TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/15 W182 2178156-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.06.2020
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Entscheidungsdatum

15.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53 Abs1

Spruch

W182 2178156-1/34E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russsiche Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.10.2017, Zl. 374108905 – 160163201, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 13 Abs. 2, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 46, 52, 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des verhängten Einreiseverbotes auf 4 Jahre herabgesetzt wird. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste erstmals am 07.11.2004 gemeinsam mit seiner Gattin illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und brachte einen ersten Asylantrag ein. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er vor russischen Soldaten geflüchtet wäre, die ihn wegen seines Bruders, der im Jahr 2003 als Widerstandskämpfer gefallen wäre, in Tschetschenien festgenommen hätten.

Der Antrag wurde zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.12.2006, Zl. 04 22.670-BAL, gemäß § 7 Asylgesetz 1997, abgewiesen. Gleichzeitig wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation gem. § 8 AsylG 1997 als zulässig erklärt und dieser gem. § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung wurde mit Bescheid des seinerzeitigen Unabhängigen Bundesasylsenats vom 18.06.2008, Zl. 256.966/6/18E-XIV/16/07, gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen und wurde gem. § 8 leg.cit. festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation nicht zulässig sei. Gemäß § 15 Abs. 2 AsylG 1997 wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.06.2009 erteilt. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das individuelle Fluchtvorbringen des BF sich aufgrund erheblicher Widersprüche als unglaubwürdig erwiesen habe. Der BF sei allerdings wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in ärztlicher bzw. psychologischer Behandlung. Laut Länderfeststellungen sei die medizinische Versorgung in Tschetschenien unzureichend, wobei dem BF keine subjektiv zumutbare inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen offenstehe und er sohin binnen kurzer Zeit in eine ausweglose Lage geraten würde.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.10.2009, Zl. 04 22.670-BAL, wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bis zum 17.06.2010 erteilt. Aufgrund der Abwesenheit des BF und seiner Familie wurde sodann mit Beschluss des Bezirksgerichtes ein Abwesenheitskurator bestellt. In der Folge wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.02.2011, Zl. 04 22.670-BAL, dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen und dieser gem. § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Die Gattin und der Sohn des BF erhielten eine gleichlautende Entscheidung.

1.2. Am 28.02.2012 stellte der BF nach neuerlicher illegaler Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er im Wesentlichen vor, er sei im Winter 2010 nach Hause zurückgekehrt und erst im Februar 2012 wieder ausgereist. Nach der Asylantragstellung in Polen sei er gleich nach Österreich weitergereist.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2012, Zl. XXXX , wurde der BF gemäß § 114 Abs. 3 FPG wegen Schlepperei zu einer Freiheitstrafe von 15 Monaten, wobei zehn Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden, rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF im XXXX 2010 unter Zusammenwirken mit vier Mittätern die rechtswidrige Einreise und Durchreise einer zehnköpfigen Familie von Polen über die Slowakei nach Österreich samt Weitertransport nach Italien vorsätzlich mit Bereicherungsabsicht gefördert hat, indem er mit einem Mittäter die Weiterschleppung der Personen von Österreich nach Italien gegen Bezahlung eines Entgeltes von 800,- € mit zwei PKW durchgeführt hat. Als erschwerend wurde nichts, als mildernd der bisherige ordentliche Lebenswandel sowie das Faktengeständnis gewertet.

Mit Bescheid einer Bundespolizeidirektion vom 07.05.2012 wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren erlassen. Einer dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid eines Unabhängigen Verwaltungssenates vom 13.06.2012 insofern stattgegeben, als das Einreisverbot auf drei Jahre herabgesetzt wurde.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 16.03.2012 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 28.02.2012, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Asylantrages gemäß Art 16 Abs. 1 lit d der Dublin II-VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Polen zulässig sei. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 06.04.2012, Zl. S24 256.966-3/2012/2E, gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 idgF als unbegründet ab.

Am 25.05.2012 wurde der BF aus der Strafhaft bedingt entlassen und am 30.05.2012 nach Polen überstellt.

1.3. Am 13.06.2013 stellte der BF im Zuge einer fremdenpolizeilichen Anhaltung seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Aktenvermerk vom 03.07.2013 hielt das Bundesasylamt fest, dass im Falle des BF gemäß § 12a Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 kein faktischer Abschiebeschutz vorliege und am 26.06.2013 eine neuerliche Zuständigkeit Polens eingetreten sei. Eine aufrechte Ausweisung iSd § 12a sei gemäß § 10 Abs. 6 AsylG 2005 gegeben, da der BF am 30.05.2012 nach Polen überstellt worden sei und seit der Ausweisung und neuerlichen Asylantragstellung keine 18 Monate vergangen seien. Mit Schreiben vom 04.07.2013 teilte die Vertretung des BF mit, dass dieser an XXXX , einer schweren chronischen immunologischen Erkrankung leide, deren Behandelbarkeit in Polen fraglich sei. Gleichzeitig erfolgte eine Vorlage medizinischer Unterlagen (Patientenbrief des XXXX der Stadt XXXX über einen stationären Aufenthalt des BF in der Zeit zwischen 08.04.2013 und 16.04.2013). Demnach wurde beim BF die Diagnose XXXX gestellt und eine medikamentöse Therapie empfohlen. Am 16.04.2013 wurde der BF in deutlich gebessertem Allgemeinzustand nach Hause entlassen.

Am 06.08.2013 wurde der BF nach Polen überstellt.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.08.2013, Zl. 13 07.994-EAST Ost, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und wurde ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des BF gemäß Art. 16 Abs. 1 lit d der Dublin II-VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei.

Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshof vom 19.12.2013, Zahl S25 256.966-4/2013-7E, gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

Laut eines Schreibens der LPD XXXX vom 19.11.2013 wurde der BF nach einem neuerlichen Aufgriff in Österreich am 18.11.2013 in Schubhaft genommen. Am 05.12.2013 wurde der BF zum dritten Mal nach Polen überstellt.

1.4. Ende Jänner 2014 reiste der BF von Polen kommend – trotz bestehenden Einreiseverbotes – erneut nach Österreich ein und wurde am XXXX 2014 im Rahmen einer fremdenpolizeilichen Kontrolle festgenommen, wobei er sich mit einem fremden Ausweis legitimierte.

Am XXXX 2014 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen, wobei er angab, nach Österreich gekommen zu sein, da er hier medizinisch versorgt werde. Er sei verheiratet und für zwei Kinder sorgepflichtig. Seine Familie lebe in der Russischen Föderation.

In dieser Einvernahme vor dem Bundesamt brachte der BF am XXXX 2014 seinen insgesamt vierten Antrag auf internationalen Schutz ein.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX 2014, Zl. 374108905, wurde über den BF gemäß § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG 1991 die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung sowie der Sicherung der Abschiebung angeordnet.

Der BF befand sich in der Folge seit XXXX 2014 in Schubhaft und wurde am 21.02.2014 aufgrund eines Hungerstreiks entlassen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 09.04.2014, Zl. 374108905 – 14108359, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX 2014 erneut gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und gemäß Art. 18 Abs. 1 lit c der Dublin II-VO Polen eine Zuständigkeit Polens ausgesprochen und gegegn den BF gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Außerlandesbringung (nach Polen) ausgesprochen. Der Bescheid wurde rechtswirksam zugestellt und mangels Beschwerde rechtskräftig.

Der BF wurde am 13.07.2015 von Österreich nach Polen überstellt.

2.1. Der BF reiste am 02.02.2016 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag seinen fünften Antrag auf internationalen Schutz.

