranz verfügt und seine Gereiztheit sowie vermehrte Streitsucht offenbar der bei ihm diagnostizierten kombinierten Persönlichkeitsstörung und weniger einer fehlenden Rechtstreue der österreichischen Rechtsordnung gegenüber geschuldet ist.

Auch hinsichtlich seiner Inhaftierung in XXXX von September 2015 bis März 2016 wegen des Einschleusens von Ausländern war darauf abzustellen, dass er sich seither wohlverhalten hat.

Für die von der belangten Behörde angenommene Mittellosigkeit des BF und der daraus resultierenden Gefahr der illegalen Beschaffung der Mittel zum Unterhalt boten sich keine hinreichenden Anhaltspunkte. Wiewohl das BFA zu Recht darauf hinwies, dass der BF phasenweise nicht in der Lage war ausreichende finanzielle Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts zu erwirtschaften, war zu bedenken, dass er bei seinen erwerbstätigen Eltern Unterkunft findet, die ihn soweit erforderlich auch finanziell unterstützen, und er aktuell Krankengeld bezieht. Im Übrigen ging der BF bisher legalen Erwerbstätigkeiten nach und war sohin grundsätzlich anzunehmen, dass er in der Lage ist ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, zumal er einen nach wie vor gültigen Befreiungsschein des AMS besitzt.

Soweit die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid anführte, vom BF gehe auch insoweit eine Gefahr aus, als er sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte und sich weigere in die Türkei auszureisen, war dem zu entgegnen, dass er zwar seit Ablauf seines letzten Aufenthaltstitels bis dato über keinen gültigen Aufenthaltstitel verfügte, er jedoch mit Blick auf seine Rechtsstellung nach § 6 ARB 1/80 weiterhin rechtmäßig aufhältig war.

Nicht zuletzt galt es auch zu bedenken, dass die Anträge des BF auf Verlängerung seiner früheren Aufenthaltsberechtigungen von der zuständigen Behörde trotz bereits erfolgter strafgerichtlicher Verurteilungen und verwaltungsstrafrechtlicher Bestrafungen jeweils verlängert worden waren, sohin schon die nach dem NAG zuständige Behörde in dieser Delinquenz des BF kein Hindernis für die weitere Erteilung eines Aufenthaltstitels erblickte. Auch sein letzter Antrag auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels nach dem NAG wurde nicht wegen einer vom BF ausgehenden Gefährdung abgewiesen, sondern wegen formaler Mängel zurückgewiesen.

In der Gesamtbetrachtung dieser Aspekte waren aus Sicht des erkennenden Gerichts daher schon keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer vom BF ausgehenden aktuellen und ausreichend schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit erkennbar.

2.8. § 9 BFA-VG lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

2.9. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00).

Wie der Verfassungsgerichtshof in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:

die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),

das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),

die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),

die Bindungen zum Heimatstaat,

die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie

auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).

In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).

Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Fremden dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (vgl. Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).

Nach der Rechtssprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).

2.9.1. Der volljährige BF hat im österreichischen Bundesgebiet eine minderjährige Tochter. Zwar besteht mit seiner Tochter kein gemeinsamer Haushalt und leistet er auch keine Unterhaltszahlungen, doch fällt die Beziehung zu seiner Tochter grundsätzlich unter den Begriff des Familienlebens iSd. Art. 8 EMRK und war diese in die gg. Interessenabwägung miteinzubeziehen.

Darüber hinaus leben in Österreich die Eltern des BF und zwei Brüder. Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, müssen neben der Verwandtschaft noch weitere Umstände hinzutreten. So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgehen (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert. Zwar lebt der BF, seit er in Österreich ist, mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt und wird von ihnen auch finanziell unterstützt, angesichts seiner Volljährigkeit und Arbeitsfähigkeit besteht jedoch kein sogenanntes Abhängigkeitsverhältnis, weshalb aus der Beziehung zu seinen Eltern und Geschwistern kein schützenswertes Familienleben im og. Sinn resultiert.

2.9.2. Darüber hinaus war hinsichtlich des in Österreich bestehenden Privatlebens des BF zu beachten, dass er über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt und beginnend mit Jänner 1997 bis kürzlich verschiedenen Erwerbstätigkeiten, vornehmlich als Fernfahrer bzw. als Taxilenker, nachging und seinen Lebensunterhalt während seines Aufenthalts im Bundesgebiet vorwiegend aus Einkünften aus seiner Erwerbstätigkeit bestritt. Diesbezüglich war aus dem persönlichen Auftreten des BF in der Beschwerdeverhandlung und den vorhandenen beruflichen Fähigkeiten des BF auch abzuleiten, dass entgegen der Einschätzung der belangten Behörde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch von seiner Selbsterhaltungsfähigkeit und -willigkeit pro futuro ausgegangen werden kann.

Besonders zu gewichten war im Rahmen der gegenständlichen Abwägung die lange Aufenthaltsdauer des BF im Bundesgebiet. Er reiste bereits im Jahr 1992 in das österreichische Bundesgebiet ein, insgesamt ist er daher bis dato seit 27 Jahren in Österreich aufhältig, er verfügte für 23 Jahre über einen Aufenthaltstitel und kommt ihm darüber hinaus auch weiterhin ein Aufenthaltsrecht für ARB-berechtige türkische Staatsangehörige zu. Es war aufgrund dieser langen Aufenthaltsdauer von einem durch eine Rückkehrentscheidung bewirkten gravierenden Eingriff in sein Privatleben auszugehen.

Demgegenüber waren, mit Ausnahme mehrerer entfernterer Verwandter, keine familiären Anknüpfungspunkte des BF in der Türkei feststellbar. Mit seinen Cousins steht er fallweise in Kontakt. Zudem spricht er Türkisch und Kurdisch.

2.10. Im Rahmen einer Abwägung all dieser Umstände durch das erkennende Gericht gelangte dieses in einer Gesamtbetrachtung zum Ergebnis, dass sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF (auch) in Anwendung des § 52 Abs. 5 FPG nicht als rechtskonform erweist.

3. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I, zweiter Satz, des bekämpften Bescheides war daher stattzugeben und dieser ersatzlos zu beheben.

4. Aus dieser Entscheidung folgte, dass die Spruchpunkte II bis IV desselben obsolet und gleichfalls zu beheben waren.

5. Es war sohin spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Schlagworte

Assoziationsabkommen Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK Einreiseverbot Einreiseverbot aufgehoben ersatzlose Teilbehebung Gefährlichkeitsprognose Interessenabwägung Maßgabe private Interessen Rückkehrentscheidung Rückkehrentscheidung behoben Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Verwaltungsstrafe Zurückweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:L502.2187479.1.00

Im RIS seit

09.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

09.10.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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