TE Vwgh Beschluss 2020/8/27 Ro 2020/21/0003

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Veröffentlicht am 27.08.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §34 Abs3 Z1
BFA-VG 2014 §34 Abs3 Z3
BFA-VG 2014 §40 Abs5
B-VG Art133 Abs4
EURallg
FrPolG 2005 §67
FrPolG 2005 §76 Abs2
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1
FrPolG 2005 §76 Abs6
VwGG §25a Abs1
VwGG §34a
VwRallg
32013L0033 Aufnahme-RL Art8 Abs3 litd

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher sowie den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Dezember 2019, W279 2225897-1/6E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: S M in W, vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Georgiens, reiste - so die unbestrittenen Feststellungen im späteren Schubhaftbescheid (Rn. 6) - erstmals am 23. März 2014 nach Österreich ein und beantragte unter einer Aliasidentität die Gewährung von internationalem Schutz. Dieses Verfahren wurde am 29. Juni 2016 gemäß § 24 AsylG 2005 wegen unbekannten Aufenthalts des Mitbeteiligten, der bereits am 1. Februar 2016 in Deutschland einen weiteren Asylantrag gestellt hatte, eingestellt. Nach Fortsetzung des Verfahrens in Österreich wurde der Antrag mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. Mai 2017 vollinhaltlich abgewiesen. Damit verbunden wurden eine Rückkehrentscheidung und ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot. Dieser Bescheid ist unbekämpft geblieben.

2        Der Mitbeteiligte war in Österreich im Jahr 2015 zweimal und im November 2016 ein weiteres Mal jeweils wegen versuchten Diebstahls zu Geldstrafen verurteilt worden. Mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Juni 2017 verhängte das Landesgericht Klagenfurt über ihn wegen Urkundenunterdrückung (einer Kleinkraftrad-Kennzeichentafel, und zwar zwischen 13. Oktober 2016 und 27. Februar 2017) sowie gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls (von insgesamt 21 Sonnenbrillen im Wert von zusammen € 3.444,-- am 3. und 18. April 2017) eine zwölfmonatige Freiheitsstrafe (davon acht Monate bedingt nachgesehen).

3        Am 18. Juli 2017 reiste der Mitbeteiligte nach seiner Haftentlassung - entsprechend der ihm gegenüber ergangenen Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot (laut Rn. 1) - in den Herkunftsstaat aus.

4        Am 6. August 2019 reiste der Mitbeteiligte über Polen in den Schengenraum ein. Am 11. November 2019 wurde er in Klagenfurt einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen, wobei er kein gültiges Reisedokument vorweisen konnte. Infolge seiner Behauptung, den Reisepass in seiner Klagenfurter Wohnung aufzubewahren, und Widerrufs dieser Behauptung erließ das BFA einen Festnahmeauftrag gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 BFA-VG. Nach der Festnahme stellte der Mitbeteiligte einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz.

5        Mit (dem Mitbeteiligten ausgefolgtem) Aktenvermerk desselben Tages hielt das BFA daraufhin fest, dass iSd § 40 Abs. 5 BFA-VG Gründe zur Annahme bestehen, dass der eben genannte Antrag auf internationalen Schutz vom 11. November 2019 zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden sei. Die Anhaltung auf Grund des Festnahmeauftrags werde für insgesamt bis zu 72 Stunden aufrechterhalten.

6        Mit Mandatsbescheid vom 11. November 2019 ordnete das BFA daraufhin gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG über den Mitbeteiligten die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme an.

7        Begründend verwies das BFA (unter Zitierung des § 76 Abs. 2a FPG) auf die Straffälligkeit des Mitbeteiligten sowie die wiederholte Beantragung von internationalem Schutz, zunächst unter einer Aliasidentität. Dem darüber geführten Verfahren habe er sich entzogen, sei untergetaucht und habe Meldeverpflichtungen nicht eingehalten. Den in Deutschland gestellten Asylantrag habe er bei seiner Befragung in Österreich „abgeleugnet“. Er sei nicht integriert, spreche nicht (nennenswert) Deutsch, sei nicht berufstätig gewesen, habe keinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich und verfüge nicht über ausreichende Barmittel, um seinen Unterhalt zu finanzieren. Als georgischer Staatsangehöriger, der über einen biometrischen Reisepass verfüge, dürfe er sich bis zu 90 Tage innerhalb von 180 Tagen legal zu touristischen Zwecken im Bundesgebiet aufhalten; mit 6. November 2019 sei sein Aufenthalt somit illegal geworden.

Da er seinen letzten Antrag auf internationalen Schutz während einer - dem erwähnten Festnahmeauftrag entsprechenden - Anhaltung gestellt habe, unterliege er § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, ohne dass es einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit [gemeint: im Sinne des § 67 FPG] bedürfe. Dabei bejahte das BFA fallbezogen insbesondere das Vorliegen von Fluchtgefahr nach den Kriterien des § 76 Abs. 3 Z 3 und 9 FPG. Die Anordnung von Haft erweise sich unter Berücksichtigung des dargestellten Verhaltens, des daraus zu folgernden Fehlens von Vertrauenswürdigkeit sowie der wiederholten, zuletzt erheblichen Delinquenz als verhältnismäßig. Die Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 FPG wäre angesichts der hohen Mobilität, unzureichender finanzieller Mittel und fehlender Integration des Mitbeteiligten im Bundesgebiet nicht geeignet, der Fluchtgefahr wirksam zu begegnen.

8        Mit Bescheid vom 2. Dezember 2019 wies das BFA den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz vom 11. November 2019 vollinhaltlich ab. Es erteilte ihm (amtswegig) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG erließ es gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Georgien zulässig sei, und erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG räumte es keine Frist für die freiwillige Ausreise des Mitbeteiligten ein. Gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 FPG erließ es gegen ihn ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot.

9        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 5. Dezember 2019 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer vom Mitbeteiligten gegen den Schubhaftbescheid (laut Rn. 6) sowie die Anhaltung in Schubhaft erhobenen Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG statt und erklärte den Schubhaftbescheid des BFA vom 11. November 2019 sowie die (darauf gegründete) Anhaltung in Schubhaft vom 11. November bis zum 2. Dezember 2019 für rechtswidrig (Spruchpunkt A.I.).

Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Den Antrag des Mitbeteiligten auf Kostenersatz wies es gemäß § 35 VwGVG ab (Spruchpunkt A.III.). Ebenso wies es den Antrag des BFA auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGVG ab (Spruchpunkt A.IV.). Schließlich erklärte das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig (Spruchpunkt B.).

10       Begründend räumte das BVwG ein, dass nach dem Wortlaut des § 76 Abs. 2 letzter Satz FPG und des § 40 Abs. 5 BFA-VG sowie auf der Grundlage der Erläuterungen zu dieser Bestimmung in einem Fall wie dem vorliegenden die Verhängung von Schubhaft ohne Erfüllung des - gegenständlich nicht verwirklichten - Gefährdungstatbestandes nach § 67 FPG zulässig erscheine. Durch die genannten Normen solle verhindert werden, dass „jede Artikulation“ eines Antrages auf internationalen Schutz „automatisch“ zu einer Beendigung des Freiheitsentzuges führe. Durch den letzten Satz des § 76 Abs. 2 FPG werde über den Umweg des § 40 Abs. 5 BFA-VG im Ergebnis allerdings ein über 72 Stunden hinausgehender Freiheitsentzug auf einen - wenn auch vielleicht vom Asylwerber „aus taktischen Gründen“ vorgebrachten - Asylantrag gestützt und erst ermöglicht.

Die Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahme-RL) unterscheide nicht zwischen mehreren Arten der Haft. Selbst wenn der gegenständliche Fall in einem der in Art. 8 der Aufnahme-RL aufgezählten Tatbestände Deckung finde, widerspräche eine Schubhaft wie die hier verhängte dem 15. Erwägungsgrund der Aufnahme-RL: „Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht ...“. Bei „Hinwegdenken“ des gestellten Antrages auf internationalen Schutz hätte eine Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG nicht verhängt werden können. Die gegenständliche Schubhaft stütze sich somit im Ergebnis auf „die Artikulation eines Asylgesuchs“. § 76 Abs. 2 letzter Satz FPG widerspreche damit dem eben dargestellten Unionsrecht. Dessen Anwendungsvorrang habe zur Folge, dass entgegenstehendes innerstaatliches Recht ohne weiteres unanwendbar werde. § 76 Abs. 2 letzter Satz FPG habe im vorliegenden Fall somit unangewendet zu bleiben, was zur Rechtswidrigkeit der (darauf gestützten) Schubhaft bis zur Erlassung des Bescheides vom 2. Dezember 2019 (laut Rn. 8) führe.

Was den Fortsetzungsausspruch (Spruchpunkt A.II.) anlange, liege ab 2. Dezember 2019 eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung vor. Damit seien die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG erfüllt. Sicherungsbedarf, Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit seien, wie schon vom BFA dargelegt, zu bejahen. Die jeweiligen Kostenaussprüche (Spruchpunkte A.III. und A.IV.) stützten sich auf § 35 Abs. 1 VwGVG. Infolge geteilten Obsiegens gebühre weder dem Mitbeteiligten noch der Behörde Kostenersatz.

Die Revision sei gemäß § 25a Abs. 1 VwGG infolge Fehlens von Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 76 Abs. 2 letzter Satz FPG, dessen Wortlaut sich im Übrigen mit der vom BFA vertretenen Ansicht decke, zulässig.

11       Gegen die Spruchpunkte A.I. und A.IV. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens durch das BVwG - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat über die Zulässigkeit der Revision erwogen:

12       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

13       Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist der Verwaltungsgerichtshof nach § 34 Abs. 1a VwGG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden.

14       Auch in der ordentlichen Revision hat der Revisionswerber von sich aus die unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung maßgeblichen Gründe der Zulässigkeit der Revision aufzuzeigen, sofern er der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichtes für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht oder er andere Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet. Das gilt auch dann, wenn sich die Revision zwar auf die Gründe, aus denen das Verwaltungsgericht die (ordentliche) Revision für zulässig erklärt hatte, beruft, diese aber fallbezogen keine Rolle (mehr) spielen oder zur Begründung der Zulässigkeit der konkret erhobenen Revision nicht ausreichen (vgl. VwGH 26.4.2018, Ro 2017/21/0010, Rn. 9, und VwGH 23.1.2020, Ro 2019/21/0018, Rn. 12, jeweils mwN).

15       Insoweit schließt sich die Amtsrevision der Zulassungsbegründung des BVwG an und macht (zusammengefasst) weiter geltend, auch zur Vereinbarkeit des § 76 Abs. 2 letzter Satz FPG mit dem Unionsrecht fehle ausdrückliche Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

16       Art. 8 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Neufassung (kurz: Aufnahme-RL) lautet auszugsweise:

„Artikel 8

Haft

(1) Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist.

(2) In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3) Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)   um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)   um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)   um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)   wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)   wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, ...“

17       § 76 Abs. 2 FPG idF des FrÄG 2018 sieht vor:

„(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1.   dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2.   dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3.   die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.“

Der eben erwähnte § 40 Abs. 5 BFA-VG idF des FrÄG 2018 lautet:

„(5) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung auf Grund eines Festnahmeauftrags gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 einen Antrag auf internationalen Schutz, kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 gelten dabei sinngemäß.“

§ 34 Abs. 3 BFA-VG ordnet auszugsweise an:

„(3) Ein Festnahmeauftrag kann gegen einen Fremden auch dann erlassen werden,

1.   wenn die Voraussetzungen zur Verhängung der Schubhaft nach § 76 FPG oder zur Anordnung gelinderer Mittel gemäß § 77 Abs. 1 FPG vorliegen und nicht aus anderen Gründen die Vorführung vor das Bundesamt erfolgt;

2.   ...

3.   wenn gegen den Fremden ein Auftrag zur Abschiebung (§ 46 FPG) erlassen werden soll oder

4.   ...“

18       Die Regierungsvorlage zum FrÄG 2018 (RV 189 BlgNR 26. GP 35) führt zu § 40 Abs. 5 BFA-VG aus:

„Der zuletzt durch das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2015 (FrÄG 2015), BGBl. I Nr. 70/2015, angepasste § 76 Abs. 6 FPG setzt den Haftgrund des Art. 8 Abs. 3 lit. d Aufnahme-RL in innerstaatliches Recht um (idS ausdrücklich VwGH 05.10.2017, Ro 2017/21/0009, Rz. 30). Der vorgeschlagene Abs. 5 soll - ebenso in Umsetzung des Art. 8 Abs. 3 lit. d Aufnahme-RL - diese Bestimmung nunmehr dahingehend ergänzen, dass auch eine auf einen Festnahmeauftrag gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 gestützte Anhaltung bis zum Ablauf der 72-stündigen Frist gemäß Abs. 4 Satz 2 aufrechterhalten werden kann, wenn der Fremde während dieser Frist einen Antrag auf internationalen Schutz stellt und angenommen werden kann, das diese Antragstellung nur dem Zweck dient, die Vollstreckung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme zu verzögern oder zu vereiteln. Dies ist unionsrechtlich zulässig, weil Art. 8 Abs. 3 lit. d Aufnahme-RL bloß voraussetzt, dass die Haft, aus der heraus ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, wie jene nach § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 der Vorbereitung der Rückführung und/oder der Fortsetzung der Abschiebung dient, es aber nicht darauf ankommt, ob die Rechtsgrundlage dieser Haft innerstaatlich als Festnahmeauftrag oder als Schubhaftbescheid ausgestaltet ist. Wie sonst, so gilt auch im Fall des vorgeschlagenen Abs. 5, dass eine Fortsetzung der Anhaltung über die 72-stündige Frist hinaus nur zulässig ist, wenn vor deren Ablauf die Schubhaft angeordnet wurde. Der vorgeschlagene Schlussteil des § 76 Abs. 2 FPG sieht diesbezüglich vor, dass die Schubhaft in diesem Fall gemäß Z 1 leg. cit. angeordnet werden kann und eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht voraussetzt. Durch die sinngemäße Anwendung des § 12 Abs. 1 wird festgelegt, dass über das Vorliegen der Gründe zur Aufrechterhaltung der Anhaltung ein Aktenvermerk ergehen soll, der dem Fremden in einer ihm verständlichen Sprache oder in einer Sprache, bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass er sie versteht, zur Kenntnis zu bringen ist. ...“

19       Der Amtsrevision ist darin beizupflichten, dass die Bestimmung des § 40 Abs. 5 BFA-VG, welche der Aufrechterhaltung einer schon in Vollzug befindlichen Anhaltung aufgrund eines Festnahmeauftrages gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder Z 3 BFA-VG gegenüber einem Fremden dient, der durch Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz nach seiner Festnahme zum Asylwerber wurde, grundsätzlich in der Aufnahme-RL Deckung findet.

Einerseits ist nämlich davon auszugehen, dass der Vollzug eines in § 40 Abs. 5 BFA-VG genannten Festnahmeauftrages gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 BFA-VG eine Maßnahme zur Vorbereitung der Umsetzung einer (fallbezogen bei Erlassung des gegenständlichen Schubhaftbescheides allerdings noch nicht vorliegenden) Rückkehrentscheidung darstellt und andererseits knüpft § 40 Abs. 5 BFA-VG an die Absicht an, diese Umsetzung zu verzögern. § 40 Abs. 5 BFA-VG erfasst damit Antragsteller, die sich „zur Vorbereitung [ihrer] Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft“ befinden und bei denen „berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass [sie] den Antrag auf internationalen Schutz nur [stellen], um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln“.

20       Insoweit wird mit § 40 Abs. 5 BFA-VG also die Anordnung des Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL abgebildet. Somit können auch die zur gleichfalls diese Richtlinienbestimmung umsetzenden Norm des § 76 Abs. 6 FPG angestellten Überlegungen des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0009, Rn. 30; VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0204, Rn. 13 bis 15, sowie VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0116, Rn. 11) auf die in § 40 Abs. 5 BFA-VG geregelte Konstellation übertragen werden.

21       Es spricht dann aber auch grundsätzlich nichts dagegen, in einem weiteren Schritt - über die nach § 40 Abs. 5 BFA-VG maximale Anhaltedauer von 72 Stunden hinaus - im Sinne des § 76 Abs. 2 Z 1 iVm dem letzten Satz des § 76 Abs. 2 FPG unter Bezugnahme auf § 40 Abs. 5 BFA-VG und damit aus unionsrechtlichem Blickwinkel ebenfalls auf Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL gestützt (demnach ohne dass es einer Gefährdung nach § 67 FPG bedürfte) Schubhaft zu verhängen.

22       Dass eine solche Schubhaft, wie das BVwG meint, allein auf den im Rahmen der Anhaltung gestellten Antrag auf internationalen Schutz zurückzuführen sei, trifft nicht zu. Es bedarf nämlich - neben dem Vorliegen von Fluchtgefahr und der Verhältnismäßigkeit von Schubhaft - ergänzend des in § 40 Abs. 5 BFA-VG angesprochenen missbräuchlichen Verhaltens, also dass der Antrag auf internationalen Schutz „einzig und allein“ zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0204, Rn. 14).

23       Im Übrigen ist es zwar, wie das BVwG argumentiert, zutreffend, dass bei „Hinwegdenken“ des zuletzt (am 11. November 2019) gestellten Antrags auf internationalen Schutz Schubhaft nicht nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG hätte verhängt werden dürfen. Dann hätte es aber angesichts des (unbestritten) unrechtmäßigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten ausgehend von den - vom BVwG im Rahmen des Fortsetzungsausspruchs geteilten - Überlegungen im Schubhaftbescheid zu Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit von Schubhaft zu deren Verhängung nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu kommen gehabt, sodass nicht davon die Rede sein kann, die Haft wäre (iSd Art. 8 Abs. 1 sowie des damit in Einklang stehenden 15. Erwägungsgrundes der Aufnahme-RL) allein auf Grund dieser Antragstellung erfolgt.

24       Fallbezogen erweisen sich die Anordnung und der Vollzug der Schubhaft durch das BFA aber dennoch - ohne auf weitere Detailfragen des § 40 Abs. 5 BFA-VG einzugehen - als rechtswidrig, weil die dafür nach dem eben Gesagten (Rn. 22) erforderliche Missbrauchsabsicht des Mitbeteiligten im Schubhaftbescheid (siehe dazu dessen in Rn. 7 wiedergegebene Begründung) nicht näher dargestellt worden ist.

Der somit vor dem Hintergrund des § 40 Abs. 5 BFA-VG jedenfalls unzureichend begründete Schubhaftbescheid war daher über Schubhaftbeschwerde aufzuheben, ohne dass eine nachträgliche Konvalidierung in Betracht gekommen wäre (vgl. dazu etwa VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 10 bis 12, und VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0086, Rn. 14, mwN).

25       Die gegen die Spruchpunkte A.I. und A.IV. des angefochtenen Erkenntnisses erhobene Amtsrevision zeigt somit - unbeschadet der unzutreffenden Begründung des BVwG zu Spruchpunkt A.I., § 76 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 2 letzter Satz FPG widerspreche unionsrechtlichen Vorgaben - keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, von deren Lösung die Erledigung der Revision auch tatsächlich abhängt. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 27. August 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020210003.J00

Im RIS seit

12.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

12.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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