Entscheidungsdatum
24.06.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W203 2203811-1/8E
Ausfertigung des am 09.06.2020 verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.11.2018, Zl. 1105537200 – 160243302/BMI-BFA_STM_RD, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 15.02.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 16.02.2016 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er an, dass er am XXXX in Ghazni in Afghanistan geboren worden sei. Er habe in Afghanistan acht Jahre lang die Grundschule besucht. Sein familiäres Netzwerk bestehe aus seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester, die allesamt in Afghanistan lebten. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass er „wegen den Taliban“ geflohen sei. Diese seien jederzeit in sein Dorf gekommen und hätten die Schiiten verletzt, getötet und geköpft. Sein Leben sei in Gefahr und er könne nicht zurück, solange die Taliban dort seien.
3. Wegen Zweifel an dem vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsjahr veranlasste das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) eine sachverständige Volljährigkeitsbegutachtung.
Mit Verfahrensanordnung vom 31.10.2016 stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer am XXXX geboren wurde und damit mittlerweile volljährig ist.
4. Mit Schreiben vom 17.04.2018 erstattete das Stadtpolizeikommando Linz eine Meldung gemäß § 30 Abs. 2 BFA-VG an die Landespolizeidirektion Oberösterreich, wonach der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Körperverletzung und der gefährlichen Drohung verdächtigt werde.
Mit Schreiben vom 22.06.2018 teilte die Staatsanwaltschaft Linz der belangten Behörde mit, dass sie gegen den Beschwerdeführer hinsichtlich der Vergehen gemäß § 83 Abs. 1 StGB;
§ 15 StGB, § 105 Abs. 1 StGB von der Verfolgung zurückgetreten sei.
5. Am 13.07.2018 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Im Zuge der Einvernahme legte er ein Deutschzertifikat (A2) sowie mehrere Teilnahmebestätigungen vor und gab an, dass er in XXXX im Dorf XXXX geboren und aufgewachsen sei. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er sei in keine „offizielle“ Schule gegangen, sondern sei in einer Moschee vom Mullah unterrichtet worden, wo er Lesen, Schreiben, Persisch, ein bisschen Englisch und den Koran gelernt habe. Er habe bereits Arbeitserfahrung in Afghanistan als Schneider gesammelt. Seine aus seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Bruder bestehende Familie sei mittlerweile - zwei bis drei Monate, nachdem der Beschwerdeführer nach Österreich gekommen sei - nach Pakistan ausgewandert und hätte das Haus in Afghanistan zurückgelassen. Er stehe in Kontakt zu seiner Familie. Nach seiner Flucht aus Afghanistan, habe er sieben Monate bei Bekannten in Teheran gelebt, wo er keiner Arbeit nachgegangen sei. Nachdem es für ihn keine Zukunftsaussichten im Iran gegeben habe, sei er über die Türkei und Griechenland nach Österreich gereist.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er und seine Familie auf der einen Seite von den Taliban eingegrenzt worden seien und auf der anderen Seite der Vater familiäre Probleme gehabt habe. Sein Vater habe zu ihm gesagt, dass er jung sei und nicht das gleiche Schicksal wie sein Vater erleben solle. Er habe auch selber zwei bis dreimal miterlebt, wie die Taliban die Bewohner kontrolliert hätten. Sie hätten ständig Angst gehabt und seien in Gefahr gewesen. Er habe auch einmal miterlebt, wie er und seine Mutter von den Taliban (Paschtunen) gefragt worden seien, ob sie Hazara bzw. Schiiten seien. Die Taliban hätten viele von ihnen (Hazara bzw. Schiiten) getötet. Man habe dort sein Leben nicht in der eigenen Hand und es könne einem am nächsten Tag das Gleiche passieren. Bis auf einen Vorfall, bei dem die Taliban ihn für 15-20 Minuten aufgehalten hätten, sei ihm keine individuelle Bedrohung widerfahren. Seit diesem Vorfall sei er nicht mehr gereist. Sein Vater habe die Entscheidung getroffen, dass er ausreisen solle. Zu seinem Leben in Österreich befragt gab er an, dass er die Schule besuche und österreichische Freunde habe. Er sei nun fast drei Jahre in Österreich und habe „die Gesetze und andere Dinge“ gelernt. Er habe freiwillig in einem Altersheim ausgeholfen.
6. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 17.07.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, da er eine Verfolgung nicht glaubhaft habe machen können. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Weiters wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde ausgeführt, dass nicht festgestellt habe werden können, dass dem Beschwerdeführer die Gefahr droht, aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe verfolgt zu werden oder dass dieser aktuell einer relevanten Bedrohungssituation für Leib und Leben ausgesetzt sei. Es könne auch keine ausreichende „aktuelle und individuell drohende Verfolgung im zu prüfenden Herkunftsstaat“ festgestellt werden.
Er habe weder den erstmals im Rahmen der Befragung durch die belangte Behörde vorgebrachten alten Familienstreit logisch nachvollziehbar darstellen noch die allgemeine Situation der Hazara als glaubhaften Fluchtgrund darlegen können. Es sei dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine persönliche Bedrohung glaubhaft zu machen. Zudem habe die belangte Behörde kein „erhöhtes Risiko“ für seine Person seitens der Taliban feststellen können.
