TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/16 W232 1435236-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.07.2020
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Entscheidungsdatum

16.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W232 1435236-2/5E

W232 2232374-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Simone BÖCKMANN-WINKLER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , und 2) XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , beide StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1) vom 25.03.2020, Zl. 820589107-191296856 und 2) vom 26.03.2020, Zl. 1261703005-200275908, nach Beschwerdevorentscheidungen vom 02.06.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 14.05.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 29.04.2013 wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen und die Erstbeschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

3.Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.07.2014, Z. W112 1435236-1/5E, wurde der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

4. Mit Bescheid vom 31.08.2015 wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation wurde gemäß § 52 FPG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt. Gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 57 und 55 AsylG wurde der Erstbeschwerdeführerin 2005 ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erteilt.

5. Im Jänner 2018 reiste die Erstbeschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.

6. Am 18.12.2019 stellte die Erstbeschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

7. Am XXXX wurde die Zweitbeschwerdeführerin im Bundesgebiet geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin, als gesetzliche Vertreterin, am 11.03.2020 anhand der Vorlage der Geburtsurkunde, einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005.

8. Im Zuge einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11.03.2020 brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, derzeit bei ihrer Mutter wohnhaft zu sein und von ihrer Mutter unterstützt zu werden. Seitdem sie ein Kind habe, die Zweitbeschwerdeführerin, habe ihre Mutter finanzielle Probleme, da ihr die Sozialhilfe gestrichen worden sei. Sie erhalte keinerlei andere soziale Unterstützung. Sie sei verheiratet, ihr Ehemann sei in Polen aufhältig und habe sie keinen Kontakt zu ihm herstellen können. Weiters brachte sie vor, gesund zu sein. Sie gehöre der Volksgruppe der Tschetschenen an und sei muslimischen Glaubens. In Österreich habe sie die Hauptschule besucht. In Österreich lebe ihre Mutter und vier Brüder. Anfang Jänner 2018 habe sie Österreich verlassen und sei sie nach Tschetschenien gefahren, weil sie von ihrer Oma informiert worden sei, dass ihr Vater schwer krank sei. Ihre Eltern seien geschieden und sei sie zu ihrem Vater nach Tschetschenien gefahren. Dieser habe ihr verboten nach Österreich zurückzureisen. Nachdem sie im Jahr 2018 die Volljährigkeit erreicht habe, habe sie geheiratet. Sie habe zuerst bei ihrem Vater und nach ihrer Heirat bei ihrem Ehemann gelebt. Sie hätten wieder nach Österreich kommen wollen, wobei zu dieser Zeit ihr Opa verstorben sei und habe sie durch den ganzen Stress im Februar 2019 ihr Kind verloren. Danach sei sie etwa ein Monat im Krankenhaus gewesen. Im März 2019 sei sie erneut schwanger geworden. Sie habe bis zum sechsten oder siebten Monat gewartet. Als sie genug Geld zusammen gehabt hätten, hätten sie sich im November 2019 wieder auf den Weg nach Österreich gemacht. Sie sei zuerst von Weißrussland nach Polen und folglich im Dezember 2019 von Polen nach Österreich gekommen. Ihr Ehemann sei in Polen geblieben. Sie habe Kontakt zu ihrer Tante und ihrer Oma in Tschetschenien. Zur minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin befragt, brachte die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst vor, dass die Zweitbeschwerdeführerin gesund sei. Sie stehe weder in ärztlicher Behandlung noch nehme sie Medikamente. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie keine finanzielle Unterstützung zu erhalten. Sie würde nicht bei ihrem Vater leben wollen. Sie habe Angst, dass ihr Vater ihr Kind zur Familie ihres Ehemanns gebe er sie alleine zuhause lassen würde.

9. Mit Bescheid vom 25.03.2020 im Fall der Erstbeschwerdeführerin und vom 26.03.2020 im Fall der Zweitbeschwerdeführerin wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkte II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass die Erstbeschwerdeführerin ihren Aufenthalt im Bundesgebiet, der seit 2012 bestanden habe, durch ihre Ausreise im Jänner 2018 und ihre Rückkehr im Dezember 2019 unterbrochen habe. Seit ihrer illegalen Einreise im Dezember 2019 sei die Erstbeschwerdeführerin erneut im Bundesgebiet aufhältig. Die Zweitbeschwerdeführerin sei am XXXX im Bundesgebiet geboren worden. Die Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK habe jedoch nichts an deren illegalen Aufenthaltsstatus geändert. Das Familienleben der Erstbeschwerdeführerin mit der Mutter und ihren vier Brüdern habe erst seit Dezember 2019 bestanden. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich habe sie ihre sozialen Kontakte im Bundesgebiet nicht wiederhergestellt. So habe sie selbst angegeben, kaum mehr Kontakt zu ihren damaligen Freunden zu haben. Sie würde lediglich ab und zu mit einer Freundin schreiben. Zusammengefasst könne die Behörde somit nicht feststellen, dass die Erstbeschwerdeführerin während des erneuten Aufenthalts ein schützenswertes und gewichtiges Privat und Familienleben in Österreich aufgebaut hätte. Im Fall der Zweitbeschwerdeführerin wurde auf das Bestehen eines Familienlebens mit der Mutter hingewiesen, wobei aufgrund des Alters jedoch kein schützenswertes Privatleben im Zuge der Ermittlungen hervorgekommen sei.

10. Gegen diese Bescheide wurde mit Schriftsatz vom 13.05.2020 Beschwerde erhoben, in welcher im Wesentlichen darauf hinwiesen, dass die Behörde, bezüglich der Bindung der Erstbeschwerdeführerin an Österreich bzw. ihres schützenswerten Privat-und Familienlebens und auch betreffend das Kindeswohl der Zweitbeschwerdeführerin unzureichend ermittelt habe. Aus diesen Gründen habe das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und die Entscheidung mit Verfahrensfehler belastet. Vorgebracht wurde zusammengefasst, dass die Erstbeschwerdeführerin unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Tschetschenien gelockt worden sei. Sie sei sodann von ihrem Vater abgehalten worden, nach Österreich zurückzukehren. Durch das Eingehen einer Ehe habe sie der Freiheitsberaubung entgehen können, habe jedoch aufgrund der Fehlgeburt und medizinischen Komplikationen nicht gleich ausreisen können. Schließlich sei das Ehepaar Richtung Österreich geflohen. Sie seien in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien auch aufgrund einer unterstellten Kriegsbeteiligung des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin von der Polizei verfolgt worden. Die Erstbeschwerdeführerin sei selbst bedroht und gefoltert worden, wobei sie davon gesundheitliche Schäden davongetragen habe, an denen sie immer noch leiden würde. Zum Ehemann, der in Polen zurückgeblieben sei, habe die Erstbeschwerdeführerin den Kontakt verloren. Abschließend wurde zusammengefasst darauf verwiesen, dass eine Rückkehr bzw. Abschiebung nach Russland aufgrund der dortigen Situation in Zusammenhang mit dem COVID-19 Virus unzumutbar und lebensbedrohlich sei.

11. Mit Beschwerdevorentscheidungen vom 02.06.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Beschwerden gegen den Bescheid der Erstbeschwerdeführerin vom 25.03.2020 und jenen der Zweitbeschwerdeführerin vom 26.03.2020 gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab. Ergänzend wurde angeführt, dass ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein besonderes Naheverhältnis zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Mutter und ihren Geschwistern nicht erkannt werden habe können, zumal sie selbst im Jänner 2018 den gemeinsamen Haushalt verlassen habe und in die Russische Föderation ausgereist sei. Es werde nicht verkannt, dass gegenwärtig ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Mutter bzw. zwischen den Geschwistern bestehe, wobei jedoch im Sinne der im Bescheid angeführten Judikatur nicht erkannt werden könne, dass hierbei eine hinreichend stark ausgeprägte Nahebeziehung bestehe. Dieser Umstand ergebe sich aus der Tatsache, dass die Erstbeschwerdeführerin die Kernfamilie, die sich in Österreich befinde, freiwillig verlassen habe, um zu ihrem Vater nach Tschetschenien zu fahren. Darüber hinaus könne auch nicht angenommen werden, dass das in Österreich, seit ca. sieben Monaten wieder aufgenommene Familienleben von Dauer sei, zumal die Erstbeschwerdeführerin selbst eine Familie gegründet habe, wobei sich ihre Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin, im Bundesgebiet und ihr Ehemann in Polen aufhalte. Soweit in der Beschwerde angeführt worden sei, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien von ihrem Vater bedroht werden würde, könne diese Behauptung nicht nachvollzogen werden. So habe die Erstbeschwerdeführerin nach ihrer Hochzeit das väterliche Haus verlassen können und wäre es zu keinen weiteren Vorfällen gekommen. Bezüglich der vorgebrachten Verfolgungslage des Ehemannes wurde angemerkt, dass von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen sei und verwies die Behörde in diesem Zusammenhang auf die Länderberichte. Eine glaubhafte Verfolgungsgefahr, die zur Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK führe, habe die Erstbeschwerdeführerin nicht vorgebracht. Darüber hinaus sei ihr im Rahmen ihrer Einvernahme ausreichende Möglichkeit eingeräumt worden auf die Rückkehrsituation einzugehen, wobei sie keiner der in der Beschwerde genannten Vorfälle angegeben habe. Aufgrund der aktuellen Situation in Bezug auf das COVID-19-Virus wurde angemerkt, dass am 02.06.2020 in Tschetschenien insgesamt 1247 bestätigte Erkrankungen, 13 Todesfälle, 836 Genesene und 398 aktive Erkrankungen (Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html) gegeben habe. Inwiefern nun von einer lebensbedrohlichen und unzumutbaren Rückkehr der Beschwerdeführer gesprochen werde, sei aus Sicht der Behörde nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus habe sie nicht angegeben, dass sie konkret zu einer Risikogruppe in Bezug auf das Corona-Virus gehören würden, sodass eine lebensbedrohliche Situation im Falle einer Rückkehr, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht vorliege. In Bezug auf das Vorbringen, wonach die Erstbeschwerdeführerin in Tschetschenien bzw. in der Russischen Föderation als alleinstehende Frau in eine ausweglose Lage geraten würde, sei anzumerken, dass im Herkunftsland die Familie des Ehemannes aufhältig sei und aus derzeitiger Sicht und aufgrund ihrer bisherigen Angaben, nicht ersichtlich sei, weshalb sie von dieser im Falle einer Rückkehr nicht aufgenommen werden würden.

12. Am 23.06.2020 stellten die Beschwerdeführer durch ihre ausgewiesene Vertretung gemäß § 15 Abs. 1 VwGVG einen Vorlageantrag, in welchem im Wesentlichen auf das bisherige Vorbringen verwiesen und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Beschwerdevorentscheidung, dem Vorlageantrag, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin, XXXX , ist am XXXX geboren. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der in Österreich geborenen minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer sind Staatsbürger der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Ihre Identitäten stehen fest.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in der Russischen Föderation geboren, spricht Russisch, Tschetschenisch und ist muslimischen Glaubens. Noch als Minderjährige reiste sie im Jahr 2012 in das Bundesgebiet ein und stellte am 04.05.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz, der als unbegründet abgewiesen wurde. Der Erstbeschwerdeführerin wurde ab dem 02.09.2015 ein Aufenthaltstitel gewährt. Im Jahr 2017 wurde der Erstbeschwerdeführerin ein russischer Auslandsreisepass ausgefolgt. Die Erstbeschwerdeführerin reiste nach eigenen Angaben im Jänner 2018 in ihre Heimat bis sie im Dezember 2019 illegal wieder nach Österreich einreiste und für sich am 18.12.2019 und für die in Österreich geborene Zweitbeschwerdeführerin am 11.03.2020 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AsylG 2005 stellte.

Die Erstbeschwerdeführerin gründete während ihres Aufenthaltes in der Russischen Föderation ein Familienleben und heiratete, nachdem sie ihre Volljährigkeit erreicht hatte, im Jahr 2018 den russischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX . Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweitbeschwerdeführerin ist nach den Angaben der Erstbeschwerdeführerin in Polen aufhältig, wobei sie den Kontakt zu ihm den eigenen Angaben nach verloren hat. Die Erstbeschwerdeführerin lebte vor ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation bei ihrem Ehemann, zuvor war sie bei ihrem Vater wohnhaft. Die Großmutter, der Vater sowie weitere Verwandte leben nach wie vor in der Russischen Föderation. Die Erstbeschwerdeführerin steht in Kontakt mit ihrer Großmutter und ihrer Tante in Tschetschenien.

Die Erstbeschwerdeführerin hat bis zu ihrer Ausreise im Herkunftsland die Schule besucht, wobei sie in Österreich die Hauptschule abgeschlossen hat. Sie spricht Deutsch, Tschetschenisch und Russisch. Ihre Mutter sowie drei Geschwister halten sich im Bundesgebiet auf und verfügen über einen Aufenthaltstitel. Die Erstbeschwerdeführerin lebt gemeinsam mit ihrer Tochter, der Zweitbeschwerdeführerin, bei ihrer Mutter.

Die Erstbeschwerdeführerin ist im erwerbsfähigen Alter. Die Beschwerdeführerinnen sind gesund, sie sind weder in medizinischer Behandlung noch nehmen sie Medikamente.

Ob das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin von ihrem Vater in Tschetschenien zu Hause festgehalten worden zu sein und ob das erstmals in der Beschwerde erstattete Vorbringen zur Verfolgungslage des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin den Tatsachen entspricht, kann dahingestellt bleiben, wobei dazu auf die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung verwiesen wird.

1.2.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, zuletzt aktualisiert am 03.12.2019

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 8.2019a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat . Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie der unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2018). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AI 22.2.2018, FH 4.2.2019). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur führen zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wird weiter erschwert. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2018).

Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt bleibt, werden konkrete Projekte zum Menschenrechtsschutz weiterhin im Kontext des Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) gefördert. Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert (ÖB Moskau 12.2018)

Der aktuelle Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Im Auftrag ihrer Einrichtung hat die Public Opinion Foundation (FOM) eine Studie über die Meinung der Bürger Russlands über die Einhaltung von Menschenrechten in der Russischen Föderation durchgeführt. Dabei konnte eine positive Entwicklung im Vergleich zu 2016 festgestellt werden: 41% der Befragten (2016: 39%) meinten, dass Menschenrechte in Russland geschützt werden, 39% (2016: 46%) waren gegenteiliger Meinung. Die Mehrheit der Teilnehmer ist allerdings der Auffassung, dass sich die Menschenrechtslage in Russland nicht geändert habe. Im Zuge der Berichterstattung der Menschenrechtsbeauftragten an den russischen Präsidenten vom August 2018 zeigte sich, dass die meisten Beschwerden im Jahr 2017 arbeits-und wohnrechtliche Themen, das Gesundheits- und Schulwesen sowie Straf- und Verfahrensrechte betrafen, allgemein habe sich aber die Meinung der russischen Bevölkerung über den Menschenrechtsschutz verbessert. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2018).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2018), und es werden von dort schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere

Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten. Die unabhängige Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten, die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen soll. Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen (ÖB Moskau 12.2018).

