TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/4 W191 2181847-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.05.2020
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Entscheidungsdatum

04.05.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W191 2181847-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert Bitsche, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.11.2017, Zahl 1029565409-14905771, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.03.2020 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte nach seinem Aufgriff im Personenzug ICE von Linz Richtung Passau und vorläufiger Festnahme am 24.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Laut Ergebnis einer EURODAC-Abfrage war der BF am 12.06.2014 in Chios (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden.

1.2. In seiner Erstbefragung am 25.08.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion St. Georgen im Attergau, Erstaufnahmestelle (EAST) West, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus Kabul, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, schiitischer Moslem und ledig. Er habe zwölf Jahre die Schule und von 2002 bis 2004 die Universität in Kabul besucht. Von 1996 bis 2001 und von 2008 bis 2012 habe er in Teheran gelebt. Zu Hause in Afghanistan lebten noch seine Eltern und ein jüngerer Bruder, seine Schwester lebe in Frankfurt (Deutschland).

Seine Reise habe er vor ca. drei Monaten begonnen und sei über Pakistan, Iran und Türkei per Schlauchboot nach Griechenland gelangt, von wo er per LKW bis nach Österreich gereist sei. Die Reise habe ca. 12.000 US-Dollar gekostet. Er hätte zu seiner Schwester nach Frankfurt gelangen wollen.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er Musiker sei und bei einer Hochzeit, bei der er gespielt habe, ein Mädchen aus der Familie eines hochrangigen Regierungsbeamten kennengelernt hätte. Sie hätten sich mehrmals getroffen und verabredet, dass sie fliehen, da sie in Afghanistan nicht hätten heiraten können, da Musik als unreligiös gelte. Als das Mädchen aus ihrem Haus hätte flüchten wollen, sei es von der Familie daran gehindert, festgehalten und misshandelt worden. Sie hätte per SMS mitgeteilt, dass der BF flüchten solle, da ihre Familie ihn verfolgen und töten wolle, da er ihre Ehre beschmutzt habe.

1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) stellte eine Anfrage an die Staatendokumentation (des BFA) mit dem Ersuchen, das Vorbringen des BF zu überprüfen.

Mit Anfragebeantwortung vom 08.02.2016 wurden die Angaben des BF zu seiner Person verifiziert. Das vom BF vorgelegte Fachbildungszeugnis sowie das Anerkennungsschreiben der Schule sei echt, er habe die Fachhochschule für Kunst absolviert.

Die Anfragebeantwortung enthielt auch Ausführungen allgemeiner Art zur Lage von Musikern und Sängern in Aghanistan. Unter anderem wurde ausgeführt, dass viele "Mullah Imame und Geistliche" während Freitagsgebeten Propaganda gegen Fernsehen und Musik führten und sie als Teufelswerk bezeichneten. Die Künstler würden aber nicht als Ungläubige bezeichnet.

Das vom BF erstattete Fluchtvorbringen bezüglich der genannten Familie - die tatsächlich existiere - könne nicht verifiziert werden. Der genannte General habe eine Tochter, die seit fünf Jahren verheiratet sei.

1.4. Am 22.06.2016 langte beim BFA ein Schreiben des afghanischen Kulturvereins in Österreich ein, in dem sich dieser beim BF dafür bedankte, dass er beim Neujahrsfest am 09.01.2016 tatkräftig mitgeholfen habe.

Im April 2017 legte der BF die Deutschprüfung A1 mit Erfolg ab und legte ein Referenzschreiben seiner Deutschlehrerin vor.

Dem Verwaltungsakt liegen weiters mehrere Kursteilnahmebestätigungen und Empfehlungsschreiben für den BF ein.

1.5. Bei seiner Einvernahme am 05.10.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen Folgendes an:

Sein Geburtsdatum sei bei der Erstbefragung nicht richtig aufgenommen worden, er sei XXXX geboren.

Er sei in Kabul geboren und aufgewachsen und habe acht Jahre lang die Schule besucht. Dann sei er mit seiner Familie für fünf Jahre in den Iran gezogen und habe nach seiner Rückkehr nach Kabul weiter die Schule besucht. Nach Absolvierung seines Studiums sei er für sechs Monate wieder zurück in den Iran gereist und dann in Afghanistan als Musiker tätig gewesen. Nachdem er Probleme bekommen habe, sei er ausgereist.