Es gebe keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland in eine existenzbedrohende Notlage geraten könnte. Der Beschwerdeführer sei ein junger, arbeitsfähiger Mann, der über eine mehrjährige Schulausbildung und Berufserfahrung verfüge. Er sei in Afghanistan geboren und aufgewachsen und sei daher mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut. Er könne bei einer Rückkehr auch auf die Unterstützung diverser Hilfsorganisationen zurückgreifen. Zwar sei eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni aufgrund der volatilen Sicherheitslage aktuell für ihn nicht zumutbar, es bestehe jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Herat oder einer anderen Großstadt oder Provinz unter Regierungskontrolle.
7. Gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 17.07.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und begründete diese damit, dass seine Familie von einer anderen Familie bedroht werde, da ein Mitglied dieser Familie im Streit mit dem Großvater des Beschwerdeführers getötet worden sei. Die Familie wolle deshalb Rache an der Familie des Beschwerdeführers nehmen. Zusätzlich werde der Beschwerdeführer auch von den Taliban bedroht. Die belangte Behörde sei ihren Ermittlungspflichten nicht nachgekommen und habe ihrer Entscheidung unzureichende Länderfeststellungen zugrunde gelegt. Der Beschwerdeführer habe die Familienprobleme nachvollziehbar dargelegt. Als die Bedrohung durch diese „andere Familie“ immer massiver geworden sei und die Dorfältesten, die sich auf die Seite der verfeindeten Familie gestellt hätten, den Streit nicht beilegen hätten können, habe der Beschwerdeführer fliehen müssen. Wenig später sei die gesamte Familie geflüchtet.
Zudem würden gerade schiitische Hazara, die als verwestlicht gelten, weil sie eine längere Zeit im Ausland gelebt haben, von den Taliban verfolgt. Zudem habe der Beschwerdeführer nicht im Iran bleiben können, da er ständig fürchten habe müssen, abgeschoben zu werden. Der Beschwerdeführer befinde sich im wehrfähigen Alter, sei Angehöriger der religiösen Minderheit der Schiiten sowie der ethnischen Minderheit der Hazara und sei darüber hinaus einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie ausgesetzt, da er von der Blutrache betroffen sei.
Auch der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer lange im westlich geprägten Österreich aufgehalten habe und sich den dort gelebten Werten angepasst habe, könne ihn aufgrund einer ihm unterstellten politischen Einstellung zur Zielscheibe von Übergriffen in Afghanistan - insbesondere durch die Taliban - machen.
Es komme zudem keine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul oder in einem anderen Landesteil in Betracht, da dies auf der einen Seite für den Beschwerdeführer aufgrund von individuellen Umständen nicht zumutbar wäre und er auf der anderen Seite vor ihm dort drohenden Verfolgungshandlungen sowie der Gefahr eines ernsthaften Schadens nicht sicher sei. Bei richtiger Beurteilung des vom Beschwerdeführer erstatteten Fluchtvorbringens hätte die belangte Behörde - schon alleine angesichts der prekären Sicherheitslage in Afghanistan – diesem den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen können.
Außerdem sei eine Rückkehrentscheidung ein unzulässiger Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens, da der Beschwerdeführer unbescholten und sehr gut integriert sei und bereits sehr gut Deutsch spreche. Er mache derzeit einen Pflichtschulabschluss und möchte später eine Lehre als Automechaniker beginnen.
8. Einlangend am 20.08.2018 wurde die Beschwerde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
9. Am 09.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der der Beschwerdeführer und die belangte Behörde geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.
In der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan in der Moschee den Koran sowie Lesen und Schreiben gelernt habe. In Österreich habe er ein Jahr lang die Schule sowie Deutschkurse auf dem Niveau A1, A2 und B1 besucht. Er habe zuhause in Afghanistan seiner Mutter bei der Arbeit geholfen und kurzzeitig als Schneider gearbeitet. Ansonsten habe er keine Berufstätigkeiten ausgeübt, weder in Afghanistan noch in Österreich. Er sei nicht verheiratet und habe in Österreich keine Familienangehörigen oder Verwandte. Seine Kernfamilie habe Afghanistan später als der Beschwerdeführer selbst verlassen und lebe derzeit in Pakistan, in Afghanistan lebten noch zwei Onkel väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits, zu der er aber nie Kontakt gehabt habe. Mit seiner Familie in Pakistan habe er ca. einmal wöchentlich per WhatsApp Kontakt.
Gefragt nach einem typischen Tagesablauf gab der Beschwerdeführer an, dass man derzeit wegen der Corona-Krise „gar nichts machen könne“. Davor sei er in der Früh laufen gegangen und habe am Vormittag Deutsch gelernt sowie am Nachmittag ein Boxtraining absolviert. Er sei vor Beginn der Corona-Krise auch einige Zeit unentgeltlich in einem Altersheim tätig gewesen. Seinen Lebensunterhalt bestreite er von der Grundversorgung. Er sei nicht Mitglied in einem Verein. Mit seinem Freundeskreis, der sowohl aus Österreichern als auch aus Afghanen und Somaliern bestehe, betreibe er vor allem sportliche Aktivitäten wie Fußball oder Laufen. Die Frage, ob sich der Beschwerdeführer auch ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers mit dem Richter gut auf Deutsch unterhalten könne, beantwortete der Beschwerdeführer wie folgt: „Ja, sicher. Ich spreche fast gut Deutsch, nicht so gut, es geht schon.“ Die vom Richter ohne Zuhilfenahme des Dolmetschers direkt an den Beschwerdeführer gerichteten Fragen wurden von diesem gut verstanden und er konnte diese – wenn auch relativ langsam und mit einfachen Worten – beantworten.
Als Fluchtgrund wiederