TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/11 W257 2156824-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.05.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

11.05.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W257 2156824-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA, als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 25.04.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.03.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wie folgt zu lauten hat:

"IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 6 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung".

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige XXXX (im Folgenden "Beschwerdeführer"), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Bei der Erstbefragung am 31.10.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei afghanischer Staatsbürger, sei am XXXX geboren und stamme aus der Provinz Herat. Er sei schiitischer Muslim, gehöre der Volksgruppe der Hazara an, sei ledig und habe zehn Jahre die Grundschule in Herat besucht. Seine Familie lebe in Afghanistan. Aus Afghanistan sei er geflohen, weil sein Bruder, vom Beruf Arzt, von den Taliban getötet geworden sei. Er habe gegen die Personen, die den Bruder umgebracht haben, eine Anzeige erstattet und sie seien von der Polizei festgenommen worden. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil er gegen die Taliban Mitglieder eine Anzeige erstattet habe und Angst um sein Leben habe.

1.3. Mit Schreiben vom 27.06.2016 bevollmächtigt der Kinder - und Jugendhilfeträger Land Steiermark, dieser vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Leoben als gesetzlicher Vertreter des Beschwerdeführers die rechtskundigen Mitarbeiter/innen der Caritas der Diözese Graz-Seckau den Beschwerdeführer zu vertreten.

1.4. Am 10.04.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des nunmehr volljährigen Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden "belangte Behörde") im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Hierbei brachte er zusammengefasst vor, dass er im Dorf XXXX , im Distrikt Injil, in der Provinz Herat geboren und aufgewachsen sei. Er habe zehn Jahr die Schule besucht und sein Vater habe bei einem privaten Sicherheitsdienst gearbeitet und damit den Lebensunterhalt für die Familie finanziert. Der Beschwerdeführer sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Seine Familie bestehe aus den Eltern, einem Bruder und drei Schwestern, die ebenfalls in XXXX leben. Sein Vater sei oft in Wardak und selten zu Hause und eine Schwester sei verheiratet und lebe in Kabul. Er habe nicht oft Kontakt mit seiner Familie, aber es gehe ihnen gut. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er an, dass sein Vater mit einem Kommandanten namens "Shojai" für die Sicherheit in Hazara bewohnten Provinzen wie Ghazni oder Wardak sorge. Vor ca. zweieinhalb Jahren habe der Taliban seinen Vater verfolgt und den Bruder, der studierte und zu Besuch im Familienhaus war, getötet. Mitglieder der Taliban hätten den Bruder des Beschwerdeführers entführt und dem Vater gedroht, er solle sich ergeben. Nach dem Tod des Bruders habe der Vater entschieden, dass er Afghanistan verlassen müsse.

Der Beschwerdeführer legte zwei Kursbestätigungen zur Integration vor.

1.5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und betreffend die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, der Beschwerdeführer sei keiner individuellen und aktuellen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen oder habe auch keine Furcht vor einer Bedrohung oder Verfolgung erlitten. Es bestehe keine Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Afghanistan eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren würde oder in eine ausweglose Lage geraten könne.

1.6. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht gegen diesen Bescheid das Rechtsmittel der Beschwerde, wobei er im Wesentlichen eine unrichtige Sachverhaltsfeststellung, eine mangelhafte Begründung, eine unrichtige rechtliche Beurteilung sowie das Vorliegen von Verfahrensmängeln geltend machte und weitergehende Länderinformationen vorbrachte. Er habe vor der belangten Behörde durchaus die Umstände, die einer asylrelevanten Verfolgung in seiner Heimat entsprechen, genannt und es lege eine Verfolgungsgefahr durch den Taliban vor. Auch habe die Erstbehörde keinerlei Ermittlungen hinsichtlich einer subsidiären Schutzberechtigung gemacht.

Zugleich wurde die Vollmacht vorgelegt, sodass seit diesem Zeitpunkt der Verein Menschenrechte Österreich die Vertretung des Beschwerdeführers übernommen hat.

1.7. Die belangte Behörde legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde zusammen mit dem Verwaltungsakt am 15.05.2017 zur Entscheidung vor.

1.8. Mit Beschluss des gegenständlichen Gerichtes vom 01.12.2017, Zl. XXXX , wurde das Verfahren eingestellt, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers unbekannt war. Er hat sich dem Asylverfahren damit entzogen. Eine Entscheidung ohne eine notwendige weitere Ermittlung, insbesondere mündlichen Verhandlung, war nicht möglich.

1.9. Am 21.12.2017 wurde vom Vertreter des Beschwerdeführers die Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2005 angeregt und eine aktuelle Hauptwohnsitzbestätigung beigelegt. Am 04.01.2018 legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht seinen aktuellen Meldezettel vor.

1.10. Mit verfahrensrechtlichen Beschluss vom 25.01.2018, Zl. XXXX wurde das Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2015 fortgeführt, weil die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wieder möglich war.

1.11. Mit Schreiben vom 27.09.2019 und 22.01.2018 legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen, insbesondere ein Taufzertifikat, eine Teilnahmebestätigung für das Steirische Jugendcollege und ein Zeugnis zur Integrationsprüfung vor.

1.12. Mit Schreiben vom 22.01.2020, 30.08.2018 und 22.11.2017 wurden die beiliegenden Eingaben von der belangten Behörde dem Beschwerdeverfahren nachgereicht, insbesondere eine Mitteilung bezüglich der Abmeldung von der Grundversorgung per 08.11.2017 und per 16.01.2020 aufgrund disziplinäre Gründe und Hausverweisung.

1.13. Das Bundesverwaltungsgericht setzte für den 04.03.2020 eine mündliche Verhandlung fest, wovon die Parteien nachweislich verständigt wurden.

Folgende Länderberichte des Herkunftsstaates des Beschwerdeführers werden dem Verfahren zu Grunde gelegt und den Parteien wurde im Rahmen des Parteiengehörs Gelegenheit geboten, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen.

- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 (LIB)

- EASO-Bericht vom April 2019; Afghanistan Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Masar-e Scharif und Herat; Informationsbericht über das Herkunftsland vom Juni 2019 (EASO COI)

- EASO Country Guidance Afghanistan vom Juni 2019: eingebracht in der mündlichen Verhandlung am 04.03.2020 (EASO CG)

Eine Stellungnahme langte nicht ein.

1.14. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 04.03.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der Beschwerdeführer im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm. Die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zu seinem primären Fluchtgrund befragt folgendes vor: Sein Vater habe als Mitglied einer Gruppierung namens Shojai gegen den Taliban gekämpft und sei deshalb auch verfolgt worden. Es sei so weit gegangen, dass Mitglieder der Taliban den Bruder getötet haben und versucht haben den Beschwerdeführer zu entführen.

Zusätzlich brachte der Beschwerdeführer bei der Verhandlung vor, dass er seinen Glauben gewechselt habe und zum Christentum konvertiert sei. Er sei in die Life Church eingetreten und wurde am 13.01.2018 getauft. Befragt, warum er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, führte er aus: Er könne dort nicht leben, weil er Christ sei, er niemanden mehr in Herat habe und alleine wäre und dort Krieg herrsche.

Der Beschwerdeführer legte zudem weitere Integrationsunterlagen vor, die als Beilage 1 und 2 zum Akt genommen wurden, insbesondere Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse und ein Schreiben des Co-Pastors der LIFE Church Leoben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , im XXXX , im Distrikt Injil, in der Provinz Herat, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist kinderlos und ledig.

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht außerdem etwas Deutsch. Der Beschwerdeführer wuchs in seinem Heimatdorf auf, wo er insgesamt 10 Jahre die Schule besuchte. Der Beschwerdeführer hat keine berufliche Ausbildung.

