Entscheidungsdatum
27.12.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2172930-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20, gegen die Spruchpunkte II., III. und IV. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 07.06.2019 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 15.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am Tag der Antragstellung legte der Beschwerdeführer dar, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in XXXX geboren und habe zuletzt in Bagdad im Bezirk XXXX gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung und sei ledig.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 05.10.2014 legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in XXXX sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg auf die Insel Kos gelangt und dort nach erkennungsdienstlicher Behandlung zunächst nach Athen gereist. In der Folge sei er mit verschiedenen Verkehrsmitteln und teilweise schlepperunterstützt nach Österreich verbracht worden.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, sein Vater sei verstorben, seine Mutter habe einen anderen Mann geheiratet und sein Onkel haben den Irak verlassen. Er habe im Irak niemanden mehr und sei daher geflohen. Es gäbe auch keine Sicherheit im Irak.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 23.02.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, die arabische Sprache zu verstehen und der Einvernahme in gesundheitlicher Hinsicht folgen zu können. Zur Person befragt legte der Beschwerdeführer insbesondere dar, er habe im Irak die Grundschule besucht und zuletzt im Bezirk XXXX in einem Haus im Eigentum seines Onkels gelebt. Gearbeitet habe er als Installateur.
Im Irak lebten derzeit seine Mutter und zwei Halbbrüder. Sein Vater sei am 18.09.2008 von der Badr-Miliz ermordet worden. Mit seiner Mutter stehe er zwar in Kontakt, allerdings selten, da ihr nunmehriger Ehemann keinen Kontakt wünschen würde.
Den Ausreiseentschluss habe er im September 2008 gefasst. Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates führte der Beschwerdeführer aus, er sie im Jahr 2008 nach der Ermordung seines Vaters nach Babel gefahren, um dort das Erbe anzutreten. Als der das Geschäft geöffnet habe, hätten ihn Milizen aufgefordert, zu verschwinden, widrigenfalls er getötet werde. Er sei dann nach Bagdad zurückgekehrt und habe sich anschließend mit Hilfe seines Onkels nach Syrien verfügt, wo er bis in das Jahr 2012 gelebt habe. Aufgrund der Unruhen in Syrien sei er nach Bagdad zu seinem Onkel zurückgekehrt. Dort habe er sich in den ersten sechs Monaten nicht länger als 21.00 Uhr auf der Straße aufhalten dürfen, da sein Onkel um sein Leben gefürchtet habe. Durch seine Arbeit als Installateur habe er sich abgelenkt. Am 05.09.2014 habe er über sein Mobiltelefon Drohungen erhalten. Nachdem die Polizei und ein Richter ihm mitgeteilt hätten, ihn nicht schützen zu können, habe er den Irak verlassen.
Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer dar, er habe eine SMS-Nachricht erhalten, worin ihm mitgeteilt worden sei, dass er aufgespürt und wie sein Vater getötet werde. Er habe drei oder voer solcher Nachrichten erhalten. Den Absender kenne er nicht.
3. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.09.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise gezielt gegen seine Person gerichteten Übergriffen von maßgeblicher Intensität ausgesetzt gewesen sei oder solchen Übergriffen im Fall einer Rückkehr in den Irak ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer habe den Irak vielmehr aufgrund der allgemeinen Situation verlassen.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers werde im Hinblick auf den Ausreisegrund als nicht glaubhaft erachtet. Der Beschwerdeführer habe lediglich abstrakte und unkonkrete Behauptungen aufgestellt, außerdem wären ihm Widersprüche im Hinblick auf die Erstbefragung zur Last zu legen. Die Darlegungen des Beschwerdeführers vor dem belangten Bundesamt hätten sich als vage und oberflächlich erwiesen, sodass daraus kein den Beschwerdeführer individuell betreffendes Geschehen glaubhaft abgeleitet werden könne.
Der Beschwerdeführer verfüge in Bagdad nach wie vor über nahe Verwandte sowie über Schulbildung und Berufserfahrung, sodass ihm eine Rückkehr möglich und zumutbar wäre.
4. Mit Verfahrensanordnungen vom 23.09.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 27.09.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise die Rückkehrentscheidung und den Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung aufzuheben und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 zu erteilen. Jedenfalls wird die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach neuerlicher Darlegung des aus seiner Sicht maßgeblichen Sachverhaltes vor, sein Vater sei für das Regime von Saddam Hussein tätig gewesen und deshalb nach dem Sturz des Regimes von bewaffneten Milizen ermordet worden. Der Beschwerdeführer sei vor der Ausreise Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen und es sei ihm deshalb Asyl zu gewähren, zumal er als sunnitischer Araber keine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen könne. Sein Vorbringen erachte er als detailliert und hinreichend substantiiert, in sich schlüssig und mit den Feststellungen zur Lage im Irak als vereinbar, sodass er eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat erfolgreich glaubhaft gemacht habe.
6. Die Beschwerdevorlage langte am 10.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
7. Zur Vorbereitung der für den 07.06.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.05.2019 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
8. Am 24.05.2019 übermittelte der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung dem Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerdeergänzung, wonach er seit einem Jahr in einer homosexuellen Partnerschaft lebe und zum Beweis dafür die zeugenschaftliche Einvernahme seines Partners begehren würde.
Das Bundesverwaltungsgericht veranlasste in der Folge die Ladung des beantragten Zeugen.
9. Am 07.06.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, eines Vertreters des belangten Bundesamtes und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Darüber hinaus wurde der vom Beschwerdeführer beantragte Zeuge einvernommen.
Der Beschwerdeführer brachte bei der Verhandlung erstmals vor, dass er "auf den Rücken gefallen sei", er habe sich einer Operation unterziehen müssen, da er sich dabei die Wirbelsäule gebrochen habe. Aus den dazu vorgelegten Befunden ging hervor, dass der Beschwerdeführer am 29.07.2018 von der Reichsbrücke in die Donau sprang und sich dabei eine Wirbelkörperfraktur zuzog. Zum Grund des Sprungs befragt legte der Beschwerdeführer dar, dass andere Personen ebenfalls gesprungen wären und er das nachahmen habe wollen.
Hinsichtlich der gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde wurde das Beschwerdeverfahren vom Bundesverwaltungsgericht nach der Befragung des Beschwerdeführers als entscheidungsreif erachtet und im Anschluss an die mündliche Verhandlung die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.09.2017, Zl. 1073509000-150673016, erhobene Beschwerde mit mündlich verkündetem Teilerkenntnis als unbegründet abgewiesen.
Aufgrund des Vorbringens zu den aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wurden darüber hinaus die Bestellung eines Sachverständigen angekündigt.
10. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.06.2019 wurde XXXX , allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens zum aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt.
Das Gutachten langte am 26.11.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.11.2019 wurden das Gutachten des Sachverständigen XXXX und aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak dem Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
Der Beschwerdeführer ließ die Stellungnahmefrist ungenutzt verstreichen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Bagdad geboren. Im Kindesalter übersiedelte er mit seiner Familie in die Stadt XXXX im Gouvernement XXXX . Zuletzt lebte der Beschwerdeführer vor der Ausreise in Bagdad in einem Haus im Eigentum seines Onkels im Bezirk XXXX . Der Beschwerdeführer ist Moslem und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer ist - von den unter Punkt 1.2. näher dargestellten Folgen einer Wirbelsäulenverletzung aufgrund eines Sprungs von der Reichsbrücke in die Donau abgesehen - gesund, er steht nicht in medizinischer Behandlung und nimmt keine Medikamente ein.
Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule im Ausmaß von neun Jahren und erlernte anschließend den Beruf des Elektrikers.
Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben. Seine Mutter lebt mit ihrem zweiten Ehemann und den zwei Halbbrüdern des Beschwerdeführers in Bagdad. Ihr zweiter Ehemann ist als Autohändler erwerbstätig, die Halbbrüder des Beschwerdeführers sind Schüler.
Am 05.10.2014 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal im Luftweg in die Türkei und gelangte in der Folge nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Türkei schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 15.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Der Beschwerdeführer sprang am 29.07.2018 (nicht in suizidaler Absicht, sondern um andere Personen nachzuahmen) von der Reichsbrücke in die Donau. Er erlitt dabei einen Kompressionsbruch des Wirbelkörpers BWK 11 und BWK 12 sowie einen Bruch des Brustbeines. Neurologische Ausfälle traten nicht auf. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge unfallchirurgisch versorgt und absolvierte eine Physiotherapie. Aufgrund des Lebensalters des Beschwerdeführers ist davon auszugehen, dass nach längstens sechs Monaten eine vollständige Verheilung der Brüche eintrat. Die vom Beschwerdeführer als erforderlich dargestellte weitere Operation zur Entfernung von Schrauben ist aus wirbelsäulenchirurgischer Sicht nicht notwendig.
Der gesundheitliche Allgemeinzustand des Beschwerdeführers ist gut. Er leidet derzeit noch an einer minimalen überlastungsabhängigen Schmerzsymptomatik, die auf Bewegungseinschränkungen durch Schonhaltung zurückzuführen sind. Die Bewegungseinschränkungen werden sich durch Physiotherapie oder den normalen Verlauf der Zeit von selbst weiter bessern.
Der Beschwerdeführer leidet unter keinen Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen. Eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ist bis zu einem Jahr nach Ausheilung der Fraktur möglich und derzeit noch gegeben. Der Beschwerdeführer bedarf keiner weiteren medizinischen Behandlung und ist jedenfalls nicht dauerhaft behandlungsbedürftig. Eine Überstellung des Beschwerdeführers in den Irak ist aus medizinischer Sicht folgenlos möglich und nicht mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes und schon gar nicht mit einem lebensbedrohlichen Zustand verbunden.
1.3. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner arabischen Volksgruppenzugehörigkeit und seines sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.
Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise keinen Drohungen der schiitischen Badr-Miliz ausgesetzt. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat dort einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund seines Bekenntnisses zum sunnitischen Islam ausgesetzt. Ihm droht auch keine Zwangsrekrutierung durch bewaffnete paramilitärische Gruppierungen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer homosexuell orientiert ist und ihm deshalb im Rückkehrfall eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt drohen würde.
Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.06.2019 rechtskräftig abgewiesen und seitens des Beschwerdeführers innerhalb der dafür vorgehenden Frist keine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Teilerkenntnisses beantragt.
1.4. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
1.5. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit im Herkunftsstaat erworbener grundlegender Schulbildung und Berufserfahrung als Elektriker. Seine Arbeitsfähigkeit ist derzeit noch eingeschränkt, die Einschränkung stellt sich jedoch als abnehmend dar und wird im ersten Quartal 2020 vollständig entfallen.
Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion in Gestalt seiner dort lebenden Mutter und seiner Halbbrüder. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
1.6. Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente (Personalausweis, Staatsbürgerschaftsnachweis) im Original.
1.7. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 15.06.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist seither durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war zunächst in provisorischen Unterkünften für Asylwerber des Bundes untergebracht, ehe er am 23.11.2015 eine Unterkunft für Asylwerber in der Gemeinde XXXX bezog. Seit dem 01.04.2016 lebt der Beschwerdeführer in der Bundeshauptstadt Wien in wechselnden privaten Unterkünften und bezieht dort Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.
Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet bislang nicht legal erwerbstätig und verrichtete auch keine gemeinnützigen Tätigkeiten. Er hat keine Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt in Aussicht.
Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse auf einem nicht feststellbaren Niveau im Jahr 2019. Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache legte er nicht ab. Der Beschwerdeführer verfügt aufgrund der Dauer seines Aufenthaltes über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache.
Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und hat in Österreich keine Verwandten. Er pflegt normale soziale Kontakte zu seinem Freundeskreis und ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar.
1.8. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.9. Zur gegenwärtigen Lage im Gouvernement Bagdad werden folgende Feststellungen getroffen:
Das Gouvernement Bagdad ist das mit ca. 4.555 km² flächenmäßig kleinste Gouvernement des Landes und beherbergt die gleichnamige irakische Hauptstadt Bagdad. In Bagdad lebten 2018 offiziell schätzungsweise 8,1 Millionen Menschen. Obwohl Bagdad das kleinste Gouvernement im Irak ist, hat es die höchste Einwohnerzahl von allen Gouvernements. 87% der Bevölkerung des Gouvernements leben in der Stadt Bagdad selbst. Die Hauptstadt ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt die stark geschützte grüne Zone.
Die Stadt Bagdad ist in neun Verwaltungsbezirke gegliedert: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rasafa und 9 Nissan ('new Baghdad'). Die restliche Fläche des Gouvernements beherbergt die Verwaltungsbezirke Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib, die den sogenannten "Bagdad Belt" bilden und die Vororte beherbergen.
Gouvernement und Stadt Bagdad weisen eine gemischte Bevölkerung aus Schiiten und Sunniten mit einer geringeren Anzahl christlicher Gemeinschaften auf. Während die meisten Stadtteile in Bagdad in der Vergangenheit von einer Mischung aus Sunniten und Schiiten bewohnt waren, führte die gewaltsame Säuberung im Zuge der konfessionellen Konflikte insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 dazu, dass die Stadt viel stärker religiös geteilt und von den Schiiten dominiert zu sein scheint (siehe dazu im Detail unten 1.10 "Lage von sunnitischen Arabern in Bagdad").
Die Einheiten der irakischen Armee in Bagdad unterstehen Führung des Baghdad Operations Command (BOC), das in zwei Gebiete unterteilt ist, das Karkh Area Command und das Rusafa Area Command. Die Special Forces Division (SFD) des Premierministers ist für die Sicherheit in der grünen Zone und den Schutz des Premierministers verantwortlich und kann vom Verteidigungsministerium, dem BOC, dem Joint Operations Command (JOC) sowie dem Premierminister selbst eingesetzt werden. Die SDF wird auch für Sicherungsaufgaben in Bagdad herangezogen, insbesondere während der schiitischen Pilgerreisen.
Dem Karkh Area Command untersteht die 6. irakische Armeedivision mit verschiedenen Brigaden, die in und außerhalb der Stadt stationiert sind. Die dem Rusafa Area Command unterstehende 9. Irakische Armeedivision ist derzeit nicht in Bagdad stationiert. Die Bundespolizei des irakischen Innenministeriums ist in Bagdad durch drei Bundespolizeidivisionen vertreten. Die 1. Federal Police Division sichert die südwestliche, westliche und südöstliche Kanalzone von Bagdad. Die 2. Federal Police Division, die einzige mechanisierte Division der Bundespolizei in Bagdad, wird hauptsächlich zur Terrorismusbekämpfung in Bagdad und den Bagdad-Belts, zur Sicherung von Pilgerwegen und zu Aufgaben in Zusammenhang mit der Strafverfolgung herangezogen. Die 4. Federal Police Division deckte das südliche Bagdad und Gebiete südlich der Hauptstadt ab und betreibt das Gefängnis in Karkh. Ergänzend steht westlich von Bagdad die 3. Brigade der Emergency Response Division (ERD) zur Verfügung. Die Stadt Bagdad und die Vororte werden grundsätzlich von den irakischen Behörden kontrolliert. In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsaufgaben mit den schiitisch dominierten Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-hashd al-sha'bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), was zu einer "unvollständigen" oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Für die Jahre 2014 und 2015 liegen Berichte vor, wonach Einheiten der PMF an Misshandlungen und Morden an Zivilisten und Sunniten im Zusammenhang mit Operationen gegen den Islamischen Staat in den Bagdad-Belts beteiligt waren.
Seit dem Eintritt der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Dezember 2017 gibt es in Bagdad und anderen Landesteilen weniger Angriffe des Islamischen Staates mit großer Breitenwirkung. Der Islamische Staat verfügt weiterhin über aktive Zellen im nördlichen und westlichen Bagdad-Belt, diese befinden sich jedoch erheblichen Verlusten im Jahr 2017 in einem inaktiven Zustand. Seit dem Jahr 2018 sind Bagdad und die Bagdad-Belts kein prioritäres Operationsgebiet des Islamischen Staates mehr und ist der Islamische Staat nicht mehr für den überwiegenden Teil der Gewalttätigkeiten in der irakischen Hauptstadt verantwortlich. Die Möglichkeit, Anschläge auch im Zentrum der irakischen Hauptstadt zu verüben, dürfte nach wie vor gegeben sein, allerdings befindet sich die verbliebenen Anhänger des Islamischen Staates in einer Phase der Neuaufstellung.
Wenn der Islamische Staat die Verantwortung für Angriffe übernimmt, werden die Opfer entweder als "Abtrünnige" oder "Rafida" (eine abfällige Bezeichnung für schiitische Muslime) oder als bewaffnete Akteure bezeichnet, obwohl die Opfer möglicherweise Zivilisten sind. Der Islamische Staat übertreibt das häufig die Verluste, die seine Anschläge nach sich ziehen.
Die nachstehende Grafik zeigt, dass die Anzahl der zivilen Opfer von Gewaltakten in Bagdad in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber den Vorjahren signifikant gesunken ist und wieder das Niveau vor dem Erstarkten des Islamischen Staates erreicht hat (Anmerkung: Die Datenbank Iraq Body Count kommt zu abweichenden Werten, siehe dazu die weitere Grafik).
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Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Bagdad und Anzahl der Opfer nach der Datenbank Iraq Body Count, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.
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Die Verwaltungsbezirke mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu zivilen Todesfällen führten, waren im Jahr 2018 Adhamiya mit 78 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 94 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von Resafa (einschließlich Thawra 1 & 2) mit 77 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 161 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von und Mada'In mit 63 sicherheitsrelevanten Vorfällen, bei denen 69 Zivilisten ums Leben kamen. Die höchste Rate an Todesfällen pro 100.000 Einwohner) wurden im Vorort Tarmia (35,80) verzeichnet, gefolgt von Mada'in (15,91) und Adhamiya (8,25). Die meisten von der Iraq Body Count im Jahr 2018 im Gouvernement Bagdad erfassten Vorfälle betrafen Schießereien (46,4%), gefolgt von Morden ("executions") (30,6%) und die Verwendung improvisierter Sprengsätze (20,7%).
Dem Experten Michael Knights zufolge ereigneten sich in Bagdad 2018 die wenigsten Terroranschläge von -Jihadisten seit dem Jahr 2003. Anschläge des Islamischen Staates sind in der Stadt selbst "mehr oder weniger verschwunden", in den Bagdad-Belts sind die Anschläge des islamischen Staates zurückgegangen. Derzeit verhält sich der Islamische Staate in Bagdad und den Bagdad-Belts unauffällig und hat 2018 nicht viele Operationen durchgeführt. Wenn Angriffe verübt werden, handelt es sich meistens um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen. Der Islamische Staat ist wahrscheinlich nicht für den Großteil der Gewalt in Bagdad verantwortlich. Das Institute for the Study of War geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die derzeit registrierten Gewaltakte in Bagdad im Zusammenhang mit kriminellen und politischen Auseinandersetzungen (unter letztes fallen politische Einschüchterung, gezielte Attentate usw.) und nicht mit dem Islamischen Staat stehen. Auch der Experte Michael Knights geht davon aus, dass meisten Gewalttaten in Bagdad nicht dem Islamischen Staat zuzuschreiben sind. Quellen besagen, dass der Islamische Staat seine Aktivitäten derzeit nur im Bagdad-Belt und in den Randgebieten der angrenzenden Gouvernements entfaltet, anstatt in der Stadt selbst. Der Experte Joel Wing gab an, dass die gewalttätigsten Vorfälle mit improvisierten Sprengsätzen und Schießereien, die er aufzeichnete, Medienberichten zufolge im äußersten Norden und Süden von Bagdad und in geringerem Maße im Westen vorkommen. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass die intensiveren Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen im nördlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Bagdad (Kadhimiyah, Adahamyah) und im Vorort Tarmia (nördlich von Bagdad) verübt werden. Nur einige Vorfälle ereigneten sich in Bagdad westlich des Tigris - Karadah und Neu-Bagdad / al-Nissan und östlich des Tigris (Rusafa, Karkh, Rasheed und Mansour) sowie in Doura, jedoch in geringerer Intensität.
Das Institute for the Study of War kommt in seiner Analyse zum Ergebnis, dass "überwiegende Mehrheit" der Gewaltakte in Bagdad im Jahr 2018 "politische Gewalt" darstellte, die im Allgemeinen politische Einschüchterungen, bewaffnete Scharmützel und gezielte Morde unter Schiiten vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Wettbewerbs und der Regierungsbildung nach den Wahlen im Mai 2018 umfasste. In ähnlicher Weise erklärt der Experte Michael Knights, dass der Haupttrend bei der Gewalt in Bagdad darin besteht, dass es sich fast ausschließlich um persönliche, gezielte oder kriminelle Gewalt handelt, die in erster Linie den Einsatz von Kleinwaffen, Erpressung, Einschüchterung, improvisierte Sprengsätze oder Granaten, Schießereien, Raubüberfälle und andere Erscheinungsformen organisierter Kriminalität umfasst. Diese Aktivitäten dienen dem Experten zufolge in erster Linie der Einschüchterung und Gewalt gegen Zivilisten, um Geld zu verdienen, Zivilisten zu vertreiben, die als Außenseiter angesehen werden, oder um politische Gegner oder Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu vertreiben oder ist gegen Personen gerichtet, die aufgrund ihres Lebensstils oder ihrer vorherigen Beteiligung an Verbrechen oder bewaffneten Konflikten exponiert sind. Er erwähnte auch, dass die politischen Spaltungen unter den Schiiten derzeit einen Großteil der Gewalt in den schiitischen Gebieten von Bagdad und Basrah ausmachen.
Die Expertin Geraldine Chatelard hebt hervor, dass Milizen in Bagdad häufig von Sunniten und Minderheiten der Gewalt beschuldigt werden, Morddrohungen, Entführungen, gezielte Attentate oder die Übernahme von Gebäuden von rechtmäßigen Eigentümern verübt zu haben, dies unter Hinweis darauf, dass sogar Schiiten Opfer von Erpressung und Tötung geworden sind. Der Expterte Michael Knights weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Sunniten und Christen in erster Linie befürchten, von schiitischen Milizen in Bagdad erpresst oder entführt zu werden, jedoch Quellen davon berichteten, dass die Zuweisung der Verantwortung für bestimmte Angriffe zu bestimmten Täter in Bagdad schwierig ist und insbesondere Sprengstoff sowohl zu politischen als auch zu kriminellen Zwecken eingesetzt wird, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Den PMF-Milizen werden dabei "enge Verbindungen zu kriminellen Banden" zugeschrieben, die Unterscheidung zwischen beiden ist nicht immer klar.
Der Experte Michael Knights vertritt zur Sicherheitslage allgemein die Ansicht, dass in der Stadt Bagdad die Gebiete sicherer sind und weniger Raum für offene Gewalt wie z.B. improvisierte Sprengsätze oder Raubüberfälle bieten, in denen sich die irakischen Streitkräfte auf die Bewachung wichtiger Standorte konzentrieren - etwa die Verwaltungsbezirke Karkh, Doura und Mansour. Dort wo die irakischen Streitkräfte weniger dominant ist und bewaffnete Akteure wie kriminelle Banden und Milizen Revierkämpfe führen und um Einfluss konkrurrieren, ist die Sicherheitslage entsprechend angespannter, wie in Kadhimiyah, Jihad, Bayaa und Karadah. Er vertrat die Ansicht, dass die "schlimmsten Sicherheitsbereiche" in der Stadt Adhamiyah, New Bagdad und Sadr City seien.
Milizen sind auch in bewaffnete Zusammenstöße zwischen ihnen selbst und den regulären Sicherheitskräften verwickelt, die laut Michael Knights im Jahr 2018 im Zentrum der Hauptstadt und in östlich gelegenen Gebieten mehrmals stattfanden. Ein Vorfall zog mediale Aufmerksamkeit nach sich: Am 20. Juni 2018 stoppte die irakische Polizei ein Auto in der Innenstadt von Bagdad, das Angehörigen der von Iran unterstützten Miliz Kataib Hezbollah ("Hisbollah-Brigaden") gehörte. Ein Hisbollah-Konvoi mit fünf Fahrzeugen traf ein und begann auf die Polizei zu schießen, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem zwei Offiziere und ein Milizionär verletzt wurden. Die Polizei umzingelte daraufhin das Hauptquartier der Kataib Hezbollah, bis der Schütze der Polizei übergeben wurde. Der Vorfall spiegelt den möglichen Machtkampf zwischen irakischen Sicherheitskräften (Armee, Bundespolizei, örtliche Polizei) und PMF-Milizen wider.
EASO hat die folgenden sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2018 exemplarisch identifiziert:
Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Bomben
Bagdad wurde in der Vergangenheit vom Islamischen Staat wegen der Bevölkerungskonzentration bevorzugt angegriffen, da die großen Menschenansammlungen die Möglichkeit geboten haben, mit einem Bombenanschlag eine große Anzahl von Opfern zu treffen. 2018 sind solche Anschläge jedoch zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 verfolgte der Experte Michael Knights eine hohe Anzahl von Angriffen mit Hilfe von improvisierten Sprengsätzen auf Märkte und Geschäfte in Bagdad. Die Anzahl der Angriffe dieser Art ging jedoch im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zurück. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass ein in Bagdad im Jahr 2018 festgestellter charakteristischer Angriff des Islamischen Staates darin bestand, Sprengsätze gegen kleine Personenbusse einzusetzen, die jeweils etwa zehn Personen befördern und die in ganz Bagdad zum Straßenbild gehören. Diese Busse wurden im Islamischen Staat im Jahr 2018 mehrmals mit improvisierten Sprengsätzen angegriffen, was zwar nur minimale Verluste, aber Einschüchterungen der Zivilbevölkerung zur Folge hatte.
Noch im Januar 2018 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem überfüllten Tayran-Markt in Bagdad und töteten dabei mindestens 38 Menschen und verletzten bis zu 90 Menschen. Der Angriff schockierte die Bevölkerung von Bagdad, da er nach einem signifikanten Rückgang solcher Angriffe in Bagdad. Er wurde vom Guardian als der schwerste Angriff auf Bagdad seit der Erklärung des Sieges über den Islamischen Staat beschrieben. Beispiele für andere explosive Angriffe im Jahr 2018 sind die folgenden:
- In Rashidiya explodierte im Januar 2018 eine Bombe, ein Milizionär der PFM wurde getötet und zwei weitere wurden verletzt wurden.
- Am 23. Januar 2018 wurde ein Soldat getötet und zwei weitere verletzt, als eine irakische Militärpatrouille in Tarmiya nördlich von Bagdad von einer Straßenbombe getroffen wurde.
- Am 16. Mai 2018 wurden 5 Menschen getötet und 10 verletzt, als ein Selbstmordattentäter ein schiitisches Begräbnis in Tarmiya angriff.
- Am 23. Mai 2018 verübte der Islamische Staat einen Selbstmordanschlag in der Shula-Region, bei dem Angaben des Islamischen Staates zufolge 33 Menschen getötet und verletzt wurden. Die irakischen Medien berichteten demgegeneüber, dass vier Menschen getötet und 15 verletzt wurden.
- Der Islamische Staat meldete im August 2018 5 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen auf Kleinbusse in Bagdad in den Distrikten Amil, Shula, Turath und Baladiyat. 669 Zwei dieser Angriffe töteten und verletzten 12 schiitische Muslime.
- Im Juni 2018 wurden 17 Menschen bei einer Explosion eines Waffenlagers der Miliz von Muqtada al Sadr getötet und 80 verletzt. Berichten zufolge wurden die Waffen in einer Moschee aufbewahrt, die von Sadr-Anhängern benutzt wurde.
- Eine Explosion auf einem Markt in Sadr City am 14. August 2018 wurde von einer Quelle im Sicherheitsapparat auf kriminelle Gründe zurückgeführt. Dabei wurden drei Menschen getötet und vier verletzt.
- Ein improvisierter Sprengsatz, der auf Schiiten im Bezirk Jihad (West-Bagdad) abzielt, tötete Berichten zufolge im September 2018 vier Menschen in der Nähe eines Einkaufszentrums.
- Am 25. September 2018 wurde in den folgenden Bezirken eine Reihe von Explosionen gemeldet, die zu Opfern führten: Al Jadid (New Bagdad) östlich von Bagdad (1 Tote, 2 Verletzte), al Shaab nördlich von Bagdad (2 Tote) und al-Baayaa westlich von Bagdad (2 Tote) .Der Islamische Staat übernahm am 25. September 2018 die Verantwortung für fünf improvisierte Sprengsätze gegen Shula, Kadhimiyah (Nord-Bagdad), Shaab und Bataween (Rusafa), und den Bezirk Bayaa (Zentral-Bagdad), dabei wurden 3 Zivilisten getötet.
- Am 1. und 2. Oktober 2018 forderten zwei improvisierte Sprengsätze in Shaab und Al Jadid einen Toten und mehrere Verwundete. Dem Islamischen Staat zufolge sei die Zahl der Opfer bei diesen beiden Angriffen viel höher gewesen und habe mehr als 50 Tote und Verwundete betragen.
- Am 7. Oktober 2018 wurden bei einer Reihe von Angriffen auf verschiedene Vororte in Bagdad (Abu Dshir, 17 km südlich von Bagdad, Abu Ghraib, 44 km westlich von Bagdad und im Norden von Bagdad) vier Personen getötet und fünf verletzt.
- Am 4. November 2018 wurden bei einer Serie von fünf improvisiertem Sprengsätzen in verschiedenen Gebieten des Gouvernements 8 Personen getötet und 14 verletzt. Eine andere Quelle berichtete von 7 Toten und 16 Verletzten. Der Islamische Staat behauptete jedoch, es seien bei den von ihm verübten Anschlägen mehr als 50 Opfer zu beklagen gewesen.
Beispiele für bewaffnete Zusammenstöße im Jahr 2018 sind die folgenden:
- Unbekannte bewaffnete Personen eröffneten das Feuer im Stadtteil Jihad im Westen von Bagdad und töteten im Januar 2018 einen lokalen Bürgermeister.
- Der Islamische Staat ermordete 8 Zivilisten bei einem Angriff auf den Vorort Tarmia im Mai 2018; die Opfer stellten Werbung für die Parlamentswahl auf; der Islamische Staat bezeichnete sie als Mitglieder einer Stammesmiliz.
- Bei einem weiteren, nächtlichen Angriff des Islamischen Staates auf den Vorort Tarmia Anfang Mai 2018 wurden 21 Mitglieder eines lokalen Stammes (18 Männer, 2 Frauen und ein Kind) getötet. Sämtliche Opfer waren Mitglieder des Albu-Faraj-Stammes, der ein überzeugter Gegner des Islamische Staates in der Region ist. Die Mitglieder sind Teil der lokalen sunnitischen Miliz und der PMF, die zur Verteidigung gegen des Islamischen Staat gegründet wurden. Die Angreifer des Islamischen Staates trugen Armeeuniformen und gingen zunächst gegen einen Anwalt vor, von dem bekannt war, dass er Opfern des Islamischen Staates half, und töteten ihn in seinem Haus. Als andere Dorfbewohner kamen, um zu helfen, eröffneten sie das Feuer, töteten und verletzten sie und zogen sich zurück, bevor die Armee eintraf, um sie zu fassen.
In Bagdad gab es mehrere Morde an Persönlichkeiten, die in sozialen Medien bekannt geworden waren, ohne dass die Täter identifiziert und einer bestimmten Gruppierung zugeordnet werden konnten.
- Tara Fares, bekannt aus Instagram, die in den sozialen Medien über persönliche Freiheit berichtet, wurde am 27. September 2018. in Bagdad erschossen, als sie in ihrem Porsche fuhr.
- Im Jahr 2017 wurde Karar Nushi, ein männliches Model, das Morddrohungen wegen seiner langen Haare und seiner engen Kleidung erhalten hatte, in der Palästina-Straße erstochen aufgefunden, wobei sein Körper Anzeichen von Folter zeigte.
- Hammoudi al-Meteiry, ein 15-jähriger und als "König von Instagram" bezeichneter Jugendlicher, der Berichten zufolge wegen seiner Homosexualität von unbekannten Tätern getötet wurde.
Der Islamische Staat gab bekannt, Scheichs und Stammesführer angegriffen zu haben, die die Parlamentswahlen im Mai 2018 unterstützten. Im Mai 2018 behauptete der Islamische Staat, er habe das Haus eines wahlfördernden Stammesführers mit einer Bombe angegriffen zu haben; es ist unklar, ob diese dabei getötet wurde. Folgende weiteren Angriffe wurden dem Islamischen Staat zugeschrieben:
- Am 27. Februar 2018 wurden vier Mitglieder der Sahwa-Bewegung von unbekannten Tätern im Norden Bagdads erschossen. Einer wurde getötet, die anderen drei verwundet.
- Am 1. März 2018 wurde ein ehemaliger Beamter der Sahwa-Bewegung durch eine Bombe in Bagdad getötet.
- Am 29. April 2018 wurde ein Führer der PMF, Qassim Al-Zubaidi, bei einem Attentat in der Innenstadt von Bagdad verletzt. Stunden zuvor wurde ein Wahlkandidat der Rechtsstaat-Koalition nördlich von Bagdad getötet.
- Am 22. Juni 2018 gab der Islamische Staat bekannt, einen Stammesführer in al-Zour in der Nähe von Tarmia nördlich der Hauptstadt getötet zu haben, weil er die Parlamentswahlen unterstützt hatte.
- Am 8. Juli 2018 wurden ein Kommandeur der Stammesmiliz und einer seiner Begleiter bei einem Bombenangriff in Nordbagdad verwundet.
- Am 19. Juli 2018 wurde ein Angehöriger der Sicherheitskräfte bei einem Angriff mit einer auf der Straße platzierten Bombe auf ihn in Tarmia im Norden von Bagdad verwundet.
- Am 2. August 2018 wurde mit einer am Straßenrand platzierten Bombe ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte in der Region Sabaa al-Bour nördlich von Bagdad angegriffen. Eine Person wurde getötet, eine andere verletzt.
Im Januar 2018 erklärte der Direktor des Medienbüros des BOC, dass die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt Fortschritte in Bezug auf das Sammeln von Informationen über den Islamischen Staat gemacht hätten und dass sich Militäreinsätze im Bagdader Gürtel positiv auf die Sicherheitslage ausgewirkt hätten. Der Direktor kündigte ferner den Bau eines Sicherheitszauns um Bagdad mit Sicherheitstoren an, um Aufständische daran zu hindern, in die Stadt einzusickern.
Dem Institute für the Study of War zufolge hat sich BOC im vergangenen Jahr auf die Bagdad-Belts konzentriert, was zu dem Rückgang der Angriffe in Bagdad beigetragen hat. Im Allgemeinen sei es den Sicherheitskräften gelungen, die Rückkehr weitverbreiteter Gewalt nach Bagdad im Jahr 2018 zu verhindern. Dieser Erfolg zeigt sich in der allgemeinen Abnahme von Gewaltereignissen im vergangenen Jahr. Politische Gewalt stelle nach wie vor die größte Herausforderung dar, dazu komme Destabilisierung angesichts der anhaltenden Blockade der neuen irakischen Regierung unter dem irakischen Premierminister Adel Abdul-Mahdi. Die PMF und andere lokale Sicherheitskräfte in Bagdad würden häufig eher auf politische Akteure reagieren, als auf den institutionellen staatlichen Sicherheitsapparat.
Die Expertin Geraldine Chatelard erklärt, dass die Wirksamkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung vor verschiedenen Formen von Gewalt vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängen kann. Schutzbemühungen werden durch die Situation vor Ort untergraben, in der PMF-Milizen auf Befehl ihrer eigenen Kommandos handeln und nicht der irakischen Regierung, weil sie verschiedenen politischen Anwärtern oder iranischen Gönnern gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Die Regierung könne Erscheinungen von "Gesetzlosigkeit und Kriminalität" seitens der Milizen derzeit nicht wirksam begegnen. Der Experte Michael Knights geht davon aus, dass Gesetzesverstöße von Milizen auch derzeit folgenlos bleiben. Landinfo schätzt die Lage in Bagdad so ein, dass Milizen weiterhin Bewegungsfreiheit zukommt und sie über Verbindungen zur Polizei verfügen und an Kontrolle, Verhaftung, Bestrafung bzw. Entführung von Personen ebenso beteiligt sind, wie an anderweitigen an kriminellen Aktivitäten. In den Bagdad-Belts haben die Milizen mehr Handlungsspielraum, dort können sie den Einheimischen das Recht verweigern, in ihre Häuser zurückzukehren. Die PMF-Milizen sind dessen ungeachtet populär und haben sowohl formelle als auch informelle Macht. Sie konzentrieren sich auch auf den Wiederaufbau. In Bagdad wurde etwa ihre Rolle beim Wiederaufbau einer medizinischen Klinik beworben. Manchmal wenden sich die Einheimischen, auch in Bagdad, an die Milizen der Nachbarschaft, anstatt an die Polizei, um Gerechtigkeit zu suchen.
Michael Knights zufolge gibt es eine große Konzentration von Sicherheitskräften, einschließlich der in Bagdad stationierten Armee, die seiner Ansicht nach angemessen und aktiv geführt werden und über adäquate Beratung und nachrichtendienstliche Unterstützung verfügen. Die Androhung bzw. Zufügung von Gewalt in Bagdad erfolge derzeit eher "persönlich und gezielt" und weniger "situativ" (Anwesenheit am falschen Ort / zum falschen Zeitpunkt). Das Institute for the Study of War erklärte, dass Milizen in Bagdad in einem gewaltsamen Wettbewerb um territoriale Präsenz und Territorium, Bevölkerung und politischen Einfluss stehen. Viele ihrer politischen Machthaber wurden im Mai 2018 in das irakische Parlament bzw. die Regierung gewählt.
Checkpoints in Bagdad werden dazu verwendet, um sicherzustellen, dass Autobomben und Selbstmordattentäter nicht in die Stadt eindringen. Dem Experten Fanar Haddad zufolge betreiben PMF-Milizen keine regulären Checkpoints in der Stadt Bagdad, richten solche bei Zwischenfällen aber ad hoc ein. In den Bagdad-Belts gibt es demgegenüber sichtbare PMF-Präsenz und PMF-Kontrollpunkte Eine ähnliche Ansicht vertrat ein im Irak ansässiger Sicherheitsanalytiker, der erklärte, dass sich die von PMF-Milizen betriebenen Kontrollpunkte hauptsächlich am Stadtrand von Bagdad befinden und nicht in der Stadt selbst, wobei an Kontrollpunkten im Osten der Stadt PMF-Elemente gemeldet wurden. Es sei für die PMF-Milizen möglich, temporäre Kontrollpunkte einzurichten, um auf bestimmte Probleme in den Stadtteilen von Bagdad zu reagieren. Im Januar 2018 teilte der Mediendirektor der BOC der Zeitung Asharq Al-Awsat mit, dass 281 Kontrollpunkte in Bagdad aufgehoben wurden, mindestens 600 Hauptstraßen und Ausgänge und ihre Vororte wiedereröffnet und am 10. Dezember 2018 Tausende Betonblöcke entfernt wurden. Im Jahr 2018 wurde außerdem die befestigte Internationale Zone (grüne Zone) in der Innenstadt für die Öffentlichkeit geöffnet. Dies ist die erste Wiedereröffnung nach Jahren. Im Jahr 2015 hatte die Regierung die grüne Zone für ein paar Tage geöffnet, aber nach Widerstand von US-Beamten wieder geschlossen.
1.10. Zur Rekrutierung von Kämpfern durch schiitische Milizen im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:
Die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Front, PMF, arabisch: al-Haschd al-Schaabi) unterhalten eine eigene Website in arabischer Sprache, auf der unter anderem über die militärischen Erfolge der PMF beim Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) berichtet wird. Auf dieser Website finden sich eine Vielzahl von Artikeln über die Verpflichtung Freiwilliger in den PMF. Die jüngsten Artikel beziehen sich dabei besonders auf den Anschluss Freiwilliger in der Provinz Ninawa zur Teilnahme an der Befreiung der Stadt Mossul. Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen im Irak sind grundsätzlich möglich. Familien von Binnenvertriebenen werden zum Teil nur durch einen Checkpoint gelassen, wenn sich die erwachsenen Männer bereit erklären, sich den paramilitärischen Einheiten der al-Haschd al-Schaabi anzuschließen. Es wird berichtet, dass bei einer Weigerung damit gedroht werde, die Binnenflüchtlinge in ihre Heimatprovinzen zurückzuschicken. UNHCR berichtet in einer wöchentlichen Aktualisierung zum Thema Schutz in Mossul vom Jänner 2017, dass die Organisation mit Sorge Vorwürfe der Zwangsrekrutierung von Männern und auch von Minderjährigen in gerade befreiten Gebieten der Stadt Mossul vermerkt habe. Es sei ebenfalls berichtet worden, dass Personen, die aus dem östlichen Teil der Stadt fliehen würden, von Stammesmilizen dazu gezwungen würden, zur Militäroffensive beizutragen, indem sie Mahlzeiten vorbereiten, Waffen transportieren oder selbst zu den Waffen greifen müssten. Binnenflüchtlinge würden Berichten zufolge Gefahr laufen, der Verbindung zu bewaffneten Gruppen beschuldigt zu werden, wenn sie es ablehnen oder nur zögerlich mitmachen würden. Ein männlicher "Freiwilliger" pro Familie würde die Familie Berichten zufolge vom Vorwurf freisprechen, einer bewaffneten Gruppe anzugehören. Bei den Binnenflüchtlingen handelt es sich oft um Sunniten oder um Angehörige religiöser Minderheiten wie den Schabak. Zu anders motivierten Fällen von Zwangsrekrutierung liegen indes keine Informationen vor.
