Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §14 Abs3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. März 2020, Zl. L525 2147096-3/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M M, in F), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Vorgeschichte
1 Mit rechtskräftigem Erkenntnis vom 22. Oktober 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in der Sache den Antrag auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten, eines Staatsangehörigen Pakistans, vom 4. Oktober 2015 vollinhaltlich ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Pakistan zulässig sei, und setzte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest.
2 Am 3. März 2020 stellte der Mitbeteiligte aus dem Stande der Schubhaft im Anhaltezentrum V einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.
3 Am 18. März 2020 wurde der Mitbeteiligte vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Amtsrevisionswerberin) unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (Videotelefonie) und unter Beiziehung eines bei der Behörde anwesenden Dolmetschers niederschriftlich einvernommen und die Niederschrift darüber ohne Unterschrift des Leiters der Amtshandlung und des Dolmetschers dem Mitbeteiligten elektronisch übermittelt. Während der Leiter der Amtshandlung und der Dolmetscher einen bei der Behörde erstellten Ausdruck der Niederschrift unterfertigten, unterfertigte der Mitbeteiligte und der während der Einvernahme im Anhaltezentrum V anwesende Rechtsberater einen dort hergestellten Ausdruck der Niederschrift. Der Ausdruck mit den Unterschriften des Mitbeteiligten und des Rechtsberaters wurde sodann der Amtsrevisionswerberin sowohl elektronisch als auch im Original übermittelt.
4 Am 20. März 2020 verkündete die Amtsrevisionswerberin wiederum unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (Videotelefonie) und unter Beiziehung eines bei der Behörde anwesenden Dolmetschers dem Mitbeteiligten den Bescheid über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005. Die Verkündung sowie der Bescheidinhalt wurden in einer Niederschrift beurkundet und dem Mitbeteiligten elektronisch übermittelt. Ein bei der Behörde erstellter Ausdruck der Niederschrift wurde vom Leiter der Amtshandlung und dem Dolmetscher unterfertigt. Einen im Anhaltezentrum V hergestellter Ausdruck der Niederschrift unterfertigte der gemeinsam mit dem Mitbeteiligten während der Verkündung anwesende Rechtsberater. Der Mitbeteiligte verweigerte die Unterschrift. Die vom Rechtsberater unterfertigte Niederschrift wurde sodann der Amtsrevisionswerberin im Original übermittelt.
Angefochtener Beschluss
5 Mit dem in Revision gezogenen Beschluss vom 25. März 2020 wies das BVwG die „als Bescheid intendierte Beschwerdevorlage“ als unzulässig zurück und sprach aus, dass die Revision zulässig sei.
6 Begründend führte das BVwG auf Basis des eingangs wiedergegebenen Verfahrensgangs zusammengefasst aus, die mündliche Erlassung von Bescheiden habe durch förmliche Verkündung ihres Inhalts gegenüber den anwesenden Parteien zu erfolgen. Sei keine Partei anwesend, könne der Bescheid auch nicht iSd § 62 Abs. 2 AVG verkündet werden. Ein mündlich verkündeter Bescheid müsse den Parteien als Formalakt auch zu Bewusstsein kommen. Dies scheide nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes beispielsweise bei der telefonischen Verkündung eines Bescheides aus. Dem AVG sei die Form der Verkündung mittels Fernsprecher unbekannt. Ein mündlich verkündeter Bescheid sei nur dann vorhanden, wenn die von der Bescheidform umfasste Willensentschließung der Behörde in Gegenwart der Parteien verkündet und niederschriftlich beurkundet worden sei.
Vorliegend sei der Mitbeteiligte bei der Verkündung mittels Videokonferenz nicht anwesend, sondern nur „zugeschaltet“ gewesen. Daran ändere auch die Möglichkeit einer audiovisuellen Vernehmung nach § 51a AVG nichts, zumal dort nur die Vernehmung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung ermöglicht werde. Alleine aus der Systematik des AVG ergebe sich eindeutig, dass nur die Möglichkeit einer Einvernahme für das Ermittlungsverfahren eingeräumt werde. Dass mit dieser Bestimmung auch die Möglichkeit einer Verkündung von Bescheiden unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung eingeräumt werden soll, sei nicht ersichtlich. Eine Zuschaltung des Beschwerdeführers zur Verkündung des angefochtenen Bescheides ersetze nicht die tatsächliche - physische - Anwesenheit. Daher sei der angefochtene Bescheid nicht ordnungsgemäß erlassen worden.
7 Die Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob die mündliche Verkündung eines Bescheides durch die Verwaltungsbehörde mittels Verwendung einer technischen Einrichtung zur Wort- und Bildübertragung zulässig sei, Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle.
Amtsrevision
8 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben. Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
9 Die Amtsrevision ist zu der vom BVwG dargelegten Rechtsfrage zulässig und nicht berechtigt.
Rechtslage
10 Für die hier wesentliche Rechtsfrage, ob die von der Amtsrevisionswerberin dem Mitbeteiligten mittels Verwendung einer technischen Einrichtung zur Wort- und Bildübertragung verkündete Entscheidung über die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 der mündlichen Bescheidform des § 62 Abs. 2 AVG entspricht, ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der Verkündung - hier der 20. März 2020 - maßgeblich (vgl. VfGH 26.6.2019, E 4602/2018 ua, sowie VwGH 15.5.2020, Ra 2019/05/0073, Rn. 27, jeweils mwN). Die Bestimmungen des erst mit 22. März 2020 in Kraft getretenen Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 im Verwaltungsverfahren, im Verfahren der Verwaltungsgerichte sowie im Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes (Verwaltungsrechtliches COVID-19-Begleitgesetz - COVID-19-VwBG), StF: BGBl. I Nr. 16/2020, kommen daher vorliegend nicht zur Anwendung.
11 § 22 Abs. 10 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 24/2016, lautet:
„Entscheidungen
§ 22. ...
(10) Entscheidungen des Bundesamtes über die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 ergehen mündlich in Bescheidform. Die Beurkundung gemäß § 62 Abs. 2 AVG gilt auch als schriftliche Ausfertigung gemäß § 62 Abs. 3 AVG. Die Verwaltungsakten sind dem Bundesverwaltungsgericht unverzüglich zur Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG zu übermitteln. Diese gilt als Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht; dies ist in der Rechtsmittelbelehrung anzugeben. Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG mit Beschluss zu entscheiden.“
§ 51a AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 57/2018, sowie § 62 Abs. 1 bis 3 AVG in der Fassung der Wiederverlautbarung BGBl. Nr. 51/1991, lauten:
„Audiovisuelle Vernehmungen
§ 51a. Nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten kann eine Vernehmung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchgeführt werden, es sei denn, das persönliche Erscheinen vor der Behörde ist unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie zweckmäßiger oder aus besonderen Gründen erforderlich.
...
§ 62. (1) Wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, können Bescheide sowohl schriftlich als auch mündlich erlassen werden.
(2) Der Inhalt und die Verkündung eines mündlichen Bescheides ist, wenn die Verkündung bei einer mündlichen Verhandlung erfolgt, am Schluß der Verhandlungsschrift, in anderen Fällen in einer besonderen Niederschrift zu beurkunden.
(3) Eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Bescheides ist den bei der Verkündung nicht anwesenden und jenen Parteien zuzustellen, die spätestens drei Tage nach der Verkündung eine Ausfertigung verlangen; über dieses Recht ist die Partei bei Verkündung des mündlichen Bescheides zu belehren.
...“
Allgemeines
12 Dem Beschwerdeverfahren liegt eine - von der Amtsrevisionswerberin zumindest intendierte - Entscheidung über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 zugrunde.
13 Nach § 22 Abs. 10 AsylG 2005 hat diese Entscheidung mündlich in Bescheidform zu ergehen. Die Beurkundung nach § 62 Abs. 2 AVG gilt auch als schriftliche Bescheidausfertigung. Um eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung sicherzustellen, sieht die Norm überdies vor, dass die Verwaltungsakten unverzüglich zur Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG dem BVwG zu übermitteln sind; dies gilt als Beschwerde an das BVwG, das im Folgenden gemäß § 22 Abs. 1 BFA-VG die Entscheidung des BFA unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen hat (vgl. ausführlich zu dieser fiktiven Parteibeschwerde nach Befassung des VfGH VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0010).
14 Vorliegend hat die Amtsrevisionswerberin dem Mitbeteiligten die Entscheidung über die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 mittels Videotelefonie ausgesprochen, diesen Ausspruch (als „Verkündung“) sowie den Inhalt der Entscheidung in einer Niederschrift beurkundet und die Niederschrift ohne die Unterschriften des Leiters der Amtshandlung und eines bei der Behörde während dieses Vorgangs anwesenden Dolmetschers dem Mitbeteiligten elektronisch übermittelt. Der Mitbeteiligte verweigerte die Unterfertigung des von der Niederschrift angefertigten Ausdrucks, der daher nur vom anwesenden Rechtsberater unterfertigt und im Original der Amtsrevisionswerberin übermittelt wurde. Ein weiterer bei der Amtsrevisionswerberin erstellter Ausdruck der Niederschrift wurde vom Leiter der Amtshandlung und vom Dolmetscher unterfertigt.
15 Das BVwG verneinte eine mündliche Bescheiderlassung gemäß § 62 Abs. 2 AVG mangels physischer Anwesenheit des Mitbeteiligten. Eine „Zuschaltung“ des Mitbeteiligten mittels Videotelefonie könne die physische Anwesenheit nicht ersetzen.
16 Demgegenüber bringt die Amtsrevisionswerberin vor, dass die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit einer telefonischen Bescheidverkündung vor Einführung der Möglichkeit zur Vernehmung per Wort- und Bildübertragung im Verwaltungsverfahren gemäß § 51a AVG ergangen sei. Durch § 51a AVG habe sich die Rechtslage jedoch grundlegend geändert. Der Anwesenheit zumindest einer Partei sowie der Beurkundung der Bescheidverkündung in der Verhandlungsschrift oder einer besonderen Niederschrift als Voraussetzungen für die mündliche Bescheidverkündung gemäß § 62 AVG werde durch § 51a iVm § 14 AVG Genüge getan. Für eine Einvernahme mittels Video bestehe nun eine ausdrückliche Rechtsgrundlage, weshalb die Anwesenheit einer Partei nicht nur eine unmittelbare physische Anwesenheit umfasse, sondern auch deren Anwesenheit im Wege einer Videokonferenz. Überdies sei über eine Video-Einvernahme eine Niederschrift iSd § 14 AVG zu erstellen. Schließlich erfolge bei der Videotelefonie im Gegensatz zu einer bloß fernmündlichen Kommunikation auch eine Bildübertragung, wodurch sich Partei und Behörde der Identität der anderen Person versichern könnten. Eine Video-Einvernahme erfülle daher hinreichend die Voraussetzung der Anwesenheit einer Partei bei einer mündlichen Bescheidverkündung. Letztlich zeige auch § 3 COVID-19-VwBG die Gleichwertigkeit der audiovisuellen Vernehmung mit der persönlichen Einvernahme.
Mündliche Bescheiderlassung
17 Wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, können gemäß § 62 Abs. 1 AVG Bescheide sowohl schriftlich als auch mündlich erlassen werden.
18 § 62 Abs. 2 AVG verpflichtet die Behörde zur Einhaltung einer bestimmten Form bei der Verkündung eines mündlichen Bescheides. Demnach sind der Inhalt und die Verkündung eines mündlichen Bescheides, wenn die Verkündung bei einer mündlichen Verhandlung erfolgt, am Schluss der Verhandlungsniederschrift, in anderen Fällen in einer besonderen Niederschrift zu beurkunden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es daher für die wirksame Erlassung eines mündlich verkündeten Bescheides der Beurkundung sowohl des Bescheidinhaltes als auch der Tatsache seiner Verkündung, widrigenfalls von einer Bescheiderlassung nicht gesprochen werden kann. Eine Unterlassung dieser Beurkundung hat zur Folge, dass ein Bescheid nicht existent wird (vgl. VwGH 20.3.2001, 2000/11/0285; 29.9.1992, 91/09/0186, jeweils mwN; sowie VfGH 28.6.2000, B 761/97, VfSlg. 15.873/2000). Die mündliche Erlassung eines Bescheides durch Verkündung gemäß § 62 Abs. 2 AVG ist somit ein Formalakt, der den Parteien als solcher zu Bewusstsein kommen muss (vgl. VwGH 9.10.1990, 89/11/0124; 31.3.1993, 92/01/0402; 22.2.1996, 93/15/0192, mwN; sowie VfGH 14.3.1951, B 210/50, VfSlg. 2117/1951).
19 Die mündliche Erlassung von Bescheiden hat durch förmliche Verkündung ihres Inhalts gegenüber den anwesenden Parteien bzw. ihren gesetzlichen oder dazu bevollmächtigten Vertretern zu erfolgen (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG, § 62 Rz 20 mwN). Sofern gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, ist die mündliche Verkündung an eine bei der Verkündung nicht anwesende Partei nicht möglich (vgl. VwGH 20.2.1997, 96/07/0204, mwN). Vielmehr ist gemäß § 62 Abs. 3 AVG einer bei der Verkündung nicht anwesenden Partei eine schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Bescheides zuzustellen. In Mehrparteienverfahren wird somit die Erlassung des Bescheides gegenüber den anwesenden Parteien - und damit seine Existenz - durch die Abwesenheit einer oder mehrerer Parteien nicht beeinträchtigt (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG, § 62 Rz 20). Ein mündlich verkündeter Bescheid ist jedoch nur dann vorhanden, wenn die von der Bescheidform umfasste Willensentschließung der Behörde in Gegenwart der Parteien verkündet und niederschriftlich beurkundet worden ist (vgl. VfGH 13.12.1958, B 93/58 = VfSlg. 3469/1958). Ist daher bei der mündlichen Verkündung keine Partei anwesend, wird der Bescheid mangels ordnungsgemäßer Erlassung iSd § 62 AVG wenigstens einer Partei gegenüber rechtlich nicht existent (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/09/0052, Rn. 14, mwN, zum Erfordernis der Erlassung eines Bescheides wenigstens gegenüber einer Partei für dessen rechtliche Existenz).
20 Eine mündliche Bescheiderlassung außerhalb einer mündlichen Verhandlung iSd § 62 Abs. 2 AVG setzt somit einerseits die Anwesenheit der Partei und andererseits die Beurkundung sowohl des Bescheidinhaltes als auch der Tatsache seiner Verkündung mittels Niederschrift voraus, sodass den Parteien dieser Formalakt als solcher zu Bewusstsein kommt.
Bescheidverkündung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung außerhalb einer mündlichen Verhandlung
21 Spezielle Rechtsvorschriften zur Bescheiderlassung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragungen bestehen nicht. Zu prüfen ist daher, ob eine auf solche Art und Weise intendierte Bescheidverkündung eine mündliche Bescheiderlassung iSd § 62 AVG darstellt.
22 Wie in Rn. 19 und 20 dargelegt, setzt eine mündliche Bescheiderlassung außerhalb einer mündlichen Verhandlung iSd § 62 Abs. 2 AVG die Anwesenheit der Partei voraus. Zu klären ist, ob dafür die physische Anwesenheit vor dem verkündenden Behördenorgan erforderlich ist oder die „Anwesenheit“ in Form der Zuschaltung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (z.B. mittels Videotelefonie) ausreicht (vgl. zum Begriff der physischen Anwesenheit die Materialien zu § 3 COVID-19-VwBG idF des 12. COVID-19-Gesetzes, BGBl. I Nr. 42/2020, AB 136 BlgNR 27. GP, 1f).
23 Der Begriff „mündlich“ iSd § 62 Abs. 1 AVG wird gesetzlich nicht näher definiert. § 62 Abs. 1 bis 3 AVG entspricht seiner Stammfassung, BGBl. Nr. 274/1925. Auch in den Materialien zur Stammfassung (Bericht des Verfassungsausschusses, 360 BlgNR, II. GP, 19) wird auf den Begriff „mündlich“ nicht näher eingegangen.
24 Angesichts der im Zeitpunkt der Erlassung der Stammfassung des AVG im Jahr 1925 nicht vorhandenen technischen Möglichkeiten der zeitnahen Wort- und Bildübertragung (das in der älteren Rechtsprechung [siehe Rn. 25] behandelte Telefon betrifft nur die Wortübertragung) ist davon auszugehen, dass der historische Gesetzgeber für die mündliche Bescheiderlassung iSd § 62 Abs. 1 AVG außerhalb der mündlichen Verhandlung die Gegenwart (physische Anwesenheit) der Partei voraussetzte. Schließlich war in diesem Fall auch nach der Stammfassung des AVG gemäß § 62 Abs. 2 AVG der Inhalt und die Verkündung eines mündlichen Bescheides in einer besonderen Niederschrift zu beurkunden und gemäß § 14 Abs. 3 AVG in der Stammfassung die Niederschrift jeder (vernommenen oder sonst beigezogenen) Person vorzulesen und von dieser eigenhändig zu unterfertigen.
25 Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof zur „telefonischen Bescheiderlassung“ ausdrücklich festgehalten, dass „das AVG 1950 die Form der Verkündung eines Bescheides durch Fernsprecher nicht kennt und daß ein mündlich verkündeter Bescheid nur dann vorhanden ist, wenn die von der Bescheidform umfaßte Willensentschließung der Behörde in Gegenwart der Parteien verkündet und niederschriftlich beurkundet worden ist (VfGH 27.9.1966, B 299/65, VfSlg. 5329/1966; vgl ebenso VfGH 13.12.1958, B 93/58, VfSlg. 3469/1958, mit Verweis auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. Jänner 1955, 1514/53, VwSlg. 3617 A/1953, wonach das Festhalten der mündlichen Verkündung eines Bescheides und dessen Inhalt entgegen § 62 Abs. 2 AVG nur in einem Aktenvermerk für eine rechtswirksame Erlassung eines Bescheides nicht ausreicht).
26 Es ist nicht anzunehmen, dass dieses Verständnis des historischen Gesetzgebers von der physischen Anwesenheit (Gegenwart) unmittelbar vor dem den Bescheid mündlich verkündenden Behördenorgan durch die nunmehr hinzugekommenen Möglichkeiten der Verwendung technischer Einrichtungen zur (zeitnahen) Wort- und Bildübertragung ohne ausdrückliche Regelung des Gesetzgebers fortentwickelt wurde (vgl. zur äußersten Zurückhaltung gegenüber der Anwendung „korrigierender Auslegungsmethoden“ in der ständigen Rechtsprechung des VwGH, VwGH 18.6.2020, Ro 2020/01/0006, Rn. 15).
Mit § 51a AVG wurde die für die Verwaltungsgerichte bereits seit 1. Jänner 2017 (§ 25 Abs. 6b VwGVG) bestehende Möglichkeit der Vernehmung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung auf das behördliche Verfahren erstreckt. Die Bestimmung des § 62 AVG über unter anderem die mündliche Bescheiderlassung blieb hingegen unverändert. § 51a AVG bezieht sich somit nur auf Vernehmungen, erfasst jedoch nicht (auch) die mündliche Bescheiderlassung. Dies ergibt sich neben dem Wortlaut (arg.: „Vernehmungen“) auch aus den Erläuterungen (RV 193 BlgNR 26. GP, 4), die davon sprechen, dass die Möglichkeit des § 25 Abs. 6a VwGVG (mit BGBl. I Nr. 57/2018 nunmehr § 25 Abs. 6b VwGVG) auf das behördliche Verfahren erstreckt werden soll. Die Erläuterungen zum VwGVG (RV 1255 BlgNR 26. GP, 4) verweisen wiederum auf die Vorbildregelung des § 277 ZPO. Diese Regelung macht deutlich, dass allein die „die Einvernahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter“ durch die neue technische Form der audiovisuellen Einvernahme ersetzt werden soll (vgl. idS auch jüngst Bußjäger/Wachter, Möglichkeiten und Grenzen der audiovisuellen Einvernahme gemäß § 51a AVG und § 25 Abs. 6b VwGVG, ZVG 2020/2, 114).
27 Angesichts der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und des zwischenmenschlichen Kontakts auf Grund der COVID-19-Pandemie (vgl. die Erläuterungen zum Initiativantrag 397/A BlgNR 27. GP, 32, 36) dehnte der Gesetzgeber mit dem erst nach der gegenständlichen Bescheidverkündung in Kraft getretenen COVID-19-VwBG die Verwendung von technischen Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung gemäß § 3 Abs. 2 leg.cit. in der Fassung BGBl. I Nr. 42/2020 auf „mündliche Verhandlungen, Vernehmungen, Augenscheine und dergleichen“ (lit. a), „mündliche Verhandlungen, die andernfalls an Ort und Stelle abzuhalten wären“ (lit. b) sowie die Aufnahme von „Beweise(n)“ (lit. c) zeitlich befristet bis 31. Dezember 2020 aus. Diese auf den Sonderfall der COVID-19-Pandemie beruhende Novelle ist schon deshalb keine Klarstellung des Gesetzgebers zur bisherigen Rechtslage, weshalb daraus keine Schlüsse für die Auslegung des § 62 AVG getroffen werden können.
28 Demnach setzt (im Zeitpunkt vor Inkrafttreten des COVID-19-VwBG) eine mündliche Bescheiderlassung gemäß § 62 Abs. 1 AVG nach wie vor die Bescheidverkündung in Gegenwart (physischer Anwesenheit) der Partei voraus.
Fallbezogene Anwendung
29 Vorliegend hat die Amtsrevisionswerberin dem Mitbeteiligten den Bescheid über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005 nicht in dessen Gegenwart (physischer Anwesenheit) verkündet. Die Voraussetzungen für die mündliche Bescheiderlassung iSd § 62 Abs. 1 AVG sind demnach nicht erfüllt und der audiovisuell verkündete Bescheid ist rechtlich nicht existent.
30 Das BVwG hat daher die Beschwerde zu Recht als unzulässig zurückwiesen.
Ergebnis
31 Die Amtsrevision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am 7. September 2020
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020010007.J00Im RIS seit
06.11.2020Zuletzt aktualisiert am
06.11.2020