Die Eltern und drei Geschwister leben seit ca. 1 Jahr im Iran. Eine Schwester ist in Kabul aufhältig. Weitere Verwandte des Beschwerdeführers und deren näheren Aufenthalt konnten nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über nicht näher feststellbare weiteren Staaten nach Österreich, wo er illegal einreiste und am 29.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland keiner konkreten individuellen Verfolgung durch den Taliban ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

Der Beschwerdeführer wuchs in Afghanistan als schiitischer Muslim auf und entstammt einer nicht streng religiösen Familie. Es wird festgestellt, dass sich der Beschwerdeführer in Afghanistan nicht dem Christentum zuwandte oder christlich missionierte.

In Österreich kam der Beschwerdeführer mit dem Christentum im Jahr 2017 in Kontakt und wurde nach einem Taufvorbereitungskurs am 13.01.2018 in Leoben/Göss getauft.

Er besucht wöchentlich die Messe der Freikirche "Life Church Leoben", nahm an einem christlichen Grundlagenkurs namens "Alpha Kurs" teil und ist Teil einer Kleingruppe namens "Life Groups". Der Beschwerdeführer verfügt über Grundkenntnisse, aber kein tiefergehendes Wissen zum Christentum. Eine innere Überzeugung und Konversion zum Christentum konnte nicht festgestellt werden. Die christliche Glaubensüberzeugung ist aktuell nicht derart ernsthaft, sodass sie Bestandteil der Identität des Beschwerdeführers wurde. Es wird davon ausgegangen, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht privat oder öffentlich zum christlichen Glauben bekennen wird. Ihm droht aufgrund eines Religionswechsels keine physische und/oder psychische Gewalt.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass konkret der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich seit 4,5 Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

Dem Beschwerdeführer droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell keine Verfolgung in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara ist in Afghanistan physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Herat, Herkunftsort XXXX (gehört zur Stadt Herat), aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Sicherheitslage kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der Beschwerdeführer kann zumindest die Stadt Herat sicher mit dem Flugzeug erreichen und sich dort ansiedeln.

Die Wohnraum- und Versorgungslage ist zwar in Herat sehr angespannt, bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig.

Seine Existenz kann er in Herat -Stadt ohne unbilligen Härten - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern und familiäre Unterstützung erwarten. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen und familiären Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise.

Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Als gesunder junger Mann, droht ihm auch keine Gefahr einer tödlichen Erkrankung im Falle einer Ansteckung durch das Corona-Virus.

2.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung im Oktober 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung, da er bisher ohne Arbeitserlaubnis in Österreich nicht erwerbstätig war. Der Beschwerdeführer ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse, zurzeit auf Niveau B1 und ist in der Lage auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren. In seiner Freizeit spielt er Fußball mit Kollegen und er hat ehrenamtlich die Straßen gesäubert.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB), in dem EASO Bericht zu Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Masar-e Scharif und Herat vom April 2019 und im EASO Informationsbericht über das Herkunftsland vom Juni 2019 (EASO COI) und in den Country Guidance vom Juni 2019 (EASO CG) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

2.5.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge). (LIB)

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. (LIB)

Provinzen, in denen willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen keine reale Gefahr besteht, dass eine Zivilperson persönlich von willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) QD (Richtlinie 2011/95/EU) betroffen ist, sind Bamyan, Daikundi/Daykundi, Parwan und Samangan sowie Herat City und Mazar-e Sharif. Einzelne Elemente müssen jedoch immer berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoerhöhende Situationen bringen könnten. (EASO CG)

2.5.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität. (LIB)

Auf dem Territorium Afghanistans operiert eine Reihe bewaffneter Rebellengruppen, unter denen die Taliban als die mächtigste Gruppe gelten. Die Taliban haben auch eine formale Struktur geschaffen; es ist jedoch nicht klar, inwieweit sich alle Taliban-Gruppen an diese Struktur halten und die Taliban nicht als eine fest geeinte Bewegung angesehen werden kann. Unter dem Dach der Taliban lassen sich verschiedene Fraktionen mit mehr oder weniger Autonomie und manchmal rivalisierenden Interessen identifizieren. Es wird von regionalen Unterschieden in Bezug auf Einheit und Zusammenhalt berichtet, wobei einige lokale Befehlshaber in entlegenen Gebieten kaum Beziehungen zur zentralen Taliban-Führung haben. Die Reichweite einer aufständischen Gruppe hängt von ihrer Machtposition ab, einschließlich ihrer Netzwerke oder anderer Kooperationsmechanismen. Beispielsweise sind die Taliban zwar meist in ländlichen Gebieten präsent, doch es wird auch berichtet, dass sie ein Netzwerk von Informanten unterhalten und in den Städten nachrichtendienstliche Ermittlungen durchführen. Informationen deuten darauf hin, dass sie je nach Profil und individuellen Umständen selbst in Großstädten bestimmte Personen verfolgen werden. (EASO CG)

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen. Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben. (LIB)

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen. (LIB)

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren. (LIB)

2.5.3. Rechtsschutz / Justizwesen

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. [...] Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden. (LIB)

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. (LIB)

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. (LIB)

Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politischer Einflussnahme und weit verbreiteter Korruption beeinflusst. (LIB)

Aufständische Gruppen haben in Gebieten, die unter ihrer Kontrolle stehen, auch illegale parallele Justizsysteme eingerichtet. Diese parallelen Justizsysteme verhängen außergerichtliche Strafen, um Straftaten unter der strengen Auslegung der Scharia durch die aufständische Gruppe zu sanktionieren. Die Strafen beziehen sich sowohl auf gewöhnliche Verbrechen als auch auf Verstöße gegen den Moralkodex und umfassen schwere Rechtsverletzungen wie öffentliche Hinrichtungen durch Steinigung oder Erschießen und andere Formen der körperlichen Züchtigung. (EASO CG)

2.5.4. Sicherheitsbehörden

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. (LIB)

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan's Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt. (LIB)

Die ANA ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. [...] Die monatliche Ausfallsquote, die im zweiten Quartal 2019 durchschnittlich bei 2,6% lag, ist nach wie vor ein Problem in der ANA. (LIB)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA, jedoch ist es nach wie vor das Langzeitziel der ANP, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln. (LIB)

Die ALP wird ausschließlich durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische. Die Mitglieder werden von Dorfältesten oder lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer ausgewählt. (LIB)

2.5.5. Herkunftsprovinz Herat

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden. Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh, Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere "temporäre" Distrikte - Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko -, die zum Zweck einer zielgerichteten Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt. Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans. (LIB)

Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden. Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt. (LIB)

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden. Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala. Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt. (LIB)

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. (LIB)

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul. (LIB)

Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger. (LIB)

[...]

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. (LIB)

In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 und Januar 2019 Operationen in Shindand durch. Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat. Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch ist, sondern sich täglich ändert und sich in einer Pattsituation befindet. Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol. (LIB)

Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder. (LIB)

2.5.6. Erreichbarkeit/Sichere Einreise

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der "Ring Road", welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. (LIB)

Die Präsenz von Aufständischen, Zusammenstöße zwischen diesen und den afghanischen Sicherheitskräften, sowie die Gefahr von Straßenraub und Entführungen entlang einiger Straßenabschnitte beeinflussen die Sicherheit auf den afghanischen Straßen. Einige Beispiele dafür sind die Straßenabschnitte Kabul-Kandahar, Herat-Kandahar, Kunduz-Takhhar und Ghazni-Paktika. (LIB)

Ring Road

Die Ring Road, auch bekannt als Highway One, ist eine Straße, die das Landesinnere ringförmig umgibt. Die afghanische Ring Road ist Teil eines Autobahnprojekts von 3.360 km Länge, das 16 Provinzen mit den größten Städten Afghanistans, Kabul, Mazar, Herat, Ghazni und Jalalabad, verbinden soll. Sie verbindet außerdem Kabul mit den vier bedeutendsten Provinzhauptstädten Herat, Kandahar City, Jalalabad und Mazar-e Sharif. (LIB)

Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt (Migrationsverket 23.1.2018). Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, werden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt. (LIB)

Der internationale Flughafen Herat befindet sich 10 km von der Provinzhauptstadt Herat entfernt. Der Flughafen wird u.a. von den Sicherheitskräften der ISAF benutzt, die einen Stützpunkt neben dem Flughafen haben. 2011 wurde ein neues Terminal mit Finanzierung der italienischen Regierung errichtet. (LIB)

2.5.7. Wirtschafts- und Versorgungslage allgemein (vgl. 0)

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen aus dem Ausland abhängig ist. (LIB)

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. (LIB)

Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000). (LIB)

Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte. (LIB)

Laut Daten der Afghanistan Living Conditions Survey (ALCS) 2016 - 2017 können 2 Millionen Afghanen - das sind 23,9% der gesamten Erwerbsbevölkerung - als arbeitslos eingestuft werden, was bedeutet, dass sie nicht arbeiten oder eine Beschäftigung suchen, oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten. Junge Afghanen treten jedes Jahr in großer Zahl in den Arbeitsmarkt ein, aber die Beschäftigungsmöglichkeiten können aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Afghanistan war seit 2011-2012 mit einem starken Anstieg der Armut konfrontiert, wobei sowohl die städtischen als auch die ländlichen Armutsraten zunahmen. In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann. (EASO COI)

ALCS 2016 - 2017 stellte fest, dass nur 19,8% aller in Afghanistan beschäftigten Personen öffentlich und privat angestellt sind oder Arbeitgeber sind, was bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer eine gefährdete Beschäftigung darstellt. 52,6% der Landbevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt, während die städtische Beschäftigung vielfältiger ist. 36,5% der Erwerbsbevölkerung sind in verschiedenen Dienstleistungsbereichen beschäftigt und nur 5,5% in der Landwirtschaft. (EASO COI)

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an. (LIB)

Laut Daten der ALCS von 2016 bis 2017 sind 44,6% der afghanischen Bevölkerung - das sind 13 Millionen Menschen - sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war.(EASO COI)

Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Dies verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter und hatte zerstörerische Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken. Günstige Regenfälle im Frühling und beinahe normale Temperaturen haben 2019 die Weidebedingungen wieder verbessert (LIB).

Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge, Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen. Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben wurden. (LIB)

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können gemäß der Definition von UN-Habitat als Slums eingestuft werden. Der Bericht über den Zustand afghanischer Städte stellte fest, dass der Zugang zu angemessenem Wohnraum für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung darstellt. Armut und Ungleichheit sind die harte Realität für etwa ein Drittel aller städtischen Haushalte. (EASO COI)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht. (EASO COI)

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen, entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), 2 Passfotos und 1.000 AFN (ca. ? 12,-) bis 5.000 AFN (ca. ? 60,-) als Mindestkapital für das Bankkonto. Bis heute sind mehr als ein Dutzend Banken im Land aktiv: unter anderem die Afghanistan International Bank, Azizi Bank, Arian Bank, oder The First Microfinance Bank, Ghazanfar Bank, Maiwand Bank, Bakhtar Bank. (LIB)

Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen. (LIB)

Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld, z.B. 10.000 Euro und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (M) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (M) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt. So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen (LIB).

2.5.8. Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Herat (vgl. 0)

Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den "bessergestellten" und "sichereren Provinzen" Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass die Hälfte der arbeitstätigen Bevölkerung in Herat Tagelöhner sind, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind. (LIB)

Die Herater Wirtschaft bietet seit langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt. Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung). Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit, bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt. (EASO COI)

2.5.9. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60% der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird. (EASO COI)

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in ganz Afghanistan. (LIB)

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger/innen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. (LIB)

Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. (LIB)

Berichten von UNOCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patient/innen in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. (LIB)

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. (LIB)

2.5.10. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen. (LIB)

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ?Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen. (LIB)

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen. (LIB)

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA 7.2016). Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul. (LIB)

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans. (LIB)

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. (LIB)

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. (LIB)

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an. (LIB)

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 1.1.2018 bis 30.9.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt. (LIB)

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara. (LIB)

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden. (LIB)

2.5.11. Meldewesen

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig "gelbe Seiten" oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. (LIB)

2.5.12. Religion, Apostasie und Konversion

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. (LIB)

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie. (LIB)

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten