TE Vwgh Erkenntnis 2020/9/9 Ra 2017/22/0021

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Veröffentlicht am 09.09.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
EURallg
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
VwGVG 2014 §17
VwRallg
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art4 Abs1
62019CJ0133 Belgischer Staat VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 1. Juli 2016, VGW-151/070/6947/2015-6 u.a., betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: M Ö, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währingerstraße 3/14), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1.1. Der - im Mai 1997 geborene und ledige - Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 1. April 2014 im Wege der Österreichischen Botschaft Ankara beim nunmehrigen Revisionswerber einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in der fallbezogen maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 68/2013.

1.2. Der Revisionswerber wies den Antrag mit Bescheid vom 25. März 2015 ab, weil der Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

2.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 1. Juli 2016 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den abweisenden Bescheid Folge und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b iVm. § 20 Abs. 1 NAG für die Dauer von zwölf Monaten. Es führte zusammengefasst im Wesentlichen aus, der Aufenthalt des Mitbeteiligten führe zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft. Der Mitbeteiligte sei trotz des zwischenzeitigen Erreichens der Volljährigkeit als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu erachten.

Das Verwaltungsgericht sprach weiters aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2.2. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision. Er führte zu deren Zulässigkeit - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - aus, der Mitbeteiligte sei im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits volljährig gewesen, sodass er kein Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG mehr sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei im Fall einer Familienzusammenführung nach den §§ 46 f NAG für die Frage der Minderjährigkeit im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen.

2.3. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

3. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) Ausspruch des Verwaltungsgerichtes - im Hinblick auf die vom Revisionswerber aufgeworfene Rechtsfrage bezüglich des maßgeblichen Zeitpunktes, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger ein minderjähriges Kind ist, zulässig. Sie ist jedoch aus den nachfolgenden Erwägungen nicht begründet.

4.1. Gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a NAG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 68/2013) ist Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ innehat.

4.2. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG ist Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie). Die Minderjährigkeit richtet sich dabei gemäß § 2 Abs. 4 Z 1 NAG nach den Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB). Nach § 21 Abs. 2 ABGB sind minderjährige Personen jene, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

5. Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes musste die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts vorliegen. Bestand sie zwar - wie hier - im Zeitpunkt der Antragstellung, ging sie aber vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes durch Erreichen der Volljährigkeit verloren, so war die besondere Erteilungsvoraussetzung der Eigenschaft als Familienangehöriger im aufgezeigten Sinn nicht mehr gegeben (vgl. zu allem VwGH 9.8.2018, Ra 2017/22/0071, mwN).

6. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat kürzlich im Urteil vom 16. Juli 2020, B.M.M. et al., C-133/19, C-136/19 und C-137/19, zur Auslegung des insofern auch im gegenständlichen Verfahren einschlägigen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG Folgendes ausgesprochen:

„Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.“

Begründend hat der EuGH im zitierten Urteil auszugsweise Folgendes ausgeführt:

„36  Erstens ist festzustellen, dass, wenn als Zeitpunkt, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, derjenige zugrunde gelegt würde, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, dies weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen vereinbar wäre; die letztgenannte Bestimmung verlangt nämlich, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

[...]

42   Zweitens könnte eine solche Auslegung auch nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen eine einen solchen Antrag ablehnende Entscheidung, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 55 und 60).

43   Des Weiteren könnte eine solche Auslegung, da sie dazu führen würde, dass das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht würde, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen wären, zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen.

44   Unter diesen Umständen steht, wenn es darum geht, zu bestimmen, ob die in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Altersvoraussetzung erfüllt ist, nur ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung gestellt wird, im Einklang mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten. Dabei ist es unerheblich, ob über diesen Antrag unmittelbar nach der Antragstellung oder nach der Nichtigerklärung einer ihn ablehnenden Entscheidung entschieden wird.“

Der EuGH hat im zitierten Urteil ferner festgehalten:

„29  Zwar ist es nach dieser Bestimmung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, das gesetzliche Volljährigkeitsalter festzulegen, doch kann ihnen hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers zum Zweck von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt werden.“

7. Vor dem Hintergrund dieses Urteils und der dadurch klargestellten Rechtslage hält der Verwaltungsgerichtshof seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Minderjährigkeit eines Kindes für die Bejahung der Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG auch im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts vorliegen muss, nicht mehr aufrecht. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Minderjährigkeit eines Kindes auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen.

Der Verwaltungsgerichtshof trägt damit der Rechtsanschauung des EuGH und seiner Verpflichtung zur Durchsetzung des Unionsrechts Rechnung, sodass es keiner Befassung eines verstärkten Senates wegen Abgehen von einer früheren Rechtsprechung bedarf (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/18/0295).

8. Da der Mitbeteiligte im - nunmehr maßgeblichen - Antragszeitpunkt unstrittig minderjährig war, hat das Verwaltungsgericht - trotz der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit - im Ergebnis zu Recht das Vorliegen der betreffenden besonderen Erteilungsvoraussetzung des § 46 Abs. 1 Z 2 NAG (Eigenschaft als Familienangehöriger) bejaht. Der Revisionswerber vermag mit seinem Vorbringen somit keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufzuzeigen. Auf die im angefochtenen Erkenntnis erfolgte Bezugnahme auf die Stillhalteklausel nach Art. 13 ARB 1/80 und § 47 Abs. 3 FrG 1997 sowie das dazu erstattete Revisionsvorbringen kommt es nicht an.

9. Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 9. September 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62019CJ0133 Belgischer Staat VORAB

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220021.L02

Im RIS seit

10.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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