Entscheidungsdatum
24.06.2020Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W243 2227386-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marianne WEBER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE-Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2019, GZ. 1128883809/161229537, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz wird zugelassen und der bekämpfte Bescheid wird behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der russischen Föderation, stellte erstmals am 06.09.2016 gemeinsam mit ihren damals noch minderjährigen Kindern, der Tochter XXXX geb. XXXX , und dem Sohn XXXX , geb. XXXX , einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Verfahren sämtlicher Familienmitglieder wurden am 12.09.2016 zugelassen.
Am 30.10.2018 wurden die Verfahren der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2005 eingestellt, nachdem zunächst die Tochter und sodann am 24.10.2018 die Beschwerdeführerin freiwillig in ihr Herkunftsland zurückgekehrt waren.
Der damals minderjährige Sohn XXXX verblieb hingegen im inhaltlichen Verfahren auf internationalen Schutz in Österreich und wurde seine Obsorge mit 18.10.2018 von der Jungendwohlfahrt übernommen. Von 14.03.2019 bis 08.08.2019 war sein Aufenthalt unbekannt.
2. Am 08.08.2019 stellten die Beschwerdeführerin und die beiden Kinder erneut einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und wurde die Familie sodann in Absprache mit dem Land NÖ, welches die Obsorge für den Sohn XXXX innehatte, gemeinsam in einer Betreuungsstelle untergebracht. Das Asylverfahren des Sohnes wurde fortgesetzt und wurden auch die Asylverfahren der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter aufgrund ihrer Anträge vom 06.09.2016 wiederaufgenommen.
Eine EURODAC-Treffermeldung ergab, dass die Beschwerdeführerin und ihre Tochter am 21.07.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland gestellt hatten.
3. Nach durchgeführter Rechtsberatung gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG fand am 30.08.2019 im Beisein eines Rechtsberaters die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) statt.
Dabei erklärte sie zunächst, sich psychisch und physisch in der Lage zu fühlen, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Sodann zu ihren Familienmitgliedern befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, ursprünglich drei Söhne und zwei Töchter gehabt zu haben; einer ihrer Söhne sei bereits gestorben. Ihr Sohn Beslan lebe in London und ihre ältere Tochter in Tschetschenien. Diese sei verheiratet und habe selbst zwei Söhne. Zu weiteren Verwandten im Heimatland befragt, erklärte die Beschwerdeführerin, dass dort noch eine Schwester aufhältig sei. Zur Frage, wann die Beschwerdeführerin und ihre Tochter erneut nach Österreich gereist wären, erklärte die Beschwerdeführerin, Grosny im Juli 2019 verlassen zu haben. Sie wären von Russland kommend nach Deutschland geflogen und hätten dort am Flughafen um Asyl angesucht. Vor ihrer erneuten Einreise in das Hoheitsgebiet der Dublinstaaten hätten sie sich durchgehend in Grosny bei ihrer Schwägerin aufgehalten; ihre Tochter XXXX sei in dieser Zeit immer bei ihr gewesen. Ihr Sohn XXXX habe nicht ausreisen wollen, da er beabsichtigt habe, in Österreich eine Ausbildung zu machen. Sie sei in regelmäßigem Kontakt mit dem Sohn gestanden und habe sie ihn – gleich nachdem sie wieder nach Österreich gekommen wäre – getroffen. Zuletzt habe ihr Sohn bei einer Bekannten gelebt, die Adresse wisse sie jedoch nicht. Das Verhältnis zu ihrem Sohn sei sehr gut und habe sie sehr gelitten, als sie ausgereist sei. Den Entschluss zur erneuten Ausreise aus dem Heimatland habe sie gleich nach ihrer Rückkehr dorthin gesetzt. Ihre Tochter könne zuhause nicht bleiben, da sie von einem Afghanen vergewaltigt worden sei. Es sei bereits um die Hand der Tochter angehalten worden und würde jemand davon erfahren, dass sie keine Jungfrau mehr sei, so würde ihre Tochter umgebracht werden; auch sie würde man umbringen. Die Beschwerdeführerin erklärte weiters, dass nur wenige Tage vor der erneuten Ausreise der Vater der Tochter anlässlich eines Besuches bei seiner Schwester beziehungsweise ihrer Schwägerin einen Brief der Tochter gefunden und sie daraufhin zusammengeschlagen habe. Auch habe er von ihr verlangt, dass sie eine Bestätigung ihrer Jungfräulichkeit vom Krankenhaus einhole. Eigene Gründe, weshalb sie die russische Föderation verlassen habe, habe die Beschwerdeführerin nicht. Eine Nichte von ihr sei jedoch nach Syrien geflohen und sei sie seither immer unter Beobachtung der Behörden gestanden. Dazu befragt, weshalb sie die Bundesrepublik Deutschland verlassen habe, um nach Österreich weiterzureisen, erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie zu ihrem Sohn habe wollen und es der Tochter in Österreich sehr gut gefallen habe. Der Beschwerdeführerin selbst sei es gleichgültig, wo sie lebe, sie wolle bloß ihre Kinder retten. Zur geplanten Vorgehensweise, sie zurück nach Deutschland auszuweisen, gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, nichts dagegen einzuwenden zu haben, sofern sich die deutschen Behörden dazu bereit erklären würden, auch ihren Sohn aufzunehmen, andernfalls würde sie sich weigern, nach Deutschland zurückzukehren.
4. Das BFA richtete am 23.09.2019 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmeersuchen betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Tochter an Deutschland. Der Umstand, dass sich auch der Sohn der Beschwerdeführerin im inhaltlichen Verfahren in Österreich befindet, wurde dabei seitens der Behörde nicht erwähnt.
Mit Schreiben vom 30.09.2019 erklärten sich die deutschen Behörden zur Übernahme der Beschwerdeführerin und deren Tochter ausdrücklich bereit.
Am 25.09.2019 wurde von der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn eine Zustimmungserklärung gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vorgelegt. Demnach würde die Familie gerne gemeinsam in Deutschland leben.
5. In der Folge wurden erneut Konsultationen mit Deutschland eingeleitet und wurden die deutschen Behörden darum ersucht, sich auch für das Asylverfahren des Sohnes der Beschwerdeführerin für zuständig zu erklären.
Mit Schreiben vom 24.10.2019 lehnten die deutschen Behörden die Übernahme des Sohnes ab und begründeten dies damit, dass die Zuständigkeit Österreichs für die Durchführung des Asylverfahrens des Sohnes unstrittig sei. Im Wiederaufnahmeersuchen betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Tochter habe der Sohn keine Erwähnung gefunden, weshalb der Bundesrepublik Deutschland nicht alle Fakten vorgelegen seien, um die Zuständigkeit zu prüfen. Nach der Rechtsauffassung der deutschen Behörden sei Österreich auch für Mutter und Schwester nach Art. 10 der Dublin III-VO zuständig. Abgesehen davon, gehe aus der Einvernahme zum Antrag auf internationalen Schutz des Sohnes vom 17.09.2019 hervor, dass gar keine besonders enge Bindung zu Mutter und Schwester bestehe. So sei daraus etwa zu entnehmen, dass, sofern er in Österreich arbeiten könnte, er lieber dort bleiben würde. Auch sei der Aufenthalt der Mutter und Tochter erneut unbekannt, weshalb sich schon deshalb keine humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben würden, erkennen ließen.
Mit hierauf erstatteter Remonstration vom 11.11.2019 ersuchte das BFA die deutsche Dublinbehörde um erneute Prüfung ihres Aufnahmegesuches. Es wurde vorgebracht, dass – zum Zeitpunkt der neuerlichen Antragstellung der Beschwerdeführerin und der Tochter – der Sohn nicht mehr der Obsorge seiner Mutter unterlegen und die Beschwerdeführerin sohin nicht mehr sein gesetzlicher Vormund beziehungsweise nicht mehr für ihn verantwortlich gewesen sei. Die Mutter sei demnach keine Familienangehörige im Sinne des Art 2 lit. g Teilstrich 3 der Dublin III-VO, weshalb Art. 10 Dublin III- VO nicht in Betracht gezogen werden könne, und sei folglich auch das Wiederaufnahmeersuchen gesondert und verordnungskonform geprüft worden. Der Sohn der Beschwerdeführerin sei am 17.09.2019 im Beisein seiner gesetzlichen Vertreterin befragt und in Bezug auf den Art. 17 Abs. 2 der Dublin III-VO belehrt worden. Ihm sei eine Bedenkzeit eingeräumt worden und habe er daraufhin ausdrücklich einem gemeinsamen Leben mit seiner Mutter zugestimmt. Auch sei es nicht richtig, dass sowohl Mutter und Tochter unbekannten Aufenthaltes wären, zumal dies nur auf die Tochter zutreffe. Die Mutter würde sich nach wie vor gemeinsam mit ihrem Sohn in der Betreuungsstelle befinden. Es bestehe eindeutig eine innige Verbindung zwischen Mutter und Sohn, ungeachtet dessen, dass die Obsorge bei der Jugendwohlfahrt liege.
Mit Antwortschreiben vom 15.11.2019 teilten die deutschen Behörden BFA mit, dass sie an ihrer bisherigen Auffassung festhielten, nicht für das Asylverfahren des Sohnes zuständig zu sein. Art 2 lit. g Teilstrich 3 der Dublin III-VO bestimme, dass lediglich im Falle eines Erwachsenen, welcher nicht der Vater oder die Mutter sei, dieser die zusätzliche Bedingung erfüllen müsse, nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaates für den Antragsteller verantwortlich zu sein. Die Beschwerdeführerin sei aber die Mutter des minderjährigen Sohnes und sohin jedenfalls seine Familienangehörige. Dass sich der Sohn in der Obhut der Jugendfürsorge befinde, sei unerheblich. Österreich sei zum Zeitpunkt der gemeinsamen Antragstellung der Familienangehörigen zweifelsfrei für die Durchführung des Asylverfahrens des minderjährigen Sohnes zuständig gewesen. Es sei jedenfalls nicht im Sinne der Dublin III-VO, mit der Durchführung zweier zeitlich versetzter Dublin-Verfahren erst die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates festzustellen, um dadurch erst die Möglichkeit zu haben eine zweifelsfreie (eigene) Zuständigkeit durch eine Ermessensentscheidung an einen anderen Mitgliedstaat abzugeben.
6. Am 04.12.2019 wurde die Beschwerdeführerin erneut vor dem BFA einvernommen. Sie erklärte sich wiederum physisch und psychisch in der Lage zu sehen, Angaben zu machen, doch sei sie aufgeregt, zumal ihr Leben durcheinandergeraten sei. Es gebe Familienprobleme und habe ihre Tochter die Betreuungsstelle nach einem gemeinsamen Streit verlassen. Seither wohne die Tochter bei einer Freundin in XXXX , wo sie allerdings nicht gemeldet sei. Die Tochter habe schon seit 2015 Probleme und habe die Beschwerdeführerin seither auch mit Herz- und Kreuzschmerzen zu kämpfen. Dagegen würde sie auch Medikamente einnehmen, Befunde könne sie jedoch keine vorlegen. Zu Verwandten in Österreich und/oder Europa befragt, erklärte die Beschwerdeführerin, dass ihre Kinder in Österreich leben würden. Mit ihrer Tochter habe sie derzeit nur über Telefon Kontakt, mit dem Sohn würde sie aber gemeinsam in der Betreuungsstelle leben. Ihr Sohn sei wie ein kleines Kind und sei daher von ihr abhängig. Darüber hinaus habe sie eine Schwester in Deutschland, mit welcher sie eine sehr gute Beziehung habe, und würden zudem Verwandte ihres Ehemannes in Belgien leben.
Darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da sich Deutschland dazu bereit erklärt habe, sie und ihre Tochter aufzunehmen, äußerte sich die Beschwerdeführerin dahingehend, dass sich ihre Kinder hier in Österreich sehr wohl fühlen würden und sie jedenfalls vorhabe, bei ihren Kindern zu bleiben. Zu den Länderfeststellungen zu Deutschland gab die Beschwerdeführerin keine Stellungnahme ab. Sie erklärte, nur eine Woche in Deutschland gewesen zu sein und dass ihr dort mitgeteilt worden sei, zu 99% nach Österreich abgeschoben zu werden, weshalb sie und die Tochter schließlich auch nach Österreich weitergereist wären. Als die beiden von Russland kommend in Deutschland mit dem Flugzeug gelandet wären, seien sie sofort von der Polizei abgeholt und in ein Lager gebracht worden. Sie habe aber von Anfang an zu ihrem Sohn nach Österreich weitereisen wollen.
Die Rechtsberaterin beantragte schließlich die Zulassung gemäß Art. 10 Dublin III-VO, zumal das Asylverfahren des minderjährigen Sohnes hier in Österreich geführt werde und wurde zudem vorgebracht, dass bezüglich der Eigenschaft als Familienangehöriger das Versteinerungsprinzip gelte. Auch werde ein neuerliches Konsultationsverfahren mit Deutschland beantragt, weil im bisher geführten Verfahren, Deutschland nicht darüber informiert worden sei, dass der minderjährige Sohn der Beschwerdeführerin ein offenes Asylverfahren in Österreich habe.
7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 19.12.2019 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO Deutschland für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen sei, weil gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-VO Deutschland für die Prüfung des Asylantrages zuständig sei und die Voraussetzungen zur Anwendung von Art. 16 (zwingende Zusammenführung von abhängigen Personen) beziehungsweise Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO (humanitäre Klausel) nicht vorliegen würden. Ein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, welche die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung der Beschwerdeführerin ernstlich für möglich erscheinen ließe, sei im Verfahren nicht erstattet und eine systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Deutschland sei nicht erkannt worden. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 sei nicht erschüttert worden und es habe sich kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ergeben. In Österreich würde sich zwar der Sohn der Beschwerdeführerin aufhalten, mit dem sie gemeinsam in der Betreuungsstelle lebe. Die Beschwerdeführerin habe aber ihr Familienleben mit dem Sohn bereits im Jahr 2018 selbstständig aufgegeben, als sie mit ihrer Tochter freiwillig nach Russland zurückgekehrt sei. Zumal eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen, nur unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK falle, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten würden, die über die übliche Bindungen hinausgehen, ergebe sich - insbesondere in Ermangelung gegenseitiger Abhängigkeiten - auch bei der Beziehung der Beschwerdeführerin zum volljährigen Sohn kein im Sinne des Art. 8 EMRK schützenswertes Familienleben, weshalb die Außerlandesbringung aus Österreich nach Deutschland keine Verletzung der EMRK darstelle.
8. Gegen den Bescheid des BFA erhob die Beschwerdeführerin durch ihre ausgewiesene Vertretung am 07.01.2020 fristgerecht Beschwerde und wurde gleichzeitig der Antrag gestellt, dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Inhaltlich wurde zusammengefasst vorgebracht, dass unabhängig davon, ob die Behörde auf den 06.09.2016 oder auf den 08.08.2019 als Zeitpunkt der Antragstellung abstelle, die Kinder der Beschwerdeführerin noch minderjährig gewesen seien. Es handle sich um Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 und wären deren Asylverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 gemeinsam zu führen. Dass über den Antrag der Beschwerdeführerin zurückweisend entschieden worden sei, obwohl die Verfahren der beiden Kinder noch offen wären, sei jedenfalls unzulässig. Die Zuständigkeit Österreichs würde sich ferner aus Art. 10 Dublin III- VO ergeben, weil sich der Sohn der Beschwerdeführerin hier im erstinstanzlichen Verfahren befinde. Dass der Sohn mittlerweile volljährig sei, schade nicht, da Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO normiere, dass in diesem Fall das Versteinerungsprinzip zur Anwendung komme; es komme also auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Antragstellung an. Dieser Umstand sei von der Rechtsberaterin bereits in der Einvernahme vorgetragen worden, doch habe sich die belangte Behörde nicht damit auseinandergesetzt. In eventu würde sich die Zuständigkeit Österreichs auch aufgrund der Eintrittspflicht Österreichs aufgrund der humanitären Klausel (Art. 16 in Verbindung mit Art. 17) sowie aufgrund der Verletzung von Art. 8 EMRK ergeben. Sofern die belangte Behörde die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts damit begründe, dass die in Österreich lebenden Kinder mittlerweile volljährig seien, so verkenne sie, dass ein Familienleben auch mit volljährigen Kindern weiterhin bestehen könne, wenn diese mit ihren Eltern in einem gemeinsamen Haushalt leben würden, so wie es bei der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn der Fall sei. Hinzu komme, dass der Sohn der Beschwerdeführerin an einer psychischen Störung leide und daher auf die Hilfe der Mutter angewiesen sei. Entsprechende Befunde könnten nachgereicht werden.
9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2020, GZ. W185 2227386-1/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Begründend wurde ausgeführt, dass ohne nähere Prüfung des Sachverhaltes nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass eine Abschiebung der Beschwerdeführerin eine Gefahr der Verletzung von Bestimmungen der EMRK bedeuten würde.
10. Am 04.05.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W243 neu zugewiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte am 06.09.2016 gemeinsamen mit ihren beiden damals noch minderjährigen Kindern, der Tochter XXXX , geb. XXXX , und dem Sohn XXXX , geb. XXXX , erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Nachdem die Tochter sowie die Beschwerdeführerin im Jahr 2018 wieder freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt waren, wurde deren Verfahren eingestellt.
Der damals minderjährige Sohn verblieb hingegen in Österreich und wurde seine Obsorge mit 18.10.2018 von der Jugendwohlfahrt übernommen. Von 14.03.2019 bis 08.08.2019 war sein Aufenthalt unbekannt, doch wurde das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von ihm jedenfalls nicht wieder verlassen. Über seinen Asylantrag wurde noch nicht entschieden.
Am 21.07.2019 stellten die Beschwerdeführerin und ihre Tochter in Deutschland jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem sie von einem Drittstaat kommend, erneut in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist waren.
Von dort aus reisten sie weiter bis nach Österreich, wo sie sich gemeinsam mit dem Sohn bei der Betreuungsstelle zusammenfanden und am 08.08.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich stellten. Die Beschwerdeführerin befindet sich seither mit ihrem Sohn in der genannten Betreuungsstelle; sie leben im gemeinsamen Haushalt. Der Aufenthalt der Tochter ist derzeit unbekannt.
Zum Zeitpunkt der genannten Anträge auf internationalen Schutz waren die beiden Kinder der Beschwerdeführerin noch minderjährig.
Das BFA richtete am 23.09.2019 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmeersuchen betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Tochter an Deutschland. Die Tatsache, dass sich auch der Sohn der Beschwerdeführerin in Österreich aufhält und sich im inhaltlichen Asylverfahren befindet, wurde dabei nicht erwähnt. Mit Schreiben vom 30.09.2019 erklärte sich die deutsche Dublinbehörde in Unkenntnis dessen, dass sich der Sohn der Beschwerdeführerin in einem inhaltlichen Verfahren in Österreich befindet, zur Übernahme der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter bereit.
Ab 07.10.2019 wurden Konsultationen betreffend den Sohn der Beschwerdeführerin mit Deutschland geführt. Es wurde nun ersucht, auch den Sohn der Beschwerdeführerin aufzunehmen, dies auf Grundlage des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Trotz angestrebten Remonstrationsverfahrens beharrten die deutschen Behörden darauf, nicht für das Asylverfahren des Sohnes der Beschwerdeführerin zuständig zu sein.
Als maßgeblich festgestellt wird, dass sich das seitens der belangten Behörde an die deutschen Behörden gerichtete Wiederaufnahmegesuch betreffend die Beschwerdeführerin als qualifiziert mangelhaft erweist. Eine Sanierung dieses Mangels ist aufgrund des zwischenzeitigen Ablaufs der zweimonatigen Frist zur Stellung eines (ordnungsgemäßen) Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO (bei Vorliegen eines EURODAC-Treffers) nicht mehr möglich. Österreich wurde somit für die Prüfung des Antrages der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO zuständig.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zu den erstmalig im Jahr 2016 in Österreich gestellten Anträgen der Beschwerdeführerin und ihren beiden Kindern auf internationalen Schutz sowie den damit zusammenhängenden Verfahren beziehungsweise Verfahrensausgängen, zur erneuten Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den damit einhergehenden Reisebewegungen (beziehungsweise dem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet hinsichtlich des Sohnes der Beschwerdeführerin) und schließlich zur gegenständlichen Antragstellung auf internationalen Schutz am 08.08.2019 in Österreich ergeben sich aus den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin und der Aktenlage.
Dass die Beschwerdeführerin und ihre Tochter zwischenzeitig am 21.07.2019 in Deutschland jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatten, erschließt sich insbesondere aus dem vorliegenden EURODAC-Treffer der Kategorie 1 mit Deutschland.
Dass die Kinder der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der angeführten Antragstellungen minderjährig waren, ist unbestritten und ist der Verfahrensstand zum Verfahren des Sohnes, wonach ihn betreffend noch keine Entscheidung in der Sache ergangen ist, aktenkundig.
Die Feststellungen zu den dargestellten Konsultationen mit Deutschland im Hinblick auf das Wiederaufnahmeersuchen betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Tochter sowie das Aufnahmeersuchen betreffend den Sohn und dem hiezu angestrebten Remonstrationsverfahren leiten sich aus den durchgeführten Konsultationsverfahren zwischen den betroffenen Dublin-Behörden ab. Der diesbezügliche Schriftverkehr liegt ebenfalls dem Verwaltungsakt ein.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Aufhebung des angefochtenen Bescheides:
3.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) idgF lauten:
„§ 5. (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.
(2) [...]
(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.
§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3.-5. […]
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.
(2)-(3) […]“
3.2. § 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF lautet:
„Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“
3.3. Die maßgeblichen Stimmungen der Dublin III-VO lauten auszugsweise:
„Art. 2 Definitionen
Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
(...)
g) ‚Familienangehörige' die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
- der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare,
- die minderjährigen Kinder des im ersten Gedankenstrich genannten Paares oder des Antragstellers, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach nationalem Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt,
- bei einem minderjährigen und unverheirateten Antragsteller, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem der Erwachsene sich aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich ist,
- bei einem unverheirateten, minderjährigen Begünstigten internationalen Schutzes, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der/die entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem sich der Begünstigte aufhält, für ihn verantwortlich ist;
(…)
Art. 7 Rangfolge der Kriterien
(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.
(2) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 6 genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.
Art. 10 Familienangehörige, die internationalen Schutz beantragt haben
Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.
Art. 13 Einreise und/oder Aufenthalt
(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 dieser Verordnung genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.
(2) Ist ein Mitgliedstaat nicht oder gemäß Absatz 1 dieses Artikels nicht länger zuständig und wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 genannten Verzeichnissen festgestellt, dass der Antragsteller - der illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist oder bei dem die Umstände der Einreise nicht festgestellt werden können - sich vor der Antragstellung während eines ununter-brochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.
Hat sich der Antragsteller für Zeiträume von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.
(...)
Art. 16 Abhängige Personen
(1) Ist ein Antragsteller wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, schwerer Krankheit, ernsthafter Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung seines Kindes, eines seiner Geschwister oder eines Elternteils, das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, angewiesen oder ist sein Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil, das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, auf die Unterstützung des Antragstellers angewiesen, so entscheiden die Mitgliedstaaten in der Regel, den Antragsteller und dieses Kind, dieses seiner Geschwister oder Elternteil nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat, das Kind, eines seiner Geschwister oder der Elternteil in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen und die betroffenen Personen ihren Wunsch schriftlich kundgetan haben.
(2) Hält sich das Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil im Sinne des Absatzes 1 rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat als der Antragsteller auf, so ist der Mitgliedstaat, in dem sich das Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil rechtmäßig aufhält, zuständiger Mitgliedstaat, sofern der Gesundheitszustand des Antragstellers diesen nicht längerfristig daran hindert, in diesen Mitgliedstaat zu reisen. In diesem Fall, ist der Mitgliedstaat, in dem sich der Antragsteller aufhält, zuständiger Mitgliedstaat. Dieser Mitgliedstaat kann nicht zum Gegenstand der Verpflichtung gemacht werden, das Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil in sein Hoheitsgebiet zu verbringen.
(3) Der Kommission wird die Befugnis übertragen gemäß Artikel 45 in Bezug auf die Elemente, die zur Beurteilung des Abhängigkeitsverhältnisses zu berücksichtigen sind, in Bezug auf die Kriterien zur Feststellung des Bestehens einer nachgewiesenen familiären Bindung, in Bezug auf die Kriterien zur Beurteilung der Fähigkeit der betreffenden Person zur Sorge für die abhängige Person und in Bezug auf die Elemente, die zur Beurteilung einer längerfristigen Reiseunfähigkeit zu berücksichtigen sind, delegierte Rechtsakte zu erlassen.
(4) Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten fest. Diese Durchführungsrechtsakte werden nach dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.
Art. 17 Ermessensklauseln
(1) Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Er unterrichtet gegebenenfalls über das elektronische Kommunikationsnetz DubliNet, das gemäß Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 eingerichtet worden ist, den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.
Der Mitgliedstaat, der nach Maßgabe dieses Absatzes zuständig wird, teilt diese Tatsache unverzüglich über Eurodac nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 mit, indem er den Zeitpunkt über die erfolgte Entscheidung zur Prüfung des Antrags anfügt.
(...)
Art. 18 Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats
(1) Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:
a) einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 21, 22 und 29 aufzunehmen;
b) einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;
c) einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;
d) einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.
(2) Der zuständige Mitgliedstaat prüft in allen dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstaben a und b unterliegenden Fällen den gestellten Antrag auf internationalen Schutz oder schließt seine Prüfung ab.
Hat der zuständige Mitgliedstaat in den in den Anwendungsbereich von Absatz 1 Buchstabe c fallenden Fällen die Prüfung nicht fortgeführt, nachdem der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist, stellt dieser Mitgliedstaat sicher, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird.
In diesen Fällen gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Prüfung des Antrags abgeschlossen wird. In den in den Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstabe d fallenden Fällen, in denen der Antrag nur in erster Instanz abgelehnt worden ist, stellt der zuständige Mitgliedstaat sicher, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat oder hatte, einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 der Richtlinie 2013/32/EU einzulegen.
Art. 20 Einleitung des Verfahrens
(1) Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.
(2) Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.
(3)-(5) [...]
Art. 23 Wiederaufnahmegesuch bei erneuter Antragstellung im ersuchenden Mitgliedstaat
(1) Ist ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass nach Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.
(2) Ein Wiederaufnahmegesuch ist so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung im Sinne von Artikel 9 Absatz 5 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 zu stellen.
Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Artikel 20 Absatz 2 gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.
(3) Erfolgt das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 festgesetzten Frist, so ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde.
(4) Für ein Wiederaufnahmegesuch ist ein Standardformblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien im Sinne der beiden Verzeichnisse nach Artikel 22 Absatz 3 und/oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung der betroffenen Person enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat auf Grundlage der in dieser Verordnung festgelegten Kriterien zuständig ist.
Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für die Erstellung und Übermittlung von Wiederaufnahmegesuchen fest. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 gennanten Prüfverfahren erlassen.
Art. 25 Antwort auf ein Wiederaufnahmegesuch
(1) Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Wiederaufnahme der betreffenden Person so rasch wie möglich, in jedem Fall aber nicht später als einen Monat, nachdem er mit dem Gesuch befasst wurde. Stützt sich der Antrag auf Angaben aus dem Eurodac-System, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen.
(2) Wird innerhalb der Frist von einem Monat oder der Frist von zwei Wochen gemäß Absatz 1 keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffende Person wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.“
3.4. Im gegenständlichen Fall hat die Beschwerdeführerin erstmals am 06.09.2016 gemeinsam mit ihren beiden damals minderjährigen Kindern einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt und wurde ihr Verfahren hier auch zugelassen. Da sie aufgrund ihrer freiwilligen Rückkehr in ihr Heimatland das Gebiet der Mitgliedstaaten jedenfalls für mehr als drei Monate wieder verlassen hat, ist die Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung ihres Antrages gemäß Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO zwischenzeitig wieder erloschen.
Im Jahr 2019 reiste sie erneut in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein, und zwar per Flugzeug nach Deutschland. Mit dem am 21.07.2019 gestellten Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland begann das Zuständigkeitsprüfungsverfahren von neuem, und war dieser Antrag sohin wiederum „der erste“ im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Dublin III-VO.
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich das in der Folge seitens des BFA mit den deutschen Behörden durchgeführte Konsultationsverfahren als qualifiziert mangelhaft erweist. So blieb in dem die Beschwerdeführerin und ihre Tochter betreffende Wiederaufnahmegesuch vom 23.09.2019 seitens der belangten Behörde die aktenkundige Tatsache vollkommen unerwähnt, dass sich auch der (damals minderjährige) Sohn der Beschwerdeführerin im österreichischen Bundesgebiet aufhält und sich in Österreich im laufenden Asylverfahren befindet. Trotz Kenntnis über diesen Umstand wurden die deutschen Behörden über diesen ganz wesentlichen Sachverhalt nicht informiert, was zu Recht von diesen gerügt wird. So sieht Art. 23 Abs. 4 Dublin III-VO vor, dass das Gesuch Beweismittel oder Indizien und/oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung der betroffenen Person enthalten muss, anhand derer die Behörden des ersuchten Mitgliedstaates prüfen können, ob ihr Staat auf Grundlage der Verordnung zuständig ist.
Eine nachträgliche Sanierung dieses Mangels ist gegenständlich aufgrund des zwischenzeitigen Ablaufs der Frist zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs iSd Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO, wonach das Gesuch spätestens zwei Monate nach der Eurodac-Treffermeldung zu stellen ist, zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr möglich. Davon ausgehend, dass die Eurodac-Treffermeldung am 08.08.2019 erfolgte, hätte ein mängelfreies Wiederaufnahmegesuch nämlich bis spätestens 08.10.2019 gestellt werden müssen.
Somit ist Österreich aufgrund des Fristablaufs für die Prüfung des Antrages der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO, welcher normiert, dass der Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag gestellt wurde, für ebendiesen zuständig wird, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Abs. 2 festgesetzten Frist erfolgt, zuständig geworden.
3.5. Selbst wenn aber das Konsultationsverfahren mängelfrei erfolgt wäre, ergäbe sich eine Zuständigkeit Österreichs zur Verfahrensführung der Beschwerdeführerin nunmehr jedenfalls gemäß Art. 10 Dublin III-VO, da die Beschwerdeführerin – wie festgestellt – in dem nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt in Österreich einen Familienangehörigen, nämlich den damals noch minderjährigen Sohn (vgl. Art. 2 lit. g 2. Teilstrich Dublin III-VO), hatte, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.
Sofern das BFA von einer Zuständigkeit Deutschlands nach Art. 13 Dublin III- VO ausgeht, zumal die Beschwerdeführerin von einem Drittstaat kommen per Flugzeug dorthin einreiste, so ist festzuhalten, dass - unter Berücksichtigung der Rangfolge der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Dublin III-VO - Art. 10 Dublin III-VO vorrangig zur Anwendung kommt. Der Wunsch auf Zusammenführung der betreffenden Personen in Österreich wurde spätestens im Beschwerdeverfahren ausdrücklich kundgetan.
Nach der Sachverhaltsversteinerungsregel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist bei der Prüfung der Zuständigkeitskriterien lediglich jener Sachverhalt beachtlich, der zum Zeitpunkt des ersten Antrages auf internationalen Schutzes vorgelegen hat. Nachträgliche Änderungen beispielsweise im Personalstatut des Antragstellers, sind im Rahmen des Anwendungsbereichs des Kapitel III der vorliegenden Verordnung grundsätzlich unbeachtlich. Maßgeblich ist daher grundsätzlich nicht der Sachverhalt zum Zeitpunkt der Einleitung eines Konsultationsverfahrens, sondern jener zum Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung in einem der Mitgliedstaaten (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, K4 zu Art. 7). Demnach ist es auch unbeachtlich, dass der Sohn der Beschwerdeführerin mittlerweile volljährig ist.
Ebenso unbeachtlich ist, dass – wie von der Behörde vorgebracht - zum Zeitpunkt der neuerlichen Antragstellung der Beschwerdeführerin ihr Sohn nicht mehr ihrer Obsorge unterlegen war und die Beschwerdeführerin sohin nicht mehr sein gesetzlicher Vormund beziehungsweise nicht mehr für ihn verantwortlich gewesen ist. Wie von den deutschen Behörden zutreffend erläutert, bestimmt Art. 2 lit. g 3. Teilstrich Dublin III-VO lediglich, dass im Falle eines Erwachsenen, welcher nicht der Vater oder die Mutter ist, dieser auch die zusätzliche Bedingung erfüllen muss, nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaates für den Antragsteller verantwortlich zu sein. Als Mutter des zum maßgeblichen Zeitpunkt noch minderjährigen Sohnes ist die Beschwerdeführerin aber jedenfalls unabhängig von einer gesetzlichen Vormundschaft als seine Familienangehörige anzusehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach auch im Zusammenhang mit DublinVerfahren ausgesprochen, dass die Bestimmung des § 34 Abs. 4 AsylG 2005, wonach alle Familienangehörigen entweder den gleichen Schutzumfang erhalten oder alle Anträge „als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen“ sind, dahingehend zu verstehen ist, dass im Familienverfahren gegenüber allen Familienangehörigen dieselbe Art der Erledigung zu treffen ist. Ist daher der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, so sind entweder alle Anträge zurückzuweisen oder alle Anträge abzuweisen (vgl. etwa VwGH vom 25. November 2009, 2007/01/1153, mwN).
Sofern die Beschwerdeführerin nun in ihrem Beschwerdeschriftsatz vorbringt, dass die Asylverfahren der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder auf der Grundlage des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 gemeinsam zu führen wären und dass es sohin nicht zulässig gewesen sei, den Antrag der Beschwerdeführerin zurückzuweisen, obwohl die Verfahren der beiden Kinder noch offen wären, so ist festzuhalten, dass Fälle, die Mitglieder einer Kernfamilie betreffen, in der Regel schon von Art. 10 und Art. 11 Dublin III-VO erfasst sind und lediglich in Ausnahmefällen die nationale Regelung des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 zum Tragen kommt (vgl. VwGH Ra 2015/18/0192).
3.6. In Hinblick auf das Eventualbegehren der Beschwerdeführerin, wonach Österreich letztlich aufgrund der humanitären Klausel (Art. 16 iVm Art. 17 Dublin III-VO) sowie aufgrund der Verletzung von Art. 8 EMRK vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen hätte, so ist nur der Vollständigkeit halber anzumerken:
Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 8 EMRK Rz 76).
Die Beschwerdeführerin lebt mit ihrem nunmehr volljährigen Sohn gemeinsam in der einer Betreuungsstelle. Der gemeinsame Haushalt wurde zu einem Zeitpunkt begründet, als der Sohn noch minderjährig war und hat seither fortbestanden; es liegen sohin Indizien für das Bestehen eines aufrechten Familienlebens vor.
Sofern das BFA hiezu vorbringt, dass die Beschwerdeführerin ihr Familienleben mit dem Sohn bereits im Jahr 2018 selbstständig aufgegeben hätte, als sie mit ihrer Tochter freiwillig nach Russland zurückgekehrt sei, so ist diesbezüglich anzumerken, dass die besonders geschützte Verbindung zwischen Eltern und ihren Kindern nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden kann (vgl. EGMR, 19.2.1996, Gül, Appl. 23218/94 Z32), weshalb nicht ohne weiters davon auszugehen ist, dass das Familienleben zwischen der Beschwerdeführerin und dem damals noch minderjährigen Sohn allein dadurch nicht mehr fortbestanden hätte.
Abgesehen davon ist das BFA hinsichtlich seiner Argumentationslinie auch nicht konsequent, zumal im Konsultationsverfahren mit Deutschland noch erklärt wurde, dass eine innige Verbindung zwischen Mutter und Sohn bestehe, weshalb auch ersucht worden sei, die beiden aus humanitären Gründen auf der Grundlage des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zusammenzuführen. Dass das BFA im angefochtenen Bescheid nunmehr erklärt, dass kein schützenswertes Familienleben vorliege, welches zum Gebrauch des Selbsteintrittsrechts veranlasse, ist daher nicht nachvollziehbar.
Insgesamt hat sich das BFA mit der familiären Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrem nunmehr erwachsenen Sohn nur unzureichend auseinandergesetzt und hätten insbesondere auch nähere Ermittlungen hinsichtlich allfälliger Abhängigkeiten zwischen den Beteiligten erfolgen müssen, um beurteilen zu können, ob deren Beziehung unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK fällt.
3.7. Die eben getätigten Erwägungen wurden aber wie bereits erwähnt nur der Vollständigkeit halber festgehalten, zumal Österreich für die Prüfung des Antrages der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz bereits auf Basis des mangelhaft durchgeführten Wiederaufnahmegesuchs und in der Folge aufgrund des zwischenzeitigen Ablaufs der Frist gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO jedenfalls zuständig geworden ist.
Der Beschwerde war daher gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattzugeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz zuzulassen und der bekämpfte Bescheid zu beheben.
3.8. Gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 Satz 1 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des VwGH abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH nicht einheitlich beantwortet wurde.
Im vorliegenden Fall ist die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt.
Hinsichtlich der Einordnung des Sachverhaltes konnte sich das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf die Rechtsprechung der Höchstgerichte und des EGMR bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den rechtlichen Erwägungen wiedergegeben.
Schlagworte
Fristablauf Fristversäumung Überstellungsfrist Verfristung ZulassungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W243.2227386.1.00Im RIS seit
09.10.2020Zuletzt aktualisiert am
09.10.2020