Seine Familie lebe noch in Kabul, ein Onkel in Mazar-e Sharif und eine Tante in Khost, wie auch einige Cousins seines Vaters, zu denen sie aber keinen Kontakt hätten.

Der BF wurde zu seinem bei der Erstbefragung vorgebrachten Fluchtgrund befragt, wozu er detaillierte Angaben machte. Er wurde mit den Ergebnissen der Anfragebeantwortung, die zum Teil mit seinen Angaben übereinstimmten und zum Teil divergierten, konfrontiert, blieb aber bei seinen Angaben. Es sei zwar richtig, dass der Vater seiner damaligen Freundin im Jahr 2014 gestorben sei, aber seine vier Söhne sowie Neffen und Cousins seien gefährlicher als er selber. Was der BF gemacht habe, sei für den Vater, einem General, beschämend gewesen. Die Familie sei mächtig und bringe Unschuldige wegen Geld um, das hätten ihm Leute bei seinen Konzerten erzählt. Seine Mutter stamme aus demselben Dorf wie der General.

Schließlich brachte der BF vor, dass es noch einen Grund gebe, warum er ein sicheres Land gesucht habe:

Er sei ein bekannter Sänger gewesen, der auch im Fernsehen aufgetreten sei, und daher in Verfolgungsgefahr seitens der Taliban und der Daesh [IS] sei. Er habe Musiker im Fernsehen interviewt und Liveprogramme gezeigt.

In Österreich mache er Musik und treffe sich mit österreichischen Freunden. Er habe einen Laptop und ein Klavier. Er habe in Österreich viele Konzerte gegeben.

Er besuche derzeit den Deutschkurs A2 und lerne auch per Internet. Niederschriftlich festgehalten wurde, dass der BF auf einfachem Niveau "normal Deutsch" spreche.

Dem BF wurde "der Ländervorhalt" ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt. Er gab dazu an, er sei nicht wegen des Krieges hergekommen, er hätte eigene Gründe gehabt.

1.6. Mit Eingabe vom 17.10.2017 wurde ein Schreiben des BF in deutscher Sprache zu den vom BFA ausgefolgten Länderberichten zu Afghanistan vorgelegt, in dem dieser dazu ergänzte, dass viele Stellen im Land korrupt seien und er persönliche Probleme mit der "Maffia" gehabt habe. Es tue ihm leid, dass in Afghanistan so viele Menschen sterben müssten, aber er wolle nicht einer von ihnen sein.

1.7. In seiner ergänzenden Einvernahme vor dem BFA am 29.10.2017, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF erneut an, dass er im Jahr XXXX - und nicht XXXX oder XXXX - geboren sei. Weiters legte er eine Kopie seiner Tazkira (afghanisches Personaldokument) sowie ein Berufsausbildungsdiplom als Musiker und eine Auszeichnung für die Mitwirkung bei Musikveranstaltungen und Musikausbildung sowie fünf Fotos über seine Mitwirkung in einer Musikgruppe vor.

Er wurde erneut zu seiner Person, zu seinen Lebensumständen und zu seinem Reiseweg befragt und tätigte dazu im Wesentlichen mit seinen bisherigen Angaben gleichlautende Aussagen.

Auch zu seinem Fluchtgrund befragt wiederholte der BF im Wesentlichen seine bisher gemachten Angaben.

Erneut wurden ihm Länderberichte zur allfälligen Stellungnahme binnen Frist ausgehändigt.

1.8. Mit Schreiben vom 13.11.2017, "Aufforderung zur Stellungnahme", forderte das BFA den BF auf, Stellung zu nehmen, weshalb auf seiner Tazkira, Berufsbildungsdiplom und auf der Auszeichnung sein Name XXXX laute und nicht, so wie er angegeben habe, XXXX .

Der BF beantwortete dieses Schreiben und wies darauf hin, dass die Behörden in Afghanistan in der Tazkira oder allgemein in Dokumenten keinen Nachnamen schreiben würden, sondern nur den Vornamen und den Namen des Vaters.

1.9. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 22.11.2017 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 24.08.2014 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte V. und VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Bezüglich seiner Fluchtgründe beurteilte das BFA das Vorbringen bezüglich seiner Freundin als unglaubhaft und begründete dies mit mehreren angeführten Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten sowie mit dem Ergebnis der eingeholten Anfragebeantwortung, die zum Teil den Angaben des BF widerspreche.

Zum vorgebrachten Fluchtgrund seiner Tätigkeit als Musiker führte das BFA aus, "dass laut den aktuellen Länderfeststellungen und der weiteren Recherchen eine Bedrohung oder Verfolgung aufgrund Ihrer Musik- und Fernsehtätigkeit ausgeschlossen" sei.

Die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der BF ein gesunder, volljähriger und arbeitsfähiger junger Mann sei, der die Möglichkeit habe, sich im Bereich der Musik und auch allenfalls durch Gelegenheitsarbeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Auch von seiner Familie und seinen Verwandten in Mazar-e Sharif und Khost könne er Unterstützung erhalten.

1.10. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigen Rechtsberaters vom 21.12.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit "infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die beweiswürdigenden Ausführungen des BFA bezüglich der vorgebrachten Liebschaft unrichtig seien.

Bezüglich der vorgebrachten Verfolgung als Musiker würden die Länderfeststellungen im Bescheid keine Informationen dazu enthalten. Die vorgebrachte Gefährdungslage sei sohin willkürlich verneint worden.

Dazu wurden zwei Accord-Anfragebeantwortungen (AB) vorgelegt: AB vom 24.02.2014 "Behandlung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure von Personen, die öffentlich (Pop-) Musik machen bzw. versuchen, mit (Pop-) Musik ihren Lebensunterhalt zu verdienen; Schutzfähigkeit und -willigkeit des afghanischen Staates" [a-8612], sowie AB vom 22.07.2016 "Lage von MusikerInnen" [a-9728-v2], woraus sich eine asylrelevante Verfolgung aus religiösen Gründen ergebe.

Der BF sei zudem mittlerweile nachweislich integriert. Er spreche Deutsch auf A2-Niveau (Zertifikat wurde beigelegt), habe einen österreichischen Freundeskreis und sei ehrenamtlich, kulturell und musikalisch engagiert. Er sei strafrechtlich unbescholten.

Sein Name laute richtig XXXX .

Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

1.8. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor, verzichtete auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.9. Laut Mitteilung des Magistrates der Stadt Wien vom 26.03.2019 meldete der BF das freie Gewerbe Werbemittelverteiler an einem Standort in 1190 Wien an.

1.10. Das BVwG führte am 09.03.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines Vertreters erschien.

Dabei beantwortete der BF Fragen zu seiner Person, zu seinen Lebensumständen, zu seiner Integration in Österreich und zu den Gründen für seine Ausreise aus dem Herkunftsstaat.

Zu seinem Geburtsdatum befragt gab der BF an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"BF: Mein Name ist richtig, mein Geburtsdatum stimmt nicht. Bei meiner Erstbefragung wurde ich per telefonisch zugeschaltetem Dolmetscher gefragt. Es stimmen weder XXXX noch XXXX . Mein Geburtsjahr ist XXXX (umgerechnet XXXX ), das ist auch in meiner Tazkira und in meinen vorgelegten Zeugnissen angeführt. Mein Geburtstag ist der XXXX , das hat mir meine Mutter gesagt (umgerechnet XXXX ).

RI [Richter]: Woher weiß Ihre Mutter das Geburtsdatum?

BF: Ich bin das älteste Kind meiner Mutter, nach mir hat sie längere Zeit kein Kind mehr bekommen, und daher hat sie das Geburtsdatum aufgeschrieben. Sie hat dieses sowie meinen Namen auf der Rückseite ihrer Tazkira aufgeschrieben. Diese hat sie noch."

Nach Afghanistan zurückgekehrt sei seine Familie nach dem Angriff der Amerikaner auf Afghanistan, und sie hätten gehofft, dass Frieden nach Afghanistan zurückgekehrt sei, so wie viele andere Auswanderer. Auf der anderen Seite hätte er im Iran nicht die Möglichkeit gehabt, sein Studium fortzusetzen. Seine Verwandten würden mehrheitlich im Ausland leben, in Kanada, Australien und auch in Europa. Er habe eine Tante in Afghanistan gehabt, deren Mann vor ein paar Monaten bei einem Selbstmordanschlag gestorben sei. Seine Eltern würden derzeit im Iran leben.

In Österreich habe er zwei oder drei entfernte Verwandte, etwa den Sohn des Onkels väterlicherseits. Er habe wenig Kontakt zu ihnen. Er habe im Musikbereich über ein Aufnahmestudio viele Kontakte zu Österreichern. Er mache Musik und arbeite zudem als Werbemittelverteiler.

Zu sonstigen sportlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten befragt gab der BF an:

"BF: Manchmal ging ich in die Bibliothek in Schwanenstadt (BF legt Leseausweis vor). Ich habe eine alte Nachbarin, die ich regelmäßig besuche und mich mit ihr unterhalte, damit ich in Deutsch besser werde und in Übung bleibe. Ich fange um fünf Uhr in der Früh mit der Arbeit an, und es dauert bis Nachmittag, und da bleibt wenig Zeit für Sport."

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, er sei von Beruf Musiker und deshalb zu Hochzeiten und anderen Veranstaltungen eingeladen und bezahlt worden.

Weiters gab er an:

"BF: Ja, ich kann mich erinnern, und es ist alles korrekt. Ich möchte etwas hinzufügen: Damals, als ich mit der Musik angefangen habe, hatten meine Eltern keine Ahnung, dass ich Musik machen oder studieren will. Ich habe das vor ihnen verheimlicht, weil Musik in Afghanistan verpönt wird und als Abfall von der Religion angesehen wird. Aus diesem Grund bin ich in den Iran gegangen und habe dort eine dreijährige Musikausbildung genossen, danach bin ich wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Ich wurde verpönt. Das war der Grund, wieso ich Afghanistan verlassen habe. Hier in Österreich habe ich eine gute Beziehung zu meinen Freunden, ich kann frei meinen Beruf ausüben, und falls ich nach Afghanistan zurückkehren müsste, habe ich niemanden dort. Ich müsste mich alleine gegen die gesamte Gesellschaft stellen. Meine Musikbeiträge wurden auch auf den afghanischen Sendern ausgestrahlt, und auf dem vorgelegten Stick befindet sich ein Foto, wo zu sehen ist, dass ein Beitrag von mir ausgestrahlt wurde. Das heißt, ich bin ein bekanntes Musikergesicht in Afghanistan und werde als solcher überall wiedererkannt. Derjenige, der mich wegen dieser Beziehung zu dem Mädchen bedroht hat, gehört zu der einflussreichen Schicht der afghanischen Gesellschaft und pflegt im ganzen Land Verbindungen. Sie warten ungeduldig darauf, dass ich zurückkehre und sie die Drohung verwirklichen können.

RI: Welcher Volksgruppe hat das Mädchen angehört?

BF: Eine Tadschikin. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr, ich weiß von ihr weder Facebook-Adresse noch Telefonnummer.

RI: Wann ist Ihre Familie von Kabul in den Iran gegangen?

BF: Ca. vor einem Jahr.

RI: Warum?

BF: Nachdem ich diesen Videoclip in Wien gedreht habe, haben die Nachbarn davon erfahren, und mein Vater wurde von den Nachbarn schikaniert. Auf sehr vielen afghanischen Hochzeiten in Österreich werde ich eingeladen, ich musiziere dort und singe. Er wurde aufgenommen und nach Afghanistan geschickt. Ich habe auch drei Mal ein Interview mit Dorf-TV in Linz gehabt, diese wurden auch nach Afghanistan geschickt.

RI: Wenn Sie bei traditionellen Festen Musik machen und eingeladen werden, wieso sagen Sie, es sei gegen die afghanische Gesellschaft, solche Musik zu machen?

BF: Die Musiker, die zu Hochzeiten eingeladen werden, sind nicht berühmt. Ich war medial bekannt, und deswegen habe ich diese Drohungen bekommen.

RI: Von wem haben Sie welche Drohungen bekommen?

BF: Damals in Afghanistan seitens der Taliban, des IS und auch von der religiös eingestellten Bevölkerung, die faschistisches Gedankengut im Kopf haben. Ich werde von ihnen beschimpft, und wenn ich mich wehren würde, würde ich von einer Menge überfallen und angegriffen. In Österreich werde ich nicht auf der Straße bedroht, aber ich bekomme laufend Drohungen über Facebook und Youtube. Ich kann so einen Kommentar auch belegen.

Der BF zeigt auf seinem Handy seine Facebook-Seite. Auf dieser wird Einsicht durch den RI in Kommentare genommen. D [Dolmetsch] übersetzt auf Ersuchen des RI die Kommentare und bestätigt, dass mehrere Drohungen gegen den BF vorgebracht wurden.

D übersetzt einen Kommentar: [Name] "Du Dummkopf, du bist ungläubig geworden "Kafer", du bist von der Religion abgefallen, du bist aus Afghanistan geflüchtet, du weißt, was mit dir passieren wird, wenn wir dich kriegen" und: "Sei verdammt du Ungläubiger".

RI: Sie haben gesagt, Sie sind schiitischer Moslem. Beten Sie, fasten Sie, gehen Sie in die Moschee?

BF: Ich übe meine Religion nicht aus, ich bin nur auf dem Papier ein Moslem.

RI: Trinken Sie Alkohol?

BF: Am Wochenende manchmal ja.

RI: Warum ist es in Afghanistan so schlimm, wenn Sie doch in Kabul Musik studiert haben?

BF: Formell hat die afghanische Regierung keine negative Einstellung zur Musik, aber die afghanische Bevölkerung ist sehr negativ zum Gesang angestellt und auch zur Musik. In ganz Afghanistan gibt es nur eine Musikschule mit 200 Schülern, die hauptsächlich ein Instrument lernen, und es gibt keinen Gesangunterricht. Ich habe die Schule besucht und bin auch als Sänger aufgetreten. Zusätzlich bin medial bekannt.

RI: Wie passt das damit zusammen, dass afghanische Familien Sie trotzdem zu Hochzeiten und Festen einladen?

BF: Nicht alle Afghanen sind negativ eingestellt, sondern die religiösen Fanatiker und die Taliban.

BFV [Vertreterin des BF]: In Österreich wurde vor ca. vier Jahren in einem AMS-Deutschkurs ein Afghane, weil er Musik hörte, von einem anderen Afghanen erstochen.

BF: Sie können im Internet nachforschen, alle bekannten Künstler im Musikbereich leben im Exil, und kein Musikkünstler ist in Afghanistan geblieben, aus Angst um sein Leben.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.) und gab der BFV die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.

Sie gab dazu an:

"BFV: Ich möchte nochmals festhalten, dass der BF in den Medien sowohl in Afghanistan als auch in Österreich als Musiker populär und bekannt ist. In den Augen der Taliban ist Musik "haram" (verpönt) und sind Sänger wie auch der BF ein Dorn im Auge der Taliban. Die Taliban möchten solche Leute wie den BF auslöschen, damit sich dieses Gedankenbild nicht weiterverbreitet. Nunmehr haben die Taliban auch in der Regierung "etwas zu sagen", und wird die Situation für den BF im Falle einer Rückkehr schwieriger, denn er ist ein bekanntes Gesicht in der Musikszene und würde auch weiterhin musizieren wollen. Er wurde in Afghanistan bedroht und wird über Facebook auch weiterhin bedroht, und man kündigt ihm an, dass ihm im Falle einer Rückkehr auf jeden Fall etwas passieren würde und stempelt ihn als Abtrünnigen vom Islam ab. Aufgrund seines Auftretens in der Musikszene wurden die Eltern des BF dermaßen schikaniert, dass auch diese das Land verlassen mussten und sich nunmehr im Iran aufhalten.

Im Falle einer etwaigen Rückkehr wäre der BF auf jeden Fall einer Verfolgung durch die Taliban, den IS und fanatische Moslems ausgesetzt. Die staatlichen Behörden wären nicht in der Lage, dem BF entsprechenden Schutz zu gewähren, und würde der BF in eine aussichtslose Situation geraten. Weiters möchte ich festhalten, dass sich der BF in Österreich in jeglicher Hinsicht sehr gut integriert hat. Er spricht schon Deutsch auf Niveau B1, hat ein dichtes Netz an österreichischen Freunden, ist seit über einem Jahr selbsterhaltungsfähig und ist auch sozial in Österreich engagiert. Der BF würde sohin auf keinen Fall dem Staat zur Last fallen, und lebt er schon seit fast sechs Jahren durchgehend in Österreich, sohin ist er auf jeden Fall nachhaltig und außergewöhnlich in Österreich integriert."

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 25.08.2014 und der Einvernahmen vor dem BFA am 05. und 29.10.2017, die vom BFA eingeholte Anfragebeantwortung vom 08.02.2016, die vom BF vorgelegten Belege (Tazkira, Schulzeugnisse bzw. Universitätsdiplome), den angefochtenen Bescheid sowie die Beschwerde vom 21.12.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 237 bis 297)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 09.03.2020 sowie weitere vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegte Belege zu seiner Integration (Integrationsprüfungszeugnis vom 20.12.2018 - Niveau B1, Werbemittelverteiler-Belege, mehrere Empfehlungsschreiben, Fotos des BF als Musiker, USB-Stick, auf dem Links zu Youtube gespeichert sind, Anhören von Musikvideos des BF auf Youtube in der Beschwerdeverhandlung)

* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)

o Auskunft der Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 02.210.2012 zu Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr und eine gutächtliche Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly vom 24.06.2015 (in einem anderen Asylverfahren) zur Lage eines afghanischen Mädchens, das zu (bzw. mit) einem Freund flüchtet, ohne verheiratet zu sein

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam (die er jedoch kaum ausübt) und ist ledig.

Er hat zwölf Jahre die Schule besucht und eine dreijährige Hochschule für Musik in Kabul absolviert. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht auch etwas Paschtu.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF stammt aus Kabul. Im Alter von 15 Jahren hat er gemeinsam mit seiner Familie (Eltern, Schwester und Bruder) fünf Jahre lang im Iran gelebt - und einige Jahre später noch einmal drei Jahre lang - und ist danach wieder zurückgekehrt.

Im Jahr 2014 hat der BF aus angegebenen Gründen Afghanistan verlassen und ist schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist (zumal seine Schwester in Deutschland lebt). Seine Familie ist vor ca. einem Jahr aus angegebenen Gründen wieder in den Iran gezogen.

3.1.3. Der BF tätigt außerordentliche Anstrengungen um seine Integration in Österreich. Er hat sich inzwischen recht gute Deutschkenntnisse angeeignet (B1) und ist als Musiker tätig. Er wird zu Veranstaltungen von Landsleuten (z.B. Hochzeiten) eingeladen und fertigt Musikvideos an, die auf Youtube gesehen werden können (" XXXX "). Er hat zahlreiche soziale Kontakte auch zu Österreichern und ist zudem als Werbemittelverteiler erwerbstätig.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF verließ seinen Herkunftsstaat wegen angegebener Probleme (er habe bei seiner Tätigkeit als Musiker bei einer Hochzeit eine Frau kennengelernt, mit der er sich öfters getroffen habe; nachdem er sich mit ihr verabredet habe, dass sie gemeinsam fliehen, da er als Musiker von deren einflussreichen und konservativen Familie nicht akzeptiert worden wäre, sei er von ihr per SMS benachrichtigt worden, dass sie an der Flucht gehindert und geschlagen worden sei und dass ihn ihre Familie verfolgen werde; deshalb habe er Afghanistan verlassen; auch seine Familie sei in der Zwischenzeit wegen seiner öffentlichkeitswirksamen Musikauftritte schikaniert worden und in den Iran gezogen).

Der BF reiste über angegebene Länder bis nach Österreich, wo er am 24.08.2014 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.2.2. Der BF ist ein in Afghanistan medial bekannter Musiker, der populäre folkloristische Musik mit Gesang betreibt. Er spielt auf Familienfesten, ist im Fernsehen aufgetreten und hat Musikvideos hergestellt, die im Internet auf Youtube aufgerufen werden können und in denen er beispielsweise mit einer jungen, stark geschminkten und freizügig gekleideten Frau mit offenen langen blonden Haaren zu sehen ist.

Der BF lebt einen fortschrittlichen, "westlich orientierten" Lebensstil, der mit den Normen, Werten und Grundsätzen der afghanischen, wertkonservativ islamischen Gesellschaft nicht vereinbar ist. Er ist von seiner persönlichen Wertehaltung her stark an dem in Europa mehrheitlich gelebten liberalen Gesellschaftsbild orientiert.

Ihm würde aufgrund seiner Lebensweise eine oppositionelle religiöse bzw. politische Gesinnung unterstellt werden, zumal er auch in Österreich etwa auf Facebook zahlreiche Drohkommentare erhält. Er befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aus diesen Gründen und aufgrund seiner medialen Bekanntheit verfolgt und getötet zu werden.

3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist oder nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) - Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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