Carnegie Endowment for International Peace (CEIP), ein globales Netzwerk von Think Tanks zum Thema Politikforschung und Förderung des Friedens mit Hauptsitz in den USA, berichtet in einem Artikel vom Februar 2016, dass es bei schiitischen Milizen keine offizielle Wehrpflicht/Zwangsrekrutierung gibt, obwohl die große Anzahl an Rekrutierten dies vermuten lassen würde. Viele irakische Schiiten würden sich statt beim irakischen Militär paramilitärischen Einheiten unter dem Schirm der Volksverteidigungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) anschließen würden, die die größte Bodentruppe im Kampf gegen die Gruppe Islamischer Staat (IS) stellen würden. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage habe ergeben, dass 99 Prozent der irakischen Schiiten die PMF beim Kampf gegen den IS unterstützen würden. Daher gebe es eine erhebliche Anzahl von Rekruten, die sich beeilen würden, sich den PMF anzuschließen. Laut Angaben mehrerer sachkundiger Quellen in Bagdad hätten sich mehr als 75 Prozent der in mehrheitlich schiitischen Provinzen lebenden Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren bei den PMF gemeldet. Obwohl die meisten dieser Rekruten Reservisten seien, die nicht kämpfen würden, zeige diese Anzahl doch den Rückhalt der PMF in diesen Gebieten. Die hohe Anzahl von Rekruten würde normalerweise auf eine Form von Wehrpflicht hindeuten. Jedoch gebe es keine formale Pflichtrekrutierung. Die PMF würden sich stattdessen nach der Fatwa des religiösen Führers Ayatollah Sistani richten, die die Rekrutierung sehr vorsichtig auf so viele Rekruten beschränke, die notwendig seien, um den IS zu bekämpfen. Ein Rekrutierungsbeamter der PMF in Nadschaf habe indes angegeben, dass sich mehr als genug Rekruten gemeldet hätten. Sie hätten keine Probleme damit, Mitglieder unterschiedlichen sozialen Hintergrunds und aus verschiedenen geographischen Regionen zu gewinnen. Seinen Angaben nach seien Studenten die einzige erkennbare Gruppe, die nicht den PMF beitreten würden.
Schiitische Milizen rekrutieren aktiv neue Mitglieder, obwohl die Milizen an sich sehr beliebt sind und keine Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Kämpfer bestehen. Eine große Rolle bei der Rekrutierung spielt die religiöse Komponente. Nach dem Aufruf des einflussreichen schiitischen Geistlichen Ayatollah Sistani, meldeten sich unzählige Freiwillige zum Kampf gegen den IS. Die Rekrutierung erfolgt außerdem Großteils in Moscheen und auch im Internet bzw. in Sozialen Medien. Erwähnenswert ist auch der gesellschaftliche Druck, welcher von der Familie oder sogar von Behörden ausgeht, sich am Kampf gegen den IS zu beteiligen. Neben der religiösen Motivation, sich den schiitischen Milizen anzuschließen, gibt es noch die finanzielle Motivation. Schiitische Kämpfer verdienen einigen Quellen zufolge mehr als in der irakischen Armee; andere Quellen sprechen von weitaus niedrigeren Summen oder von fehlender Bezahlung. Oftmals werden Minderjährige für den Kampf gegen den IS rekrutiert.
Das Counter Extremism Project (CEP), eine unabhängige politische Organisation zur Bekämpfung extremistischer Ideologien und deren Finanzierung mit Sitz in London, erwähnt in einer vermutlich im März 2017 aktualisierten Übersicht zur pro-iranischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq (AAH) die Rekrutierungspraktiken dieser Miliz. In Bezugnahme auf verschiedene Quellen zumeist aus den Jahren 2014 und 2015 schreibt CEP, dass die Rekrutierungsstrategie von AAH auf zwei Strategien fuße: traditionelle Propaganda, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen sowie ein umfassendes religiöses System mit dem Ziel, Mitglieder zu indoktrinieren und zu rekrutieren. AAH habe Gruppen wie den IS dahingehend imitiert, dass soziale Medien genutzt würden, um die Rekrutierung über den Nahen Osten, Südasien und den Westen auszudehnen. Der irakische Fernsehsender al-Aahd gehöre der Miliz.
Eine der meistgenützten Methoden der AAH zur Gewinnung von Rekruten sei es, sich als Beschützer der schiitischen Gemeinschaft im Irak und im Ausland darzustellen. Sie hänge Poster auf und sende Rekrutierungsaufrufe auf irakischen Fernsehsendern, wobei häufig die Verbindungen mit dem Iran und der (libanesischen) Hisbollah betont würden. Ein Mitglied von AAH habe angegeben, dass er sich bei AAH gemeldet habe, da die Miliz "die schiitische Gemeinschaft im Irak und im Ausland schützen würde". In der Vergangenheit habe insbesondere die Möglichkeit, mit AAH nach Syrien zu ziehen und das Sajjida-Zainab-Heiligtum in er Nähe von Damaskus zu verteidigen, Iraker mobilisiert, sich AAH anzuschließen. Die Gruppe habe Wohnhäuser und Büros in Bagdad in Beschlag genommen, um Rekrutierungszentren zu eröffnen, wo sich Freiwillige melden könnten, um sich den bereits in Syrien kämpfenden Schiiten anzuschließen. Im Südirak würden Poster Männer dazu auffordern, sich mit weiteren irakischen Schiiten dem Kampf in Syrien anzuschließen. Auf den Postern sei eine Telefonnummer angeführt, die man zu diesem Zweck anrufen könne. Im August 2012 habe AAH eine Poster-Kampagne durchgeführt, bei der mehr als 20.000 Poster mit dem Logo der Gruppe und Fotos unter anderem des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei aufgehängt worden seien.
Die zweite umfassendere Schiene der Rekrutierung sei religiöser Aktivismus und ein eigenes Bildungssystem. Die Gruppe benutze insbesondere zwei Moscheen, die Sabatayn-Moschee in Bagdad und die Abdullah al-Radiya-Moschee in al-Khalis als Zentren der Rekrutierung. Führende Mitglieder von AAH würden Predigten in diesen Moscheen abhalten und für eine soziale und religiöse Reform im Irak werben. Hiermit würden sie versuchen, die Anwesenden dazu zu bringen, der AAH-Mission beizutreten, sie zu finanzieren oder auf andere Weise beizutragen. AAH habe ihre Reichweite auch durch ein Netzwerk von religiösen Schulen, bekannt unter dem Namen "Siegel der Apostel", erweitert. Diese Schulen, die im ganzen Land verteilt seien, würden der Gruppe als Propaganda- und Rekrutierungseinrichtungen dienen. Genau wie in ihrer militärischen und politischen Struktur, versuche AAH die Hisbollah-Miliz auch dahingehend zu imitieren, indem sie soziale Programme für Witwen und Waisen umsetze. Die Rekrutierungsmaßnahmen der AAH würden zum Großteil vom Iran finanziert.
Ein Bericht von GSDRC (Governance-Social Development-Humanitarian-Conflict), einem Zusammenschluss von Forschungsinstituten, Think Tanks und Beratungsorganisationen zum Thema internationale Entwicklung, informiert darüber, dass es die religiöse Legitimität für die PMF (Popular Mobilization Forces, Volksmobilmachungskräfte) die Rekrutierung einfacher macht als für die irakische Armee.
Es lastet viel Druck auf den Menschen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Dieser hat unterschiedliche Gründe, zum Beispiel öffentlichen Druck, Druck auf Familien und sogar das Bildungsministerium. Es gibt Fälle, in denen Prüfungen verlegt wurden, damit junge Menschen gegen den IS kämpfen können. Außerdem wird es als heroischer Akt gesehen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Manche Quellen sprechen davon, dass Kämpfer der Volksmobilmachungskräfte besser bezahlt werden als Soldaten der irakischen Armee, andere sprechen davon, dass nur Kämpfer an der Front bezahlt werden, andere gehen davon aus, dass die Milizen Großteils keinen Lohn erhalten. Es wird berichtet, dass die Volksmobilmachungskräfte auch Minderjährige rekrutieren.
Die US-amerikanische Online-Zeitung International Business Times (IBT) mit Sitz in New York beschreibt den Online-Rekrutierungsprozess schiitischer Milizen in einem Artikel vom Dezember 2015. Laut einem Forscher schiitischer Milizen an der Universität Maryland hätten schiitische Milizen eine noch ausgereiftere Methode als der IS, Leute mithilfe von Onlinemedien zu informieren und zu mobilisieren. Im Gegensatz zu Webseiten des IS auf Twitter und Facebook würde niemand die Seiten von schiitischen Milizen blockieren. Jedoch hätten die vom Iran unterstützen Milizen bereits Monate vor dem Fall der Stadt Mossul im Juni 2014 im Irak mithilfe einfacher technischer Mittel, zum Beispiel durch das Aufhängen von Postern oder Rekrutierungsaufrufen im Fernsehen, ihre lokale Reichweite ausgenutzt. Ein Analyst des Institute for the Study of War habe erwähnt, dass irakische Schiiten sich nur in die nächste Moschee begeben und dort zu fragen müssten, ob sie sich einer bestimmten Miliz anschließen könnten. Obwohl Online-Rekrutierung wichtig sei, würde sie nicht so stark benötigt wie bei anderen Gruppen, die weniger offen mit ihren Rekrutierungsmaßnahmen umgehen könnten. Schiitische Milizen seien in der Lage, vom Iran unterstützte Fernsehsender nutzen, um ihre Reichweite auszudehnen. Im Juni 2015 beispielsweise hätte die Miliz Kata'ib Hisbollah ihre Kontaktinformationen zwecks Rekrutierung auf al-Etejah, einem pro-iranischen Fernsehkanal, ausgestrahlt. Einen Monat später habe sie einen Spendenaufruf mit Angabe einer Bankverbindung schalten lassen, der auch in Teilen als ein Videoclip auf Youtube veröffentlicht worden sei, um mehr Spenden von außerhalb des Irak lebenden Schiiten zu erhalten.
Im Bericht zu einem vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) im April 2017 veranstalteten Meetings zu Herkunftslandinformationen äußert sich Belkis Wille, Irakzuständige bei Human Rights Watch, zur Frage, ob Fälle von Zwangsrekrutierung vonseiten der Milizen der Volksmobilisierung (Popular Mobilization Forces/Units, PMF/PMU) dokumentiert seien. Wille antwortet, dass bei schiitischen Milizen Zwangsrekrutierung extrem selten sei, mit vielleicht drei oder vier dokumentierten Fällen.
Quellen:
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26.07.2016 betreffend Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen
- ACCORD - Anfragebeantwortung zum Irak: (Zwangs-)Rekrutierung durch schiitische Milizen: Sunniten, Schiiten, spezifische Gruppen; Konsequenzen bei Entziehung einer Rekrutierung, 27.03.2017
- ACCORD - Anfragebeantwortung zum Irak: Rekrutierung von schiitischen Milizen (insb. Asaib Ahl al-Haqq), Konsequenzen bei Weigerung, 27.02.2019
1.11. Zur aktuellen Lage im Irak werden schließlich folgende (allgemeinen) Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Aktuelle Ereignisse
29.07.2019: Nach wie vor kommt es zu Zusammenstößen zwischen irakischen Sicherheitskräften und IS-Kämpfern. Laut Informationen aus Sicherheitskreisen vom 19.07.19 hat die zweite Phase der Anti-IS-Militäroffensive "Will of Victory" (vgl. BN v. 08.07.19) im Norden von Bagdad und den Provinzen Diyala, Salahaddin und Anbar begonnen.
Am 22.07.19 wurden 60 Personen bei einer Demonstration in Midhatiya in der Provinz Babil verhaftet. Sicherheitskräften zufolge war die Demonstration unangemeldet. Demonstranten versuchten dabei, das Verwaltungsgebäude zu stürmen. Laut lokalen Medienberichten handelt es sich um die fünfte Demonstration, die bessere Grundversorgung in Midhatiya einfordert.
12.08.2019: Am 04.08.19 wurde die Inhaberin eines Schönheitssalons in Bagdad getötet und eine Mitarbeiterin verletzt, als eine Sprengvorrichtung im Briefkasten des Salons explodierte. Auch in den Provinzen Anbar, Bagdad, Basra und Diyala kamen bei Explosionen von improvisierten Sprengvorrichtungen und Minen mehrere Zivilisten und Sicherheitskräfte ums Leben.
Am 05.08.19 begann die dritte Phase der Anti-IS-Militäroffensive "Will of Victory" (vgl. BN v. 29.07.19) in den Provinzen Diyala und Ninive. Die Volksmobilisierungsfront verkündete am 06.08.19 das erfolgreiche Ende der dritten Phase.
Am 10.08.19 brachen 15 des Drogenhandels Verdächtige aus dem Polizeigewahrsam (Polizeistation al-Russafa) in Bagdad aus. In einem Video der Überwachungskamera ist zu sehen, wie die Verdächtigen ohne offensichtlichen Widerstand der Sicherheitskräfte die Wache verlassen. Das Personal der Wache ist teils in Zivil gekleidet und unbewaffnet zu sehen. Acht der Verdächtigen wurden mittlerweile wieder gefasst. Medienberichten zufolge seien einige der Sic