In einer Erstbefragung am 02.02.2016 sowie – nach Einbringung einer Säumnisbeschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG am 09.08.2017 - einer Einvernahme beim Bundesamt am 09.10.2017 gab der BF zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er im August 2015 von Polen in die Russische Föderation abgeschoben worden sei und im Jänner 2016 in Tschetschenien einen Einberufungsbefehl zur Armee erhalten habe. Da die Leute in die Ukraine in den Krieg geschickt werden, habe er das Herkunftsland wieder verlassen. Bei einer Rückkehr befürchte er, deswegen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Ein weiterer Grund sei, dass er seit 2012 an der Krankheit XXXX leide, die im Herkunftsland nicht erkannt und erst in Österreich diagnostiziert worden sei. Dazu legte er ein Konvolut an Befunden eines österreichischen Krankenhauses aus den Jahren 2013 bis 2015 vor. Der BF habe sich im Dezember 2015 von seiner Frau scheiden lassen und habe in Österreich vor drei Monaten nach islamischen Ritus eine Landsfrau geheiratet, die hier asylberechtigt sei.

2.2. In der Zwischenzeit wurde der BF mit Urteil eines Bezirksgerichtes vom XXXX 2016, Zl. XXXX , wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung sowie des Vergehens des Gebrauches eines fremden Ausweises gemäß §§ 229 Abs. 1, 231 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, die bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurde, rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF im XXXX 2014 eine auf den Namen einer anderen Person ausgestellte Asylkarte unterdrückt und am XXXX 2014 gegenüber der Polizei für sich selbst, als wäre der amtliche Ausweis für ihn ausgestellt worden, vorgewiesen hat.

2.3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30.10.2017, Zl. 374108905 – 160163201, wurde der Antrag des BF vom 02.02.2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit. abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr 100/2005, erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde festgestellt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2, 3 u. 6 BFA-VG, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkte V. und VI.). Weiters wurde festgestellt, dass der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 31.03.2012 verloren habe (Spruchpunkt VII.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.). Begründend wurde im Wesentlichen davon ausgegangen, dass das Fluchtvorbringen des BF nicht glaubhaft sei. Das Einreiseverbot wurde im Wesentlichen mit den strafrechtlichen Verurteilungen des BF sowie den zahlreichen illegalen Einreisen (auch trotz Einreisverbotes) ins Bundesgebiet, der Identitätsverschleierung sowie des Umstandes des „Untertauchens“ begründet.

Mit Verfahrensanordnung vom 30.10.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG eine Organisation als Rechtberater im Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

2.4. Gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 30.10.2017 wurde seitens des BF binnen offener Frist im vollen Umfang Beschwerde wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltlicher Rechtswidrigkeit erhoben. Weiters wurde die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.12.2017, Zl. W182 2178156-1/2Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Dazu wurde weiter ein Befund einer Augenklinik vom 12.10.2017 samt medikamentöser Therapie beigelegt.

2.5. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 13.02.2018, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF in Anwesenheit seiner Vertretung sowie eines Dolmetschers der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Der BF blieb im Wesentlichen bei seinen bereits im erstinstanzlichen Verfahren dargetanen Fluchtgründen, wonach er das Herkunftsland wegen einer Ladung zum Militär verlassen habe. Der BF legte als Beweismittel u.a. ein Arbeitszeugnisses, wonach er vom Oktober 2008 bis Juni 2009 bei der Firma als Schweißer beschäftigt gewesen sei, Lohn- und Gehaltsabrechnungen aus dem Jahr 2008/2009 sowie ein ÖSD-Diplom über eine positiv abgeschlossene Deutschprüfung auf Niveau A2 vor.

Der BF konnte eine Einstellungszusage eines Gastronomiebetriebes vom 14.03.2018 sowie eines Kleintransportunternehmens vom 05.03.2018 nachreichen.

2.6. Einer vom Bundesverwaltungsgericht in Auftrag gegebenen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 06.02.2018 zufolge seien die notwendigen Behandlungen von XXXX sowie die angefragten Wirkstoffe ( XXXX ) in Moskau verfügbar. XXXX sei in Russland eine sehr seltene Krankheit und gebe es kein Programm für kostenfreie medizinische Versorgung für diese Krankheit. Der Patient müsse selbst dafür aufkommen.

Laut Anfragebeantwortungen von Ärzten der den BF in Österreich behandelnde Klinik für Augenheilkunde und Optometrie vom 02.10.2018 und 17.10.2018 handle es sich bei XXXX grundsätzlich um eine XXXX , die sich an unterschiedlichen Organen manifestieren könne, wobei sich die Beschwerden danach richten würden, welche Organe von der Erkrankung betroffen seien. Im Falle des BF würden die Empfehlungen eine dauerhafte medikamentöse XXXX Therapie vorsehen. Eine Heilung im Wortsinn sei nicht möglich, da die Natur der Erkrankung einen rezidivierenden Verlauf zeige, in dem es immer wieder zu Entzündungsschüben unterschiedlicher Art kommen könne. Die Wahrscheinlichkeit für Rückfälle sei relativ hoch. Beim BF seien bisher Augen, Haut und Zentralnervensystem betroffene Organe gewesen. Die Frage, welche Folgen bei einer Nichtbehandlung entstehen würden, könne nur generell beantwortet werden, da es keine prognostischen Parameter für den Verlauf im individuellen Fall gebe. Das Spektrum möglicher Folgen sei breit gefasst von keinen bleibenden Schäden bis hin zum Organversagen, letzteres würde beim Auge Erblindung und beim Zentralnervensystem bleibende neurologische Schäden bedeuten. Es könne auch zum Stillstand der Erkrankung kommen, oder es könnten auch bisher nicht betroffene Organe bei neuen Schüben beteiligt sein, alle Varianten seien möglich.

Unter wiederholter Aufforderung aktuelle Befunde hinsichtlich seiner Erkrankung vorzulegen, wurden vom BF zuletzt ein Befund einer Klinik für Augenheilkunde und Optometrie vom Juli 2019, der eine unveränderte Diagnose sowie die Synopsis, dass kein Hinweis auf ein XXXX Rezidiv vorliege, enthielt. Als Therapie wurde eine dermatologische Kontrolle (Frage Therapieindikation) sowie eine Kontrolle in der XXXX Ambulanz in zwei Monaten empfohlen. Der Anamnese ist u.a. zu entnehmen, dass dzt. keine Therapie bestehe bzw. der BF monatelang keine Tabletten genommen habe.

2.7. Gegen den BF wurde mit Straferkenntnis einer Landespolizeidirektion vom XXXX 2018 wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand im Mai 2018 gemäß § 99 Abs. 1b iVm § 5 Abs. 1 StVO eine Geldstrafe von 1.600,- € verhängt. Mit Bescheid einer Landespolizeidirektion vom XXXX 2018 wurde dem BF die Lenkerberechtigung entzogen.

Mit Straferkenntnis einer Landespolizeidirektion vom XXXX 2019 wurde gegen den BF wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeuges ohne gültige Lenkerberechtigung im Mai 2019 gemäß § 37 Abs. 1 FSG iVm § 1 Abs. 3 FSG eine Geldstrafe von 2.180,- € verhängt.

2.8. Anlässlich einer fortgesetzten mündlichen Verhandlung am 02.06.2020 ist der BF trotz ausgewiesener Ladung unentschuldigt nicht erschienen. In der Verhandlung wurden die der Entscheidung zugrundeliegenden Länderinformationen dargetan.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und ist Muslim.

Er reiste erstmals im November 2004 illegal in das Bundesgebiet ein, wo er sich aufgrund eines Asylantrages bzw. seit Juni 2008 aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich aufgehalten hat und 2010 ins Herkunftsland zurückgekehrt ist, wobei er seit August 2010 im Bundesgebiet nicht mehr gemeldet war. In der Folge wurde dem BF mit Bescheid des Bundesasylamtes vom Februar 2011 die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter rechtskräftig entzogen.

