Entscheidungsdatum
02.04.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W187 2174531-1/10E
W187 2174533-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX und 2. XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit Afghanistan, beide vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe gem. GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom jeweils XXXX , 1. XXXX und 2. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Das Ehepaar XXXX (in der Folge: Erstbeschwerdeführerin) und XXXX (in der Folge: Zweitbeschwerdeführer) reiste gemeinsam mit den zum Zeitpunkt der Einreise bereits volljährigen Söhnen XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) im Abstand von einigen Monaten getrennt unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein, wo die Erstbeschwerdeführerin am XXXX und der Zweitbeschwerdeführer am XXXX jeweils ihren Antrag auf internationalen Schutz stellten.
2. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden im Rahmen ihrer jeweiligen Erstbefragungen durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu ihren Identitäten, ihrer Reiseroute und ihren Fluchtgründen einvernommen. Dabei gaben sie übereinstimmend an, miteinander verheiratet und Eltern von zwei (gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin eingereisten) volljährigen Söhnen zu sein.
Die Erstbeschwerdeführerin gab im Rahmen ihrer Erstbefragung am XXXX an, am XXXX in XXXX in Afghanistan geboren sowie schiitische Moslemin zu sein. Als Beweggrund für die Ausreise führte sie an, dass ihr jüngerer Sohn, XXXX , in Afghanistan auf eine Mine getreten sei. Sein Fuß habe daraufhin amputiert werden müssen. Ihr älterer Sohn, XXXX , sei drogensüchtig und seelisch krank. Er gehe ohne Grund auf Menschen los und schlage diese. Ihr älterer Sohn sei nervlich fertig und unberechenbar. Die Erstbeschwerdeführerin selbst sei herzkrank. Die Erstbeschwerdeführerin sei mit ihren volljährigen Söhnen wegen der medizinischen Behandlung hier. Gefragt, was sie bei einer Rückkehr in ihre Heimat fürchte, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie Angst vor den Taliban habe.
Der Zweitbeschwerdeführer gab im Rahmen seiner Erstbefragung am XXXX an, am XXXX in XXXX in Afghanistan geboren sowie schiitischer Moslem zu sein. Als Beweggrund für die Ausreise gab er an, vor fünf Jahren habe in Herat Krieg zwischen der Regierung und den Taliban geherrscht. Sein Sohn sei auf eine Mine getreten und habe seinen Fuß verloren. In Afghanistan habe man seinem Sohn nicht helfen können. Die Familie habe ihn daher in den Iran gebracht, wo er mehrmals operiert worden sei. Drei Jahre lang seien sie immer wieder in den Iran für die Operationen und wieder zurück nach Afghanistan gereist. Irgendwann hätten sie sich das jedoch nicht mehr leisten können. Daraufhin habe die ganze Familie beschlossen, nach Europa zu gehen, damit man seinem Sohn helfen könne. In Afghanistan habe der Zweitbeschwerdeführer kein Leben mehr. Seine Familie sei in Österreich. Er wolle, dass seinem Sohn geholfen werde.
3. Mit Schreiben vom XXXX , XXXX und XXXX übermittelte die Erstbeschwerdeführerin der belangten Behörde ärztliche Unterlagen des XXXX , Abteilung für Innere Medizin, Onkologie, aus denen ersichtlich ist, dass die Erstbeschwerdeführerin an einem Mammakarzinom (Brustkrebs) leidet.
4. Am XXXX langte ein Arztbrief der Gruppenpraxis für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Dr. XXXX und Dr. XXXX vom XXXX betreffend die Erstbeschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Dem Arztbrief ist zu entnehmen, dass die Erstbeschwerdeführerin an einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion leide.
5. Am XXXX langte eine Vollmachtsbekanntgabe der Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH betreffend die Erstbeschwerdeführerin bei der belangten Behörde ein. In einem ersuchte die Rechtsvertretung der Erstbeschwerdeführerin um Übermittlung des Protokolls der Erstbefragung.
6. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen.
Die Erstbeschwerdeführerin gab hier zu ihrer Volksgruppenzugehörigkeit an, dass sie Tadschikin sei. Zu ihren Fluchtgründen führte die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst aus, ein Leben in Afghanistan sei wegen der Taliban und der Daesh nicht möglich gewesen. Einer ihrer Söhne, XXXX , sei in der Nähe ihres Hauses in Afghanistan auf eine Mine getreten. Ob die Mine bewusst in die Nähe ihres Hauses, etwa aus Feindschaft, gelegt worden sei, könne die Erstbeschwerdeführerin nicht sagen. Aufgrund dieses Vorfalls habe ihrem Sohn XXXX ein Beim amputiert werden müssen. Eine Behandlung sei in Afghanistan nicht möglich gewesen. Die Familie habe ihre Ersparnisse daher für die Behandlung des Sohnes im Iran aufgebraucht. Ihr anderer Sohn, XXXX , habe einen schlechten Umgang in Afghanistan gehabt und sei in Kontakt mit Drogen gekommen. Er sei stark süchtig gewesen, habe Haschisch geraucht und Opium konsumiert. Eine Behandlung oder Therapie für XXXX sei in Afghanistan nicht möglich gewesen. Er sei schwer süchtig und geistig nicht immer zu 100% anwesend. In Österreich befinde sich XXXX nun in Therapie. Die Erstbeschwerdeführerin selbst habe im Iran einen Herzanfall erlitten, als ihrem Sohn XXXX das Bein amputiert worden sei. Im Iran sei sie dann vor ungefähr fünf Jahren operiert worden und habe nach der Operation Medikamente bekommen. Der Hauptfluchtgrund der Erstbeschwerdeführerin sei die Hoffnung auf medizinische Hilfe für ihre Kinder gewesen. Zudem habe sie sich in Afghanistan als Frau wie ein eingesperrter Vogel gefühlt. Sie habe weder alleine einkaufen gehen können, noch ihre Familienmitglieder alleine aufsuchen dürfen. Sie sei wie eine Haushälterin zu Hause gehalten worden. In Österreich könne sich als Frau hingegen frei bewegen. Außerdem habe die Erstbeschwerdeführerin Angst vor den Taliban, da sie beinahe täglich gehört habe, sie würden junge Menschen entführen und umbringen. Persönlich sei die Erstbeschwerdeführerin jedoch nicht durch die Taliban bedroht gewesen.
Der Zweitbeschwerdeführer führte zunächst aus, dass er der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Er sei gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin und den beiden volljährigen Söhnen ausgereist. An der iranisch-türkischen Grenze sei er jedoch von seiner Familie getrennt worden. Aus diesem Grund sei der Zweitbeschwerdeführer nach der Erstbeschwerdeführerin in Österreich eingereist. Zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst an, dass in ihrer Gegend Minen verlegt gewesen seien. Auch vor das Haus der Familie sei eine Mine gelegt worden. Einer seiner Söhne, XXXX , habe sich durch diese Mine verletzt und sein Bein verloren. Die Familie habe dies zur Anzeige gebracht, es habe sich aber nicht herausgestellt, ob es sich um einen gezielten Angriff auf die Familie gehandelt habe. In der Umgebung hätten sich einige Minen befunden. Sein anderer Sohn, XXXX , sei in Kontakt mit Drogen gekommen und habe dadurch psychische Probleme gehabt. Vor seinem Drogenkonsum sei XXXX normal und gesund gewesen. Nach der Verletzung seines Bruders habe sich der Zustand von XXXX weiter verschlechtert. In Afghanistan herrsche allgemein Unsicherheit. Insgesamt habe in Afghanistan Gefahr für das Leben und für die Zukunft der Söhne bestanden. Die Familie habe Angst vor dem Krieg, vor den Auseinandersetzungen, den Minen und allgemein davor, dass ihnen etwas passieren könne. Einer persönlichen Bedrohung sei der Zweitbeschwerdeführer in Afghanistan nicht ausgesetzt gewesen.
7. Mit den gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom jeweils XXXX wurden die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt II. dieser Bescheide wurde den Beschwerdeführern gemäß § 8 Abs 1 AsylG (Erstbeschwerdeführerin) bzw. gemäß § 8 Abs 1 iVm § 34 Abs 3 AsylG (Zweitbeschwerdeführer) der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Unter Spruchpunkt III. wurde den Beschwerdeführern gemäß § 8 Abs 4 AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX erteilt.
Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde den Beschwerdeführern amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
8. Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführer, beide vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, mit Schreiben vom XXXX gemeinsam mit ihren volljährigen Söhnen fristgerecht Beschwerde wegen Verletzung der einfachgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG, auf Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens (§§ 37 ff AVG) und auf klare Begründung des Bescheids (§ 58 Abs 2 iVm § 60 AVG) sowie wegen Verstoßes gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht von willkürlichem Handeln der Behörde in Form von qualifizierter Rechtswidrigkeit betroffen zu sein (Art I ff BVG Rassendiskriminierung), und wegen Verstoßes gegen Art 2, 3 und 8 EMRK.
9. Die Beschwerde und die dazugehörigen Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem beantragte die belangte Behörde die Abweisung der Beschwerde.
10. Am XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bundesverwaltungsgericht eine Nachreichung zur Beschwerde betreffend eine Auslandsreise der Beschwerdeführer in den Iran von XXXX bis XXXX . Grund der Reise sei ein Familienbesuch gewesen.
11. Am XXXX langte ein Ergebnisbericht zum nationalen AFIS-Abgleich betreffend die Beschwerdeführer beim erkennenden Gericht ein.
12. Mit E-Mail vom XXXX übermittelte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht einen Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX betreffend die Beschwerdeführer wegen des Verdachts auf Betruges zum Nachteil des Amts der XXXX Landesregierung. Dem Abschluss-Bericht ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer beschuldigt werden, im Zeitraum von XXXX bis XXXX die österreichische Grundversorgung aufgrund eines Auslandsaufenthaltes unrechtmäßig bezogen zu haben, wodurch dem Land XXXX ein Gesamtschaden in Höhe von ? 682 entstanden sei. Zwischen den Beschwerdeführern und dem Land XXXX sei eine Ratenzahlung vereinbart worden, um den unrechtmäßig bezogenen Geldbetrag zurückzuzahlen.
13. Am XXXX übermittelten die Beschwerdeführer durch ihre Rechtsvertretung ein Konvolut an Integrationsunterlagen.
14. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte den Parteien mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan.
15. Am XXXX fanden vor dem Bundesverwaltungsgericht zwei öffentliche mündliche Verhandlungen statt, im Zuge derer die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari jeweils getrennt vom erkennenden Richter zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz und ihren Beschwerdegründen einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb den mündlichen Verhandlungen unentschuldigt fern.
Die Verhandlungsschrift betreffend den Zweitbeschwerdeführer lautet auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Ich bin zuckerkrank und ich habe Diabetes. Ich spritze Insulin. Ich hatte auch einen Herzinfarkt, die Befunde habe ich auch.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich bin in Afghanistan, in der Provinz Herat, im Distrikt XXXX geboren. Mein Geburtsjahr ist das Jahr XXXX ( XXXX ). Ich habe mich geirrt. Ich bin XXXX geboren. Das entspricht XXXX .
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Ich spreche ein bisschen Deutsch, ich beherrsche auch Dari und Farsi. Ich habe in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin verheiratet, ich gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und ich bin Schiite.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Ja, zwei.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: Ich habe von Geburt an bis zu meiner Ausreise in meiner Heimatprovinz, in meinem Heimatdistrikt, in meinem Heimatdorf namens XXXX gelebt.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: In einem Eigentumshaus.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführer: In Afghanistan habe ich wie mein Vater auch als Landwirt gearbeitet. Ich habe aber auch fremde Grundstücke bewirtschaftet.
Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?
Beschwerdeführer: Ich habe 6 Jahre zu Zeiten von Davoud Khan die Schule besucht.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Meine Eltern sind beide verstorben. Ich habe einen Bruder und sechs Schwestern. Mein Bruder hält sich im Iran auf, er ist nach uns aus der Heimat ausgereist. Drei Schwestern leben in der Provinz Herat und die drei anderen im Iran. Wobei ich dazu angeben möchte, dass eine Schwester bereits früher in den Iran übersiedelt ist und die zwei anderen nach unserer Ausreise nachgereist sind.
Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?
Beschwerdeführer: Gelegentlich rufen mich meine Schwestern an und erkundigen sich nach meinem Wohnergehen.
Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer: Ich bin bereits etwas älter, es ist schwierig Arbeit zu finden. Ich besuche einen Deutschkurs. Wir haben Freizeit und ich tue mit meiner Frau Fahrrad fahren oder wir gehen einfach spazieren.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer: Nein, ich besuche gerade den Deutschkurs.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wohin sind Sie zwischen XXXX und XXXX gereist?
Beschwerdeführer: In den Iran.
Richter: Was war der Zweck Ihrer Reise?
Beschwerdeführer: Meine Frau leidet an Krebs, durch die Behandlungen hat sie auch ihre Haare verloren. Es war ihr Wunsch das Grab ihrer Mutter zu besuchen.
Richter: Waren Sie in dieser Zeit auch in Afghanistan?
Beschwerdeführer: Nein, in Afghanistan waren wir nicht. Unsere Reise hat insgesamt 28 Tage gedauert. Wir haben 14 Tage in XXXX verbracht und 14 weitere Tage in XXXX . So konnte meine Ehefrau nochmal die Nähe ihrer Mutter spüren.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Vor einigen Jahren haben wir unseren Sohn in den Iran gebracht, damit er dort behandelt werden kann. Mein Sohn XXXX ist damit gemeint. In Afghanistan war eine Behandlung nicht möglich. Seine Beine mussten amputiert werden und es ging darum, ihn zu retten und die Ärzte haben uns angeraten, entweder nach Pakistan oder in den Iran zu reisen. Wir sind in den Iran gereist, weil Iran in der Nähe ist. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber ungefähr einen Monat war er stationär in einem Krankenhaus im Iran in Behandlung, danach sind wir nach Herat zurückgekehrt. Unser Sohn hätte wieder operiert werden müssen. Das zweite Mal bin ich nicht mitgereist, seine Mutter hat ihn begleitet. Genau weiß ich es nicht mehr, aber er müsste sechs oder sieben Mal in den Iran, für weitere Operationen. Wir haben uns zuletzt sechs Monate im Iran aufgehalten, wir haben dann entschieden, ich spreche von der gesamten Familie, dass wir weiterreisen. So sind wir hierher gekommen. Bei dem Grenzübertritt aus dem Iran in die Türkei haben die Beamten versucht so viele Flüchtlinge wie möglich aufzugreifen. Auch ich wurde aufgegriffen, meine Frau und die Kinder sind weitergereist. Ich bin dann ungefähr 70 Tage nach meiner Familie in Österreich eingereist.
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Vor unserer Haustüre, ich spreche von dem Eingang, wurde eine Miene gelegt, auf die ist mein Sohn draufgestiegen und hat sein Bein verloren.
Richter: War diese Mine gegen Sie oder gegen Ihre Familie gerichtet? Gab es einen Grund dafür?
Beschwerdeführer: Das wurde wegen der ganzen Familie gemacht, es war gegen die ganze Familie und es war ja vor dem Eingang platziert.
Richter: Gibt es einen Grund, dass jemand gegen Ihre Familie hat?
Beschwerdeführer: Ja. Um ehrlich zu sein, sind wir nicht draufgekommen, wer das war. Ich habe Angehörige von meiner Frau dahinter vermutet. Man wollte uns schaden.
Richter: Welchen Grund hätten die Angehörigen Ihrer Frau, Ihnen zu schaden?
Beschwerdeführer: Meine Frau ist eigentlich Sunnitin, wir haben vermutet, dass andere Angehörige etwas gegen uns haben.
Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?
Beschwerdeführer: Es herrscht dort Krieg, keine Sicherheit, es wurde eine Mine gelegt.
Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?
Beschwerdeführer: Ich habe unser Haus verkauft.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Weil ich einen Reisepass haben möchte.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführer: Die Lage in Afghanistan ist schlecht, mein Sohn musste dort amputiert werden. Vor allem in unserer Gegend herrscht Grausamkeit.
Richter: Haben Ihre Söhne eigene Asylgründe oder sind es dieselben wie bei Ihnen?
Beschwerdeführer: Dieselben Gründe, denn XXXX würde das auch mit seinem Bein erzählen.
Rechtsvertreter: Sie haben gesagt, Sie haben Schwestern in Afghanistan. Können Sie uns etwas über das Leben dieser Schwestern berichten?
Beschwerdeführer: Sie dürfen ohne männliche Begleitung sich nicht nach draußen begeben.
Rechtsvertreter: Kennen Sie Familien in Herat, deren Frauen sich ohne männliche Begleitung nach draußen begeben dürfen?
Beschwerdeführer: Es darf dort keine Frau ohne männliche Begleitung sich nach draußen begeben.
Rechtsvertreter: Wie ist das jetzt mit Ihrer Frau in Österreich?
Beschwerdeführer: Hier ist sie frei und sie hat sogar gelernt, Fahrrad zu fahren, es ist gut für sie. Meine Frau fühlt sich sicher und sie geht auch alleine hinaus, ohne dass die Kinder sie begleiten müssen.
[...]
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja."
Die Verhandlungsschrift betreffend die Erstbeschwerdeführerin lautet auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführerin: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführerin: Ja.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführerin: Wegen meiner Brustkrebserkrankung, ich wurde auch am Herz operiert. Ich muss auch natürlich Medikamente einnehmen.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführerin: Ja.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführerin: Geboren wurde ich in Afghanistan, in der Provinz Herat, im Distrikt XXXX und im Dorf XXXX . Mein genaues Geburtsdatum weiß ich nicht, in Afghanistan ist das auch recht üblich, umgerechnet wurde mein Geburtsjahr auf den XXXX nach dem gregorianischen Kalender.
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführerin: Meine Muttersprache ist Dari, ich verstehe aber auch Farsi. Ich verstehe auch relativ gut Deutsch, lesen und schreiben kann ich in allen Sprachen. In Afghanistan habe ich 10 Jahre die Schule besucht.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführerin: Ich bin Tadschikin, Schiitin und bin verheiratet.
Richter: Ihr Mann hat angegeben, dass Sie eigentlich Sunnitin sind. Was stimmt denn jetzt?
Beschwerdeführerin: Das ist richtig, für mich und meine nahen Angehörigen gibt es keine Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten, wegen meinem Mann habe ich jetzt angegeben, dass ich auch Schiitin bin. Eigentlich macht das mir nichts aus. Mir wurde auch nach der Heirat verboten, das Gebet wie bei den Sunniten zu verrichten.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführerin: Ja, zwei Söhne.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführerin: Ich habe mein ganzes Leben in der Provinz Herat, in meinem Heimatdorf verbracht.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführerin: Das Haus hat meinem Schwiegervater gehört.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführerin: In Afghanistan habe ich 10 Jahre das Gymnasium besucht. Ich bin gelernte Schneiderin und war auch als Schneiderin von zu Hause aus tätig.
Richter: Welche Schulbildung haben Sie im Sinne eines Abschlusses erhalten?
Beschwerdeführerin: Ich hätte zwei Jahre noch die Schule besucht, um mein Abschlussdiplom zu bekommen.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführerin: Meine eigenen Eltern sind verstorben, ich habe nur eine Schwester, die sich in Herat aufhält.
Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?
Beschwerdeführerin: Alle zwei bis drei Monate versuchen wir gemeinsam zu sprechen.
Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführerin: Ich habe andere Angehörige, unter anderem auch einen Onkel väterlicherseits, zu ihm hatte ich aber nie Kontakt. Meine Schwiegerfamilie, genauer gesagt meine Schwägerinnen leben noch in Herat.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführerin: Ich führe hier ein gutes Leben, ich bin dabei meine Sprache noch mehr zu verbessern. Ich besuche einen Deutsch- und Computerkurs. Zurzeit besuche ich einen A2+ Kurs.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführerin: Ja, ich besuche an drei verschiedenen Orten Sprachcafés, die zu unterschiedlichen Zeiten veranstaltet werden. Ich verstehe schon sehr viel und durch den Kontakt zu den Österreichern, verbessere ich meine Sprache und den Computerkurs besuche ich auch. Ich habe auch österreichische Freunde, die ich einmal in der Woche einfach so treffe.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführerin: Nein weder in Afghanistan noch hier in Österreich, ich besuche momentan den Deutschkurs und habe meine österreichischen Freunde. Es ist aber auch vorgekommen, dass meine Freunde, die die freie Kirche besuchen, mich eingeladen haben mitzugehen. In den Sprachcafés wird dann darüber gesprochen, ob man freiwillig an einer Veranstaltung teilnehmen möchte und ich gehe da immer mit.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführerin: Nein, wir haben nicht gegen Gesetze verstoßen und leben ein unauffälliges Leben hier. Die Behörde hat uns vorgeworfen, warum wir nicht über unseren Aufenthalt im Iran erzählt haben. Ich denke, das haben wir gemacht.
Richter: Wohin sind Sie zwischen XXXX und XXXX gereist?
Beschwerdeführerin: Bis zum XXXX . Es waren 28 Tage. Wir sind in den Iran gereist. 14 Tage habe ich in XXXX verbracht und 14 weitere Tage in XXXX . Mein Ehemann hat auch seine Geschwister besucht.
Richter: Was war der Zweck Ihrer Reise?
Beschwerdeführerin: Ich war früher eine sehr aktive Frau, bis es mir plötzlich schlecht ging und die Diagnose Brustkrebs festgestellt wurde. Ich habe dann meine Haare verloren. Ich war psychisch sehr unruhig. Depressionen hatte ich. Ich wollte in den Iran, da ging es mir nicht mehr darum, andere Verwandte zu besuchen, sondern das Grab meiner Mutter noch einmal sehen zu können.
Richter: Waren Sie in dieser Zeit auch in Afghanistan?
Beschwerdeführerin: Nein, keiner setzt freiwillig einen Fuß in Richtung Afghanistan.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführerin: Bei einem Bombenanschlag hat mein Sohn sein Bein verloren und er musste amputiert werden, danach hatte er Verfolgungsängste. Er hat ständig geschrien und geweint. In Afghanistan ist alles sehr unsicher, jede Sekunde kann alles umkippen. Es passieren ständig Selbstmordanschläge. Ich hätte meinen Sohn beinahe verloren.
Die Beschwerdeführerin fängt an zu weinen.
Beschwerdeführerin: Dass er überlebt hat. Es ist furchtbar, plötzlich nicht mehr gehen zu können. Ich habe sehr viele Sorgen gehabt. Mein anderer Sohn ist drogensüchtig geworden. Die Lebensumstände waren generell schwierig und für mich als Frau noch mehr und ich wollte dann weiter in den Iran. Im Iran hatten wir dann ganz andere Probleme. Als wie hier gekommen sind, hat der iranische Staat keine Ausweise mehr verteilt. Wir haben aber mitbekommen, dass sehr viele Menschen ohne Ausweise vor sich hingelebt haben. Es bestand jeder Zeit die Gefahr, von der Polizei angehalten zu werden und nach Afghanistan zurückgeschoben zu werden. Deswegen haben wir uns entschieden, weiter nach Europa zu reisen.
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführerin: Nein, aber dazu möchte ich angeben, dass Afghanistan eine reine Männergesellschaft ist. Kabul als etwas entwickelter gegolten hat, ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Es ist diese Abhängigkeit, dass immer ein Mann dabei sein muss, um nur in einem Bazar den Einkauf erledigen zu können. Das sind die Probleme einer Frau dort.
Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?
Beschwerdeführerin: Von Männern bin ich bedroht. Sie können zuschlagen. Dass man nicht der Herr über sich selbst ist, dass man nicht einmal die Haustüre verlassen kann, ohne eine Erlaubnis zu haben.
Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?
Beschwerdeführerin: Wir sind zuerst in den Iran gekommen, wo wir circa sechs Monate verbracht haben, danach sind wir weiter in die Türkei gereist, danach nach Griechenland. Danach sind einige Orte die mir unbekannt vorkamen, gekommen. Wir sind auf jeden Fall über Ungarn nach Österreich eingereist.
Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?
Beschwerdeführerin: 10.000 Dollar hat unsere Reise gekostet. Wir haben das Haus verkauft und darüber hinaus habe ich immer als Schneiderin gearbeitet und ich habe auch meinen Goldschmuck verkauft.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführerin: Jeden Ausweis den ich von der Behörde bekommen habe, ist für mich inakzeptabel. Ich bin gestresst darüber, weil ich nicht weiß, wie sicher unsere Zukunft hier ist und ich möchte auf keinen Fall zurückgeschickt werden. Ich möchte einfach diese Gewissheit haben und nicht diesen Gedankenstress. Ich mache mir auch Sorgen um meine Söhne. Ich glaube, dass es mir zusteht eine bessere Entscheidung zu erhalten, mir wurde auch mitgeteilt, dass wir keine soziale Hilfe empfangen dürfen. Dazu würden wir eine dauerhafte Entscheidung benötigen.
Die Beschwerdeführerin fängt an zu weinen.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführerin: In Afghanistan haben wir keine Lebensgrundlage, es herrscht dort Krieg. Die zahlreichen Probleme die man dort als Frau über sich zu ergehen hat, sind nicht nur die Taliban, sondern auch die Daesh die dazu kommen. Wenn meine Söhne zurückkehren, dann besteht jeder Zeit die Gefahr, da geht es nicht um den Iran, sondern um Afghanistan, dass sie bei einem Bombenanschlag verletzt oder getötet werden. Es kommt ständig zu Selbstmordanschlägen.
Richter: Haben Ihre Söhne eigene Asylgründe oder sind es dieselben wie bei Ihnen?
Beschwerdeführerin: Nein, unsere Kinder haben die gleichen Fluchtgründe, wie wir. Es ging um diesen Vorfall, bei dem mein Sohn sein Bein verloren hat und mein anderer Sohn ist dort drogenabhängig geworden. Darüber hinaus die Probleme die ich als Frau in Afghanistan habe. Ich bitte das Gericht mir bzw. uns eine bessere Entscheidung zu geben. Ich möchte mich auch bei dem österreichischen Staat bedanken. Ich habe ernsthafte Erkrankungen, ich wurde operiert und behandelt.
Rechtsvertreter: Sie haben heute gesagt, dass Sie in Afghanistan zu Hause gearbeitet haben. Wer hat das verdiente Geld verwaltet?
Beschwerdeführerin: Das Geld, das ich verdient habe, habe ich selbst verwaltet und natürlich habe ich auch damit Sachen gekauft, die für den Haushalt notwendig waren. Mit der Zeit habe ich mir sogar mit meinen Ersparnissen selbst Goldschmuck gekauft.
Rechtsvertreter: Können Sie mir die wichtigsten Unterschiede zu Ihrem Leben in Österreich und Ihrem Leben als Frau in Afghanistan nennen?
Beschwerdeführerin: Man kann nicht Afghanistan mit hier vergleichen, alleine, wenn man das Haus verlässt, muss man sich für andere Leute, die das wollen, komplett verschleiern. Hier ist das eine ganz natürliche Sache, meine Freunde im Sprachcafé zu treffen oder woanders alleine hinzugehen. Dass ich einen Deutschkurs besuchen kann und ich gehe überall alleine hin, beim Einkaufen muss mir auch niemand die Hand halten, ich schaffe das alles schon alleine.
Rechtsvertreter: Arbeiten Sie derzeit in Österreich?
Beschwerdeführerin: Nein, ich bin Pensionistin.
Rechtsvertreter: Haben Sie sich um Arbeit bemüht?
Beschwerdeführerin: Ja, eigentlich möchte ich nach wie vor arbeiten. Ich habe auch im Sprachcafé mehrere Male gesagt, dass ich auch aushelfen kann, wenn jemand das Schneidern lernen möchte.
Rechtsvertreter: Können Sie uns über Ihre Freizeitgestaltung erzählen und wenn ja, haben Sie irgendwelche Hobbys?
Beschwerdeführerin: Sehr viel Freizeit habe ich ehrlich gesagt nicht, weil ich sehr viele Termine bei der Ärztin habe und darüber hinaus schaue ich mir meine Tagesordnung an, wo weitere Kurse veranstaltet werden. Wenn ich Freizeit habe, dann radele ich gerne.
Rechtsvertreter: Wo haben Sie gelernt Fahrrad zu fahren?
Beschwerdeführerin: In Österreich.
Rechtsvertreter: Könnten Sie sich vorstellen, wieder so wie in Afghanistan zu leben?
Beschwerdeführerin: Das Leben für eine weibliche Person in Afghanistan ist eine Zumutung, nochmal in solchen Verhältnissen kann und will ich nicht leben.
Rechtsvertreter: Können Sie uns über die Religion ihres Sohnes XXXX erzählen?
Beschwerdeführerin: Als mein Sohn XXXX sich nach der Amputation im Iran aufgehalten hat, hat er eine Krankenschwester kennen gelernt, die bei ihm die Verbände gewechselt hat. Sie hat ihm dann anvertraut, dass sie Christin ist. Diese Dame hat dann gesagt, nur, weil er es erlaubt, spricht sie ein Gebet aus, damit sein zweites Bein nicht amputiert wird. Diese Frau hat in Begleitung einer anderen Frau, die aus Kabul war und ebenfalls Christin war, uns zweimal zu Hause besucht. Sie haben dann gemeinsam für ihn gebetet. Er hat dann hier selbst Freunde gefunden, das waren Kirchengänger. Er hat dann gemeint: "Ich werde meinen Glauben wechseln".
[...]
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführerin: Ja."
Der Rechtsvertreter der Erstbeschwerdeführerin legte im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Konvolut an Unterlagen zum Nachweis der Integration der Erstbeschwerdeführerin vor. Die Erstbeschwerdeführerin legte eine Kursbesuchsbestätigung und eine Unterstützungserklärung vor. Diese Unterlagen wurden in Kopie zum Akt genommen.
Die volljährigen Söhne der Beschwerdeführer wurden am selben Tag vom erkennenden Richter in den Verfahren XXXX ( XXXX ) und XXXX ( XXXX ) zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz und ihren Beschwerdegründen einvernommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und die Verfahrensakten des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Beschwerdeführer und ihre Söhne, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.
1. Feststellungen
1.1 Zu den Personen der Beschwerdeführer und ihrem Leben in Afghanistan
Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan. Sie gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und sind der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Sie können diese Sprache sowohl lesen als auch schreiben. Beide Beschwerdeführer sprechen ein wenig Deutsch.
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer heirateten ungefähr im Jahr XXXX ( XXXX ) in Afghanistan und sind Eltern von zwei ebenfalls in Österreich aufhältigen volljährigen Söhnen. Sie haben keine weiteren Kinder. Die Beschwerdeführer sind im Entscheidungszeitpunkt jedenfalls volljährig.
Die Erstbeschwerdeführerin ist in der afghanischen Provinz Herat geboren. Dort wuchs sie im afghanischen Familienverband gemeinsam mit ihren Eltern und einer Schwester auf. Der Zweitbeschwerdeführer kam ebenfalls in der afghanischen Provinz Herat zur Welt, wo er im afghanischen Familienverband mit seinen Eltern, einem Bruder und sechs Schwestern aufwuchs. Nach der Hochzeit zog die Erstbeschwerdeführerin zum Zweitbeschwerdeführer in das familieneigene Haus des Vaters des Zweitbeschwerdeführers, wo die Beschwerdeführer bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan lebten. Im Jahr XXXX und XXXX kamen die beiden Söhne der Beschwerdeführer zur Welt. Vor ihrer Ausreise Richtung Europa hielten sich die Beschwerdeführer ein halbes Jahr im Iran auf.
Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in ihrem Herkunftsstaat ungefähr neun bis zehn Jahre die Schule. Sie ist gelernte Schneiderin und war nach ihrem Schulbesuch bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan als Schneiderin tätig. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte sechs Jahre die Grundschule und war anschließend in der Landwirtschaft tätig. Die Familie hatte ein wenig eigenes Land, er bewirtschaftete aber auch Ländereien für andere Leute.
Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin sind bereits verstorben. Ihre Schwester lebt nach wie vor in Afghanistan in Herat. Auch die Eltern des Zweitbeschwerdeführers sind bereits altersbedingt verstorben. Drei Schwestern des Zweitbeschwerdeführers leben nach wie vor in der Provinz Herat in Afghanistan. Der Bruder und drei weitere Schwestern des Zweitbeschwerdeführers leben zwischenzeitlich im Iran. Sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch der Zweitbeschwerdeführer haben regelmäßigen Kontakt zu ihren Angehörigen. Die Söhne der Beschwerdeführer leben in Österreich.
1.2 Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich
Die Erstbeschwerdeführerin gelangte gemeinsam mit ihren Söhnen im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Der Zweitbeschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Von XXXX bis XXXX hielten sich die Beschwerdeführer im Iran auf, um das Grab der Mutter der Erstbeschwerdeführerin zu besuchen. Mit Ausnahme dieser Reise hielten sich die Beschwerdeführer seit ihrer Einreise durchgehend im Bundesgebiet auf.
Das Verfahren wird als Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 geführt.
Die (volljährigen) Söhne der Beschwerdeführer leben ebenfalls in Österreich. Ihnen wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX jeweils der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
Weitere Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen der Beschwerdeführer leben nicht in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft der Beschwerdeführer in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder der Beschwerdeführer.
Die Beschwerdeführer bewohnen gemeinsam eine Wohnung in XXXX . Sie beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und sind nicht erwerbstätig.
Die Erstbeschwerdeführerin hat seit ihrer Einreise an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen, darunter auch am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF, teilgenommen. Im XXXX legte die Erstbeschwerdeführerin eine Prüfung zu ihren Deutschkenntnissen auf Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab. Im XXXX trat die Erstbeschwerdeführerin zur Integrationsprüfung auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen an, die sie jedoch nicht bestand. Zuletzt nahm sie an einem Deutschkurs auf Niveau B1 teil. Weiter besuchte die Erstbeschwerdeführerin einen Handarbeits- und einen Nähkurs, absolvierte im Jahr XXXX diverse Computerworkshops und nahm am Projekt "Milli - Migrantinnen leben und lernen integriert" teil, dessen Ziel es ist, Frauen im beruflichen und gesellschaftlichen Integrationsprozess zu unterstützen und zu stärken. Die Erstbeschwerdeführerin erledigte regelmäßig ehrenamtlich Schneiderarbeiten für eine Pfarre in XXXX und betreute einen Stand der Initiative " XXXX bei der Veranstaltung " XXXX ". Zukünftig möchte die Erstbeschwerdeführerin wieder ihrem erlernten Beruf als Schneiderin arbeiten. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In der Vergangenheit nahm sie regelmäßig an Handarbeitstreffen teil und traf sich mit Freunden zum Stricken. In ihrer Freizeit besucht die Erstbeschwerdeführerin an drei verschiedenen Orten Sprachcafés, die zu unterschiedlichen Zeiten veranstaltet werden, oder fährt Fahrrad.
Der Zweitbeschwerdeführer besuchte seit seiner Einreise mehrere Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskurse. Zuletzt nahm der Zweitbeschwerdeführer im XXXX an Teil drei eines Alphabetisierungskurses für Personen ohne Deutschkenntnisse der XXXX teil. Der Zweitbeschwerdeführer beherrscht etwas Deutsch, hat jedoch noch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Er half regelmäßig ehrenamtlich in der Gemeinde XXXX im Bereich der Ortsbildpflege. Weiter erbrachte er gemeinnützige Arbeiten für eine Pfarre, für die er den Garten pflegte und Gemüse anbaute. Der Zweitbeschwerdeführer nimmt gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin regelmäßig an Sprachcafés teil. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In seiner Freizeit fährt der Zweitbeschwerdeführer gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin Fahrrad oder geht spazieren.
Die Erstbeschwerdeführerin erlitt in der Vergangenheit einen Herzinfarkt und wurde im Iran am Herzen operiert. Nach wie vor treten oft Herzschmerzen bei der Erstbeschwerdeführerin auf. In Österreich wurde bei der Erstbeschwerdeführerin Brustkrebs diagnostiziert, woraufhin sie sich einer Chemotherapie unterzog. Als Folge ihrer physischen Erkrankungen leidet die Erstbeschwerdeführerin zudem an einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion. Weiter wurden bei der Erstbeschwerdeführerin atypischer Thoraxschmerz, eine koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie (Fettstoffwechselstörung) und Hypertonie (Bluthochdruck) diagnostiziert. Die Erstbeschwerdeführerin befindet sich wegen ihrer Erkrankungen in medizinischer und medikamentöser Behandlung.
Der Zweitbeschwerdeführer leidet an Diabetes mellitus. Abgesehen von der beim Zweitbeschwerdeführer bestehenden Diabetes ist er im Wesentlichen gesund.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3 Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer
Die Beschwerdeführer stellten am XXXX (Erstbeschwerdeführerin) bzw. am XXXX (Zweitbeschwerdeführer) gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz und begründeten diese in weiterer Folge mit mangelnder medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat, der allgemeinen Sicherheitslage, gezielten Angriffen auf die Familie der Beschwerdeführer durch unbekannte Akteure sowie mit der Zugehörigkeit der Erstbeschwerdeführerin zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Frauen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurden oder eine Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätten.
Ein Sohn der Beschwerdeführer, XXXX , trat in Afghanistan ungefähr im Jahr XXXX in eine in der Nähe des Hauses der Beschwerdeführer ausgelegte Mine, wodurch er ein Bein verlor. In der Gegend, in der die Beschwerdeführer lebten, waren mehrere Minen verlegt. Es handelte sich bei der verlegten Mine nicht um einen gezielten Anschlag auf die Familie der Beschwerdeführer oder auf deren Sohn, XXXX . Insbesondere wurde die Mine nicht gezielt durch Angehörige der Erstbeschwerdeführerin verlegt, weil sie ursprünglich Sunnitin war und einen Schiiten heiratete. Dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen oder Verfolgung durch unbekannte Akteure oder Angehörige der Erstbeschwerdeführerin, etwa aufgrund der Zugehörigkeit der Beschwerdeführer zur sozialen Gruppe der Familie, ausgesetzt wären, ist daher nicht zu erwarten.
Die Erstbeschwerdeführerin ist in ihrem Herkunftsstaat nicht allein aufgrund ihres Geschlechtes einer Verfolgung ausgesetzt. Sie hat während ihres Aufenthaltes in Österreich keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert. Der Alltag der Erstbeschwerdeführerin in Österreich unterscheidet sich nicht wesentlich von ihren Tätigkeiten in Afghanistan. Sie kümmert sich auch in Österreich überwiegend um den Haushalt und besucht Sprachcafés. In ihrer Freizeit nimmt sie an Handarbeitstreffen teil, trifft sich zum Stricken und besuchte einen Handarbeits- und einen Nähkurs. Sie erledigte in Österreich ehrenamtlich regelmäßig Schneiderarbeiten für eine Pfarre und möchte zukünftig wieder in ihrem erlernten Beruf als Schneiderin arbeiten. Diese Tätigkeiten übte die Erstbeschwerdeführerin bereits in Afghanistan aus, wo sie als Schneiderin arbeitete und Besuche von anderen Frauen und Verwandten empfing.
Ebenso wenig drohen dem Zweitbeschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer
Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:
1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben):
1.4.1.1 Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
1.4.1.2 Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Deze