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien herausgebracht werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). 2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019, vgl. HRW 17.1.2019), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (FH 4.2.2019).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht. Die Nowaja Gazeta berichtete über die rechtswidrige Inhaftierung zahlreicher Personen seit Dezember 2016 und die heimliche Hinrichtung von mindestens 27 Gefangenen durch Sicherheitskräfte am 26. Januar 2017 in Tschetschenien (AI 22.2.2018).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten. So musste ein Mann, der sich im April 2016 in einem Videoaufruf an Präsident Putin über die Misswirtschaft und Korruption lokaler Beamter beschwerte, nach Dagestan flüchten, nachdem sein Haus von Unbekannten in Brand gesteckt worden war. Einen Monat später entschuldigte sich der Mann in einem regionalen Fernsehsender. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora. Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie leben, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax behauptete Kadyrow am 21. November 2017, dass der Terrorismus in Tschetschenien komplett besiegt sei, es gebe aber Versuche zur Rekrutierung junger Menschen, für welche er die subversive Arbeit westlicher Geheimdienste im Internet verantwortlich machte (ÖB Moskau 12.2018).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 12.2018, vgl. GIZ 8.2019c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen. Im Rahmen der 62. Sitzung der CEDAW von Oktober bis November 2015 wurde der rezente Länderbericht zur Russischen Föderation diskutiert. In seinen Schlussbemerkungen begrüßte das Komitee die Fortschritte im russischen Rechtssystem zum Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen, insbesondere in den Bereichen Arbeitsrecht und Schutz für Schwangere. Folgende Empfehlungen wurden an die russische Regierung gerichtet: Verabschiedung eines umfassenden Anti-Diskriminierungsgesetzes, Verbesserungen beim Zugang von Frauen zu rechtlichen Beschwerdemechanismen, die Ausarbeitung eines nationalen Aktionsplans gegen Menschenschmuggel, die Stärkung der Teilnahme von Frauen am politischen und öffentlichen Leben (z.B. durch Einführung von Quotenregelungen für Frauen in der Staatsduma, dem Föderationsrat, den Ministerien oder dem diplomatischen Dienst), die Einführung eines alters- und genderspezifischen Sexualkundeunterrichts in Grund- und Mittelschulen, die Bekämpfung von Diskriminierung am Arbeitsplatz (z.B. durch Überarbeitung der Liste von Berufsverboten für Frauen in rund 450 Berufen) und die Verbesserung des Zugangs zu qualitativer Gesundheitsversorgung für Frauen in ländlichen Gebieten (ÖB Moskau 12.2018).

Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 12.2018, vgl. FH 1.2018, vgl. HRW 10.2018). Ein Großteil der Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt wird durch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen übernommen. Im Nationalen Netzwerk gegen Gewalt sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Jährlich sterben in Russland ca. 14.000 Frauen aufgrund von Gewaltanwendung von Seiten ihrer Ehemänner oder Lebenspartner, fast zwei Drittel aller Morde sind auf häusliche Motive zurückzuführen (ÖB Moskau 12.2018). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018). Die Polizei bleibt oft passiv und geht z. B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 13.2.2019, vgl. US DOS 13.3.2019, vgl. HRW 10.2018). Laut Statistiken der Organisation ANNA wenden sich 60% der Frauen, die die nationale Hotline für Opfer von häuslicher Gewalt anrufen, nicht an die Polizei. 76% jener Frauen, die bei der Polizei Unterstützung suchen, sind mit der Reaktion der Behörden unzufrieden. Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Auch das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zeigte sich bei der letzten Diskussion zur Russischen Föderation im Herbst 2015 besorgt über die weite Verbreitung von Gewalt gegen Frauen, sowie über die unverlässlichen offiziellen Daten dazu. Ein vom Arbeits- und Sozialministerium gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen ausgearbeiteter Gesetzesentwurf zur Vorbeugung häuslicher Gewalt, der insbesondere der Polizei mehr Verpflichtungen zum Kampf gegen häusliche Gewalt auferlegt und einen besseren Opferschutz vorschreibt, wurde von der Duma Ende 2016 abgelehnt (ÖB Moskau 12.2018). Am 25.1.2017 hat die Staatsduma in zweiter Lesung einen Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung und Herabstufung häuslicher Gewalt zur Ordnungswidrigkeit gebilligt (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, FH 4.2.2019, HRW 17.1.2019, AI 22.2.2018), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 4.2.2019). Die Anzahl von Vorfällen häuslicher Gewalt an Frauen ist seitdem gestiegen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AI 22.2.2018). Häusliche Gewalt bleibt lückenhaft dokumentiert (HRW 17.1.2019).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen. Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 8.2019c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 32 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 4.2.2019).

Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 13.3.2019). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 13.3.2019, vgl. EASO 3.2017).

Es gibt nur wenige Unterstützungseinrichtungen für Frauen in Krisensituationen. Es soll 434 lokale Unterkünfte geben, jedoch gibt es eine hohe Hürde beim Zugang, einen enormen Verwaltungsaufwand und lange Wartezeiten, um festzustellen, ob ein Platz gewährt werden kann. Oft legen diese Einrichtungen den Schwerpunkt auf den "Erhalt der Familie" und den Schutz von Kindern; erst danach kommen die Sicherheitsbedürfnisse der Frauen selbst (US DOS 13.3.2019, vgl. HRW 10.2018). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden. Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die zwar hohe Eintrittsschwellen haben, aber dringende Hilfe, wie zum Beispiel „Krisenwohnungen“zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger. Frauen, die von staatlichen Einrichtungen abgewiesen werden, werden häufig an NGO-Einrichtungen verwiesen (HRW 10.2018).

Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem von Seiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Ko-Existenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht („Adat“) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach „Traditionen“ als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“ (ÖB Moskau 12.2018). Die Heirat einer 17-Jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hochgeschätzt (EASO 9.2014). Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014, vgl. Welt.de 14.2.2017). Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Gleichberechtigung ist in den islamisch geprägten Republiken ein kaum diskutiertes Thema. Frauenrechtsorganisationen engagieren sich, um dies zu ändern, doch es fehlt die Unterstützung durch Behörden. Die traditionellen kaukasischen Werte und Normen führen dennoch dazu, dass Frauenrechte im Nordkaukasus öfter verletzt würden als in anderen Regionen Russlands. Für Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien sind starke Traditionen durchaus charakteristisch. Weitaus weniger ausgeprägt sind sie in Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien. Auch übt die Religion ihren Einfluss aus, denn die Rechte der Frau im Islam sind anders definiert als die Frauenrechte in der russischen Verfassung. In Tschetschenien wird Frauen beispielsweise vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben. Seit 2008 dürfen sie Ämter und Bildungseinrichtungen nur betreten, wenn sie einen langen Rock tragen und Arme und Haar bedeckt sind (RBTH 22.6.2015).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich jedoch der Unterstützung nordkaukasischer Frauen (ÖB Moskau 12.2018).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht einmal als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigung ist in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Vergewaltigung ist ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an, und sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie würde isoliert und stigmatisiert werden, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuld gesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Staatsbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

Scheidung und Obsorge

Fragen der Obsorge für minderjährige Kinder sind in der Russischen Föderation grundsätzlich im Familienkodex 1995 geregelt. Gemäß Art. 61 haben die Eltern eines Kindes die gleichen Rechte und Pflichten in Bezug auf ihre Kinder. Die elterlichen Rechte erlöschen mit der Volljährigkeit des Kindes, also mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Gemäß Art. 18 sind grundsätzlich die russischen Personenstandsbehörden (ZAGS) zur Durchführung von Scheidungsverfahren zuständig, in den Fällen der Art. 21 bis 23 die Gerichte. Gemäß Art. 21 hat eine Scheidung gerichtlich zu erfolgen, falls gemeinsame minderjährige Kinder vorhanden sind, es sei denn, der andere Ehepartner ist verschollen, geschäftsunfähig oder zu einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gemäß Art. 24 Z 1 können die Ehegatten dem Gericht im Scheidungsverfahren eine Vereinbarung vorlegen, in der sie unter anderem regeln, bei welchem Elternteil die Kinder leben werden und wie hoch die Alimentationszahlungen für die Kinder sein sollen. Fehlt eine solche Vereinbarung der Eltern oder verletzt sie die Interessen der Kinder oder eines Elternteils, so ist das Gericht verpflichtet, diese Fragen zu entscheiden. Gemäß Art. 66 Z 1 hat ein Elternteil, der nicht beim Kind lebt, das Recht auf Kontakt mit diesem, auf Teilnahme an der Erziehung und bei Entscheidung von Ausbildungsfragen. Gemäß Z 3 sind bei Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung die Maßnahmen des Kodex über Verwaltungsübertretungen zu setzen. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Antrag des nicht beim Kind lebenden Elternteils die Entscheidung fällen, diesem das Kind zuzusprechen, falls das im Interesse des Kindes liegt. Dabei ist dessen Meinung zu beachten. Art. 57 bestimmt generell, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung zu beliebigen familienrechtlichen Fragen, die seine Interessen berühren, auszudrücken und im Zuge von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Berücksichtigung der Meinung des Kindes ist verpflichtend, wenn es älter als zehn Jahre ist, es sei denn, sie widerspräche seinen Interessen. Die Nichterfüllung einer Gerichtsentscheidung über die Ausübung elterlicher Rechte (z.B. Besuchsrechte) kann eine Verwaltungsübertretung gemäß Art. 5.35 des Kodex über Verwaltungsübertretungen darstellen und Geldstrafen von 2.000 bis 3.000 Rubel [ca. 28 - 42 Euro] nach sich ziehen, im Wiederholungsfall 4.000 bis 5.000 Rubel [ca. 56 – 70 Euro] oder bis zu 5 Tage Verwaltungshaft. Theoretisch möglich ist auch die Durchsetzung der elterlichen Rechte mit Hilfe eines Gerichtsvollziehers. Prinzipiell wird der Gerichtsvollzieher in der Praxis zunächst das Gespräch mit beiden Elternteilen suchen, um die Gründe der Nichterfüllung des Gerichtsurteils zu ergründen. Gelingt es im Rahmen des Gesprächs nicht, die Erfüllung der Gerichtsentscheidung herbeizuführen, müsste der Gerichtsvollzieher diese theoretisch zwangsweise durchsetzen. Dies geschieht in der Praxis aber äußerst selten, weil offensichtlich ist, dass sich eine Zwangsabnahme des Kindes äußerst negativ auf dessen psychischen Zustand auswirken würde und somit nicht im Interesse des Kindes läge. Die Praxis in der Russischen Föderation sieht so aus, dass bei Scheidungen minderjährige Kinder zu 99% bei der Mutter bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Obsorge in der Republik Tschetschenien:

Da die Republik Tschetschenien Teil der Russischen Föderation ist, gelten die russischen Gesetze auch dort und sind anzuwenden. In der Praxis spielen neben dem positiven Recht traditionell aber auch das islamische Recht und das Adat (arab. „Gewohnheiten, Bräuche“, also das ungeschriebene Recht (Gewohnheitsrecht) eine Rolle. Ein Artikel vom 04.08.2017 mit dem Titel: „Kampf gegen Scheidungen in Tschetschenien: was die Statistik sagt“, besagt, dass im Sommer 2017 eine Kampagne zur Stärkung der Familie begonnen hat. In Tschetschenien sei es traditionell üblich, dass die Kinder nach einer Scheidung in der Familie des Vaters blieben. Nach den islamischen Traditionen müsse ein Kind in den ersten Lebensjahren von einer islamischen Mutter erzogen werden, aber diese Tradition werde in Tschetschenien derzeit nicht befolgt. Laut Statistik für 2016 gab es beispielsweise in Tschetschenien: 0,9 Scheidungen pro 1.000 EW (Russland: 4,1), womit Tschetschenien in der RF an 84. und vorletzter Stelle unter den 85 russischen Föderationssubjekten lag; und 149 Scheidungen pro 1.000 Eheschließungen (Russland: 617), damit an 85. und letzter Stelle in der RF. 2016 wurden in Tschetschenien 1.231 Scheidungen registriert (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Ein Artikel vom 11.12.2013 zum Problemkreis „Tschetschenische Frauen – Scheidung – Kinder“ besagt, dass man tschetschenischen Frauen nach der Scheidung den Kontakt mit den Kindern verbietet. Oft bleiben in Tschetschenien die Kinder nach der Scheidung der Eltern beim Vater. Der Ex-Mann und seine Verwandten beschränken, ungeachtet ihrer gesetzlichen Rechte, den Umgang der Mutter mit dem Kind. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis sieben Jahre, Mädchen bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Erst danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Der Apparat des Bevollmächtigten für Menschenrechtsfragen in Tschetschenien versucht Hilfestellungen in diversen Fragen zu geben, insbesondere in Familienfragen, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird. Die Möglichkeiten zur Hilfeleistung sind aber begrenzt und beschränken sich darauf, einen Anwalt zu organisieren und eine Klage einzubringen. Außerdem gibt es bei der geistlichen Führung der Muslime der tschetschenischen Republik noch die „Kommission zur Regulierung familiärer Konflikte“, deren Mitarbeiter sich bemühen, Konflikte friedlich zu regeln und es nicht zu Gerichtsverfahren kommen zu lassen. Das Arbeitsspektrum umfasst die ganze Bandbreite familienrechtlicher Probleme, insbesondere Konfliktsituationen zwischen den Eltern, die mit den Kindern zusammenhängen. Seit der Gründung im März 2012 sind 3.164 Ansuchen um Hilfeleistung an die Kommission gerichtet worden, von denen zu 2.963 Anträgen eine Entscheidung ergangen ist (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Ein Artikel vom 21.04.2016 besagt, dass im Nordkaukasus Kinder nach der Scheidung immer in der Familie des Vaters blieben – selbst nach dessen Tod - und ein Gerichtsurteil nichts bedeute. Nach Meinung russischer Beamter würden die örtlichen Gerichte auch die örtlichen Traditionen bei ihren Entscheidungen beachten. Sie würden zwar oft im Sinne der Mutter entscheiden, die Entscheidung würde von den Verwandten des Vaters aber ignoriert. Nach Erfahrung tschetschenischer Gerichtsvollzieher lebten die Kinder oft bei den Verwandten des Vaters, die das Kind dem behördlichen Zugriff entziehen würden, indem der Wohnort des (nicht gemeldeten) Kindes oft gewechselt würde. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass tschetschenische Gerichte offenbar nur selten mit Familienrechts- und Obsorgefragen befasst werden, und außergerichtliche Lösungswege in der Praxis eine bedeutendere Rolle spielen. Selbst wenn Frauen vor Gericht Recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Ein Artikel vom 10.01.2012 über die Erziehung der Kinder nach der Scheidung besagt, dass, wenn die Eltern des Kindes zusammen leben, die materiellen Aufwendungen vom Vater getragen und die Kinder von der Mutter erzogen werden. Falls sich die Eltern scheiden lassen, und die Kinder das Alter von 7-8 Jahren noch nicht erreicht haben, wird es vorgezogen, die Kinder an Frauen zu geben, vorzugsweise an die Mutter. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) Vertrauen erweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d) nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder psychisch krank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte. Falls das Kind das Alter von 7-8 Jahren erreicht hat, und sich die Eltern scheiden lassen, lässt man das Kind bei dem Elternteil, den das Kind wählt. Dieses Wahlrecht steht Mädchen wie Buben gleichermaßen zu. Falls das Kind keinen Vater hat, wählt es zwischen der Mutter und dem Großvater väterlicherseits. Falls ein Sohn die Mutter wählt, bleibt er nachts bei der Mutter und tagsüber beim Vater. Falls der Sohn den Vater wählt, hat dieser nicht das Recht, jenem Besuche bei der Mutter zu verbieten. Falls die Mutter den Sohn besuchen will, hat der Vater nicht das Recht, ihr das zu verbieten. Falls die Tochter den Vater wählt, hat er das Recht, ihr Besuche bei der Mutter zu verbieten, nicht jedoch, der Mutter Besuche bei der Tochter. Falls die Tochter die Mutter wählt, bleibt sie Tag und Nacht bei ihr und der Vater hat das Recht, sie zu besuchen. Falls das Kind beide wählt, entscheidet das Los. Falls das Kind keinen Elternteil wählt, kommt es zur Mutter. Wenn ein Sohn volljährig wird, trägt er für sich selbst die Verantwortung. Wenn die Tochter volljährig und verheiratet ist, mus

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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