Im Februar 2012 reiste der BF illegal ins Bundesgebiet ein und stellte einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, der zuletzt mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom April 2012 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und der BF nach Polen ausgewiesen wurde.

Mit Bescheid einer Bundespolizeidirektion vom Mai 2012 wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren erlassen, welches nach einem Berufungsverfahren auf drei Jahre herabgesetzt wurde. Ende Mai 2012 wurde der BF nach Polen überstellt.

Nach neuerlicher illegaler Einreise stellte der BF im Zuge einer fremdenpolizeilichen Anhaltung im Juni 2013 seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz, welcher rechtskräftig zurückgewiesen bzw. der BF nach Polen ausgewiesen wurde. Im August 2013 wurde der BF nach Polen überstellt.

Im November 2013 wurde der BF neuerlich in Österreich aufgegriffen und nach Schubhaftverhängung Anfang Dezember 2013 nach Polen überstellt.

Ende Jänner 2014 reiste der BF wiederum illegal ins Bundesgebiet ein, wobei er sich im Februar im Rahmen einer fremdenpolizeilichen Kontrolle mit einem fremden Ausweis legitimierte. Ein vierter Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom April 2014 zurückgewiesen und wurde rechtskräftig. Der BF wurde im Juli 2015 nach Polen überstellt.

Am 02.02.2016 reiste der BF illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag den gegenständlichen fünften Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF leidet an XXXX , wobei zuletzt weder schwerwiegende Beschwerden noch eine Therapie bestanden haben. Im Herkunftsstaat bestehen entsprechende Behandlungsmöglichkeiten.

Der BF ist seit 2015 geschieden. Seine Ex-Frau sowie zwei leibliche Kinder, seine Mutter, ein Bruder sowie zwei Schwestern halten sich im Herkunftsland auf. Ein weiterer Bruder lebt in Deutschland.

Der BF hat die Grundschule im Herkunftsland abgeschlossen und hat dort seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeiten sichern können. Er verfügt über eine Ausbildung als Stapler- und Kranführer. Er ist arbeitsfähig.

In Österreich halten sich bis auf einen Cousin, zu dem kein intensiver Kontakt besteht, keine Familienangehörige des BF auf.

Eine aktuell aufrechte Lebensgemeinschaft des BF zu einer ursprünglich aus dem Herkunftsland des BF stammenden, inzwischen österreichischen Staatsangehörigen konnte nicht festgestellt werden.

Der BF ist zwischen 2008 und 2009 einer legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der BF hat bis Juni 2019 Grundversorgung bezogen. Er geht keiner legalen Erwerbstätigkeit nach. Er konnte Einstellungszusagen aus dem Jahr 2018 vorlegen und Deutschkenntnisse auf Niveau A2 nachweisen.

Der BF wurde mit Urteil eines Landesgerichtes vom XXXX 2012 gemäß § 114 Abs. 3 FPG wegen Schlepperei zu einer Freiheitstrafe von 15 Monaten, wobei zehn Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden, rechtskräftig verurteilt. Weiters wurde er mit Urteil eines Bezirksgerichtes vom XXXX 2016 wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung sowie des Vergehens des Gebrauches eines fremden Ausweises gemäß §§ 229 Abs. 1, 231 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten rechtskräftig verurteilt.

Gegen den BF wurde weiters mit Straferkenntnis einer Landespolizeidirektion vom XXXX 2018 wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand eine Geldstrafe von 1.600,- € und mit Straferkenntnis einer Landespolizeidirektion vom XXXX 2019 wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeuges ohne gültigen Lenkerberechtigung eine Geldstrafe von 2.180,- € verhängt.

Das Vorbringen des BF, zuletzt 2015/2016 in Tschetschenien einen Einberufungsbefehl zur Armee erhalten zu habe, hat sich als unglaubwürdig erwiesen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.03.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islami

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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