TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/24 W159 2219230-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.04.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.04.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W159 2219230-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 09.04.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.02.2020, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, gelangte mit ihren beiden damals minderjährigen Söhnen und stellte für sich und für diese am 12.11.2015 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz. Diese Anträge wurden mit den Bescheiden des BFA vom 17.05.2016, Zahlen: XXXX als unzulässig zurückgewiesen und wurde festgestellt, dass Kroatien für die Prüfung der Anträge zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung angeordnet und die Abschiebung nach Kroatien für zulässig erklärt. Diese Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.08.2016, Zahlen XXXX als unbegründet abgewiesen.

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.01.2017, Zahl XXXX , die dagegen erhobenen Revisionen zurückgewiesen, mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 24.02.2017 XXXX , die Behandlung der Beschwerden abgelehnt. Eine Verbringung nach Kroatien war nicht möglich, die Beschwerdeführer verblieben in Österreich.

Die Beschwerdeführerin, der Volksgruppe der Hazara zugehörig, schiitischen moslemischen Glaubens und geschieden zwei und stellt für sich und ihre Söhne am 04.09.2018 einen Folgeantrag auf internationalen Schutz bei der XXXX

Am 28.09.2018 erfolgte die Niederschrift im Verfahren vor der belangten Behörde.

Die Beschwerdeführerin gab an sie habe eine Cousine in XXXX , anerkannter Flüchtling, mit welcher sie in regelmäßigen Kontakt stehe. Auf die Frage, ob sie gesund sei, antwortete sie, sie habe viele Probleme, psychische Probleme. Sie habe Herzbeschwerden, Probleme mit den Knochen, Schmerzen und Schlafstörungen. Die Beschwerdeführerin würde sich in ärztlicher Behandlung, bei dem Hausarzt in der Nähe der Unterkunft und einem Psychologen, befinden.

Befragt gab die Beschwerdeführerin an, sie sei auf der Flucht von Afghanistan in den Iran geboren worden. Ihre Eltern würden aus der Provinz Daikundi stammen, sie seien vor dem Krieg geflüchtet, der Vater sei nunmehr verstorben, die Mutter hätte viele Probleme. Sie sei im Iran in die Schule gegangen und würde Farsi lesen und schreiben. Über ihre Ehe gab sie an, sie habe 2000/2001 in XXXX traditionell vor einem Mullah geheiratet. Seit 2008 sei sie geschieden und habe von ihm das letzte Mal auf der Flucht gehört. Er habe ihr gesagt, dass sie die Kinder zurückbringen solle. Sie hätte ihren Mann über Nachbarn kennengelernt. Zwei Jahre nach der Hochzeit habe er begonnen Heroin zu nehmen und zuletzt sei er drogenabhängig gewesen. Ein Mann der afghanischen Botschaft hätte ihr geholfen, die Scheidung durchzubringen. Sie hätte im Iran in einer Plastikfabrik, so wie andere Frauen auch, gearbeitet.

Sie sei untergetaucht, um ihrer Abschiebung nach Kroatien zu entgehen. Im Zeitraum 08.17 bis 09.18 sei sie obdachlos gewesen. Es sei ihr in dieser Zeit sehr schlecht gegangen. Sie habe keinen Kontakt zu ihren Kindern gehabt, habe es jedoch für ihre Kinder getan. Ein Berater hätte ihr geraten so zu leben, bis ihre Fingerabdrücke gelöscht werden würden. Ihre Kinder hätten nicht gewusst, dass sie weggehen würde. Ihre Kinder hätten auch in Österreich bleiben wollen, sie hätten die Sprache gelernt und sie hätten Angst gehabt.

Mit dem im Spruch angeführten Bescheid von 09.04.2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 abgewiesen und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § Abs. 8 ein solcher und eine befristete Aufenthaltsberechtigung zuerkannt.

Die belangte Behörde führte aus, die Beschwerdeführerin habe keine Fluchtgründe in Bezug auf ihren Heimatstaat vorgebracht. Die Beschwerdeführerin hätte vorgebracht, dass sie keine Angehörigen mehr in Afghanistan hätte. Sie hätte den Iran aus rein wirtschaftlichen Überlegungen verlassen und würde nicht von den Familienangehörigen der Familie des geschiedenen Ehemanns verfolgt werden. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan mangels familiären und sozialen Netzwerks und aufgrund des Umstandes, dass sie als alleinstehende Frau für zwei minderjährige Kinder zu sorgen habe, einer Gefährdung in die Existenz bedrohendem Ausmaß drohen könne.

Die Beschwerde wurde durch die Rechtsvertreterin eingebracht und langte am 15.05.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Der Bescheid wurde in Punkt I. wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften angefochten. Die belangte Behörde hätte aufgrund der Scheidungspapiere festgestellt, dass die Söhne nach der Scheidung bei der Mutter gelebt hätten und hätte es als nicht glaubwürdig erachtete, dass die Beschwerdeführerin die Söhne gegen den Willen des Vaters nach Europa mitgenommen hätte. Es sei jedoch bekannt, dass im Fall einer Scheidung das Sorgerecht jedenfalls dem Vater bzw. der väterlichen Familie zukommt. In manchem Fällen sei es gestattet, dass die Kinder bei der Mutter leben, jedoch spätestens mit Erreichen des 11. Lebensjahres seien die Söhne der väterlichen Familie zu übergeben. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin mit beiden Minderjährigen aus dem Iran geflüchtet sei, sei unstrittig und sie habe damit dem Ex-Mann, dem Vater, die Kinder entzogen. Die Beschwerdeführerin habe angegeben, dass sich die Angehörigen des Ex-Ehemannes in Afghanistan aufhalten würden und sei sie im Falle einer Rückkehr asylrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt. Die Kinder der Beschwerdeführerin hätten auch glaubwürdig und nachvollziehbar die an sie gestellten Fragen zur Lebenssituation im Iran beantwortet. Es wurde auf den Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Situation geschiedener Frauen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Alexandra Geiser vom 01.11.2011 verwiesen.

Am 25.02.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an der die Beschwerdeführerin, ihre zwei Söhne (BF2, BF3), alle als Beschwerdeführer, die Rechtsvertreterin, ein Vertreter der belangten Behörde und eine Dolmetscherin teilnahmen.

Die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin brachte für sie einen fachärztlichen Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, eine Teilnahmebestätigung an einem Werte und Orientierungskurs sowie weitere Integrationsmaßnahmen des ÖIF, Bestätigungen über Deutschkurse der XXXX , Nachweise über ehrenamtliche Mitarbeit bei der XXXX , diverse Unterstützungsschreien, diverse Fotos, insbesondere in einem Fitnessstudio in Vorlage. Die Beschwerdeführerin erschien ohne Schleier und Kopftuch mit offenen mit einer Masche zusammengebundenen Haaren, geschminkt und insgesamt westlich gekleidet.

Die Beschwerdeführerin hielt ihr bisheriges Vorbringen aufrecht. Sie gab an, sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitische Muslimin. Solange sie im Iran gelebt hätte, sei sie streng religiös gewesen, jedoch sei sie in Österreich lebe, würde sie sich nicht mehr als religiösen Menschen bezeichnen. Die Eltern ihres Mannes seien sehr religiös gewesen.

Die Beschwerdeführerin brachte ergänzend vor: "2015, unmittelbar nach unserer Einreise hat die Erstbefragung stattgefunden. Es wurde nicht alles aufgeschrieben, ich habe auch nicht alles gesagt, ich war beeinträchtigt. Ich wurde gefragt, wo sich mein Ehemann aufhält. Ich habe gesagt im Iran. Danach wurde Kroatien zuständig für unserer Verfahren. Man wollte uns zum Flughafen bringen. Es ging mir sehr schlecht und man hat entschieden uns zurück zu bringen."

Sie gab an sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitisch moslemischen Glaubens. Sie führe in Österreich ein normales Leben. Religiöse Vorschriften stünden für sie nicht im Vordergrund. Sie bemühe sich hier nach der Kultur in Österreich zu richten.

Sie sei am 01.05.1365 (= XXXX ) geboren, auf dem Weg von Afghanistan in den Iran, vermutlich im Grenzgebiet auf die Welt gekommen. Ihre Eltern würden aus der Provinz Daikundi stammen, ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter würde noch leben. Sie habe auch Geschwister, die alle in XXXX wohnen würden. Sie persönlich hätte ihr ganzes Leben im Iran, in XXXX verbracht. Sie hätte sich nie wieder in Afghanistan aufgehalten und würde es nicht kennen. Sie habe für vier oder fünf Jahre eine offizielle iranische Schule besucht. Ihr Vater hätte in der Landwirtschaft gearbeitet und so seine Familie versorgt.

Sie habe vor und nach ihrer Eheschließung gearbeitet, einerseits habe sie in der Landwirtschaft ausgeholfen, andererseits habe sie in einer Kunststoff Fabrik gearbeitet.

Nachgefragt gab die Beschwerdeführerin an, sie habe ihren Ex-Ehemann über eine Nachbarin kennengelernt. Sie habe im Alter von 14 Jahren traditionell geheiratet und habe nicht gewusst, was die Ehe bedeuten würde. Vorerst habe sie bei ihren Eltern gelebt, da die Schwiegereltern erst später in den Iran gekommen seien.

Auf die Frage des vorsitzenden Richters, wie die Ehe gewesen sei, antwortete die Beschwerdeführerin: "Ich wurde islamisch getraut. Ein Gelehrter hat uns getraut. Ich war am Anfang mit der Ehe überfordert. Mein Vater hat mir immer wieder eingeredet, dass mein Mann gut für mich sei, mit der Zeit habe ich mich an die Situation gewöhnt. Etwa zwei bis drei Jahre nach der Eheschließung hat sich alles verschlimmert. Mein Mann wurde drogenabhängig. Ich hatte zwei Kinder. Ich wusste nicht, wie er jeden Tag auf mich reagiert und wie heftig die Schläge sein werden, die ich abbekomme. Ich habe mit der Zeit keinen anderen Ausweg gesehen, einen Gelehrten aufzusuchen, um mich scheiden lassen zu können. Mein Mann wollte die Scheidung nicht. Er hat auch damit gedroht, mich niemals in Ruhe zu lassen."

Es sei für sie als Frau nicht möglich gewesen, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Sie hätte einen Anwalt gebraucht. Sie sei damals zu einem Büro gegangen, wo man Frauen in ihrer Situation weitergeholfen hätte, denn in den islamischen Ländern könnte sich eine Frau nicht so einfach scheiden lassen.

Auf die Frage des Richters, wie es zur Scheidung gekommen sei, erzählte die Beschwerdeführerin: "Ich habe nach acht Jahren Ehe es geschafft, mich von ihm scheiden zu lassen. Mir wurde erklärt, dass meine Söhne dem Vater zugesprochen werden, das ist in Afghanistan und im Iran so geregelt. Die Familie meines Mannes hat nach der Scheidung die Kinder zu sich genommen, ich durfte sie nicht sehen. Ich habe dann der Cousine väterlicherseits meiner Kinder Geschenke versprochen und im Gegenzug hat sie die Kinder zum Spielplatz gebracht. So konnte ich sie sehen, ohne meine Kinder ging es mir sehr schlecht."

Der Richter hielt der Beschwerdeführerin vor: "Nachdem dem BFA vorliegenden Scheidungsvergleich lag das Sorgerecht der Kinder bei Ihnen, was Sie vor der Polizei auch gesagt haben."

Die Beschwerdeführerin antwortete: "Ja das ist richtig. Im Scheidungsvergleich steht das auch so drinnen. Der Beamte hat mir damals erklärt, ich hätte das Recht, die Kinder nur einen Monat zu beaufsichtigen, danach wäre der Vater für sie zuständig. Ich wollte das auch richtigstellen. Es wurde zwar in diesem Dokument es so dokumentiert. Ich habe dann versucht, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Allerdings hat man mir gesagt, ich hätte gar keine Aussichten darauf."

Auf die Frage des Richters, wie ihr Leben im Iran gewesen sei, antwortete die Beschwerdeführerin, dass sie einen Flüchtlingsausweis mit der Möglichkeit, diesen jährlich zu verlängern, gehabt hätte. Es sei keine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung gewesen. Sie hätte keine Probleme mit den iranischen Behörden gehabt, doch die dortigen Behörden hätten ihr aufgrund der geltenden Gesetze auch nicht helfen können. Auch ihre Geschwister hätten sich nicht für sie eingesetzt. Nur die Mutter der Beschwerdeführerin sei eine Stütze gewesen und habe wegen der zwei Enkel sehr viel durchgemacht. Die Beschwerdeführerin habe sich trotzdem stärker als viele Männer gefühlt. Sie hätte gewusst, sie müsse kämpfen, um ihre Kinder zu schützen.

Nachgefragt gab sie an, sie habe keine Probleme in Afghanistan gehabt, sie habe aber von anderen Personen gehört, die direkt aus Afghanistan geflüchtet seien, dass es dort schrecklich sei.

Sie habe den Iran verlassen, um ihre Kinder zu schützen vor ihrem Ehemann und der Schwiegerfamilie. Die Schwiegerfamilie hätte sie als Mutter ihrer Kinder ignoriert und ihre Gefühle nicht wahrnehmen wollen. Sie habe sich aus Not entschieden, nach Europa zu kommen. Es sei ihr bewusst gewesen, dass ihr oder den Kindern etwas zustoßen hätte können.

Die Beschwerdeführerin erzählte weiter: "Meine Kinder haben sehr viel durchgemacht. Mein ältester Sohn hat das Handy eines Freundes benutzt, um mich anzurufen. Er hat mit mir einen Treffpunkt vereinbart. Ich habe dann meine Kinder mit einem Taxi abgeholt. Ich bin dann gleich zu meiner Mutter gefahren. Nach ungefähr einer Woche hat meine Schwiegerfamilie erfahren, wo ich mich aufhalte. Es gab auch Drohanrufe, sie wollten die Kinder zurückhaben. Mir wurde offen gesagt, dass man es nicht zulassen wird, dass ich die Kinder versteckt halte. Erfolg werde ich damit nicht haben. Ich war nicht bereit meine Kinder ihnen zu überlassen. Meine Kinder haben sich vor der Familie väterlicherseits gefürchtet. Sie hatten sogar Angst getötet zu werden. Ich habe damals erfahren, dass die Grenzen zu Europa offen sind. Ich habe dann eigenständig entschieden, meine Kinder mitzunehmen und diese Möglichkeit zu nutzen."

Sie habe mit niemandem in Afghanistan Kontakt. Sie habe jedoch zu ihrer Mutter und ihrer Schwester im Iran Kontakt. Ihre Mutter leide an Alzheimer. Es gäbe Phasen, wo sie sich an die Beschwerdeführerin erinnere und im nächsten Moment sei alles weg.

Auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin aktuell gesundheitliche oder psychische Probleme habe, antwortete sie, sie nehme Medikamente ein und versuche ihren psychischen Zustand selbst zu verbessern, indem sie Fitness betreibe und sich auch mit Freunden treffe. Sie nehme Medikamente wegen ihres psychischen Zustandes.

Der Richter erkundigte sich, was sie derzeit in Österreich mache. Die Beschwerdeführerin antwortete, sie bemühe sich die deutsche Sprache zu lernen und betreibe Fitness. Sie habe zuerst einen Alphabetisierungskurs gemacht und mache derzeit einen A1 Kurs, konnte jedoch noch kein Sprachdiplom erwerben. Sie habe an verschiedenen Integrationskursen teilgenommen.

Sie habe ehrenamtlich in NÖ, aber noch nicht gegen Bezahlung gearbeitet. Sie habe bei der Lebensmittelverteilung geholfen, gemeinsam mit anderen Leuten.

Sie habe einen Freund, einen Lebensgefährten, der ebenfalls aus Afghanistan stamme. Sie würde mit ihrem Freund nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben, sich mit ihm jedoch zwei bis drei Mal in der Woche treffen. Gelegentlich würde sie auch bei ihm übernachten. Ihr Freund würde als Taxifahrer arbeiten.

Ihre Söhne würden bei ihr im gleichen Haushalt leben und ihr käme auch die gesetzliche Vertretung und die Pflege und Erziehung ihres noch minderjährigen Sohnes zu. Sie möchte und habe ihren bereits andere Werte vermittelt. "Die männliche Dominanz und Sturheit habe ich ihnen nicht beigebracht. Es ist mir wichtig, dass sie sich an den Männern in dieser Gesellschaft orientieren. Sie beteiligen sich auch an der Hausarbeit. Es ist auch für die Zukunft wichtig, dass sie sich in der Hausarbeit auskennen. Für mich ist es auch wichtig, dass sie die Schule besuchen und ich unterstütze sie dabei, dass sie eine Berufsausbildung machen, damit sie später Fachkräfte werden."

Auf die Frage, ob sie sich nach wie vor der afghanischen Lebensweise und Tradition verbunden fühle, antwortete die Beschwerdeführerin: "Ich habe die Traditionen, die mir beigebracht wurden, aufgegeben. Ich versuche mir möglichst viel von den Menschen hier abzuschauen. Seit ungefähr einem Jahr führe ich ein glückliches Leben. Ich weiß, dass ich selbst die Verantwortung dafür habe. ... Mein Leben hier bedeutet für mich pure Freiheit, ich darf mich selbst verwirklichen. Ich darf allein alles erledigen. Ich habe hier in Österreich viel dazu gelernt. Im Iran habe ich sein sehr eingeschränktes Leben geführt. Ich schätze die Freiheiten hier. Im Iran hätte ich mir das nicht erträumen lassen. Im Iran habe ich mir nicht vorstellen können, dass ein Mann nach der Scheidung bereit ist, mit mir zusammen zu sein."

Sie habe auch einige österreichische Freunde gefunden. Als sie im Dorf gelebt habe, sei sie regelmäßig laufen gegangen. Nach ihrer Übersiedelung nach XXXX betreibe sie hier Fitness. Wenn sich die Gelegenheit ergebe, gehe sie auch mit ihren Freunden in einem Badeanzug schwimmen. Sie besitze auch ein Fahrrad, man könne der XXXX entlang schön Fahrrad fahren.

Nachgefragt gab die Beschwerdeführerin an, sie habe an einem Vereinstreffen von Afghanen teilgenommen. Sie habe es selbst gehört, wie afghanische Männer über Frauen gelästert hätten, die ohne Kopftuch hingegangen seien. Danach sei sie diesen Treffen ferngeblieben.

Der Richter erkundigte sich, welche Pläne die Beschwerdeführerin für ihre Zukunft in Österreich habe. Sie wolle den Beruf einer Visagistin oder Kosmetikerin erlernen, müsse jedoch zuerst die deutsche Sprache auf B1 Niveau beherrschen.

Sollte die Beschwerdeführerin nach Afghanistan zurückkehren müssen, glaube sie nicht, dass sie dort Überlebenschancen hätte. Sie könne in Afghanistan nicht so ein Leben führen wie hier in Österreich und wisse nicht, wie sie dort zurechtkommen soll. Sie spreche mit ihren Söhnen Farsi (Dari), jedoch da die Söhne beide schon Deutsch sprechen würden, versuche sie einzelne Ausdrücke von ihnen zu erlernen.

Der Vertreter der belangten Behörde stellte keine Fragen.

Auf die Frage der Rechtsvertreterin, wenn die Beschwerdeführerin in Afghanistan so leben würde, wie sie jetzt in Österreich lebe, was würde mit ihr passieren, antwortete sie, dass sie das alles nicht machen könne, auch nicht im Iran. Das Leben hier sei nicht mit dem Leben in Afghanistan oder Iran zu vergleichen.

Am 11.03.2020 langte eine Stellungnahme der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin zu dem vorgehaltenen Länderinformationsblatt beim Bundesverwaltungsgericht ein. Es wurde auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin verwiesen. Die Beschwerdeführerin gehöre wie aus den Ausführungen der Länderberichte, ebenso wie aus den Ausführungen des Berichts des UNHCR vom 30.08.2018 hervorgehe, zum Risikoprofil der als verwestlicht wahrgenommenen Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen würden.

Der VwGH Ra 2017/19/0579, habe in einem vergleichbaren Fall entschieden:

"12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306, mwN).

13 Die Erstrevisionswerberin hat im vorliegenden Fall, die Annahme einer solchen "westlichen" Lebensweise durch sie, die sie so verinnerlicht habe, dass sie diese bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht unterdrücken könne, vorgebracht.

14 In der Beurteilung dieses Vorbringens hat das BVwG allein darauf abgestellt, dass die Erstrevisionswerberin in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keine "Diskriminierung" erfahren habe. Damit hat das BVwG aber die Rechtslage verkannt. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einen "westlich" orientierten Lebensstil im genannten Sinn hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Fall der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018; 6.7.2011, 2008/19/0994 bis 1000; 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306).

15 Bei Vorliegen einer westlich orientierten Lebensweise im genannten Sinn hätte - auf der Grundlage aktueller Länderberichte - eine Auseinandersetzung damit stattfinden müssen, ob und bejahendenfalls mit welchen staatlichen bzw. nicht-staatlichen Reaktionen die Asylwerberin aufgrund ihres gelebten selbstbestimmten westlichen Lebensstils rechnen müsste, ob diese Reaktionen nach ihrer Schwere als Verfolgung angesehen werden können und ob der Asylwerberin - im Falle von Privatverfolgung - staatlicher Schutz gewährt werden würde (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118 und 0119).

Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin, die im Iran aufgewachsen sei und niemals in Afghanistan gelebt haben soll, die sozialen Sitten in Afghanistan nicht kenne. Deshalb sei sie der begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit der sozialen Gruppe der verwestlichten Frauen ausgesetzt. Der Staat könne ihr keinen Schutz bieten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführerin wird folgendes festgestellt:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara zugehörig und schiitischen moslemischen Glaubens. Sie hat am 04.09.2018 gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz gestellt, nachdem zuvor rechtskräftig in einem "Dubil-Verfahren" die Zuständigkeit Kroatiens festgestellt wurde, die Beschwerdeführerin (mit ihren Kindern) jedoch nicht abgeschoben werden konnte.

Sie floh mit ihren Eltern kurz nach ihrer Geburt vor dem Krieg in Afghanistan in den Iran. Sie war legal im Iran, befristet mit jährlicher Verlängerung aufhältig und wuchs dort auf. Sie ging im Iran in die Schule und verdiente vor und nach der Eheschließung ihren Lebensunterhalt.

Sie wurde im Iran im Alter von 14 Jahren verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Ihr Ehemann wurde drogenabhängig und gewalttätig. Sie suchte Hilfe und ließ sich von ihrem Ehemann scheiden. Die Geschwister distanzierten sich von der Beschwerdeführerin. Obwohl die Kinder ihr zugesprochen wurden, bestand die Schwiegerfamilie und ihr Ex-Ehemann darauf, dass die Kinder bei der Schwiegerfamilie aufwachsen. Die Beschwerdeführerin bezahlte heimlich die Schwägerin, um ihre Kinder sehen zu können und nutze die Gelegenheit mit den Kindern zu fliehen, als sich die Grenzen in Europa öffneten.

Sie hatte keine Probleme mit afghanischen staatlichen Behörden und bewaffneten Gruppierungen, sie war noch nie in Afghanistan und hat keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte.

Im Bundesgebiet hält sie sich mit ihren zwei Söhnen auf. Diese sind ebenso Staatsangehörige von Afghanistan. Es besteht ein enger familiärer Zusammenhalt.

Die Beschwerdeführerin ist westlich orientiert und kleidet sich auch so:

Sie führt in Österreich ein selbstbestimmtes Leben, kann ihre Entscheidungen treffen und genießt 100% Freiheit. Sie strebt eine Berufsausbildung an, nachdem sie den Sprachlevel B erreicht hat. Bereits im Iran lehnte sie sich, wie bereits oben dargestellt, gegen die Regeln der islamischen Gesellschaft auf und ließ sich von ihrem drogenabhängigen Mann scheiden. Ihre Geschwister versagten ihr jegliche Hilfe.

Sie hat nunmehr als geschiedene Frau eine Partnerschaft, ohne mit diesem Mann verheiratet zu sein. Sie ist/war für die Erziehung ihrer Söhne zuständig und möchte, dass ihre Kinder im Haushalt einmal mithelfen und nicht "die männliche Dominanz und Sturheit haben".

Die Beschwerdeführerin ist sportlich aktiv, sie fährt u.a. Rad und geht, in einem Badeanzug, schwimmen.

Die Beschwerdeführerin ist nicht strafrechtlich verurteilt lt. Strafregisterauszug.

Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen folgendes festgestellt:

Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 2.9.2019). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018; vgl. AF 13.12.2017).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (BFA 4.2018; vgl. AA 2.9.2019), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 2.9.2019).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren, wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (BFA 13.6.2019).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (BFA 4.2018; vgl. UNAMA 24.12.2017).

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das "Gender Equality Project" der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018).

Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt ...) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass "im Namen der Frauenrechte" Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019).

Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018), was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (PAJ 10.12.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 2.9.2019).

Bildung für Mädchen

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten (HRW 17.10.2017). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung, sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 13.3.2019; vgl. UNICEF 27.5.2019). Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 erhöht und somit verdreifacht. Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (BFA 13.6.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; UNAMA 24.2.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Mittlerweile ist nicht mehr die Schließung von Schulen (wie es während der gewalttätigen Kampagne in den Jahren 2006-2008 der Fall war) Ziel der Aufständischen, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über diese. Die Kontrolle wird durch Vereinbarungen mit den jeweiligen örtlichen Regierungsstellen ausgehandelt und beinhaltet eine regelmäßige Inspektion der Schulen durch die Taliban (AREU 1.2016).

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041 (AF 13.2.2019; vgl. WB 6.11.2018), also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung - Kankor - ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).

Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht:

Bild kann nicht dargestellt werden

(WB 6.11.2018)

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten, aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen (WB 6.11.2018). Beispielsweise gibt es mittlerweile die erste (und einzige) Frau Afghanistans, die einen Doktor in Spielfilmregie und Drehbuch hat - diesen hat sie an einer Akademie in Bratislava abgeschlossen (RY 16.5.2019).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018; Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 13.3.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 2.9.2019; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019). Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben (WB 4.2019). Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019). Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 13.3.2019); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 13.3.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (BFA 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die Teilnahme von Frauen am politischen Prozess ist gesetzlich nicht eingeschränkt (USDOS 13.3.2019). Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 2.9.2019), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2018 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 13.3.2019). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2 % für das Jahr 2019 (AA 2.9.2019).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis, um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischen Gruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 13.3.2019).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Damen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 2.9.2019). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 13.3.2019). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin, sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Stand 2017 gab es landesweit 208 FRUs (USDOD 12.2017).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (BFA 4.2018; vgl. TD 4.12.2017).

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 2.9.2019). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 13.3.2019).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch. Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Justiz war weiterhin unterfinanziert, unterbesetzt, unzureichend ausgebildet, weitgehend ineffektiv und Drohungen, Voreingenommenheit, politischem Einfluss und allgegenwärtiger Korruption ausgesetzt (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 2.9.2019). Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).

Frauenhäuser

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 2.9.2019). Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen. Fast alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Institutionen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan (NYT 17.3.2018).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für "unmoralische Handlungen" und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 2.9.2019). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 2.9.2019).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 16 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 13.3.2019).

In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert (USDOS 13.3.2019).

Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 13.3.2019).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 2.9.2019). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor. UNAMA berichtet von 280 Ehrenmorden im Zeitraum Jänner 2016-Dezember 2017, wobei nur 18% von diesen zu einer Verurteilung und Haftstrafe führten. Trotz des Verbotes im EVAW-Gesetz üben Behörden oft Druck auf Opfer aus, auch schwere Verbrechen durch Mediation zu lösen. Dies führt zu Straflosigkeit für die Täter (USDOS 13.3.2019). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (KP 23.3.2016; vgl. UNAMA 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018). Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht (AA 2.9.2019). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 2.9.2019). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 13.3.2019). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 13.3.2019). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr, eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal und Ba'ad/Swara, bei denen Bräute zwischen Familien getauscht werden, sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Badal ist gesetzlich nicht verboten und weit verbreitet (USDOS 13.3.2019; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018).

Die Praxis des Ba'ad bzw. Swara ist in Afghanistan gesetzlich verboten, jedoch in ländlichen Regionen - vorwiegend in paschtunischen Gebieten - weit verbreitet. Dabei übergibt eine Familie zur Streitbeilegung ein weibliches Familienmitglied als Braut oder Dienerin an eine andere Familie. Das Alter der Frau spielt keine Rolle, es kann sich dabei auch um ein Kleinkind handeln (TRT 17.5.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, EASO 12.2017). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 2.9.2019; vgl. UNPF 17.7.2018, HPI 22.10.2016). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018).

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (BFA 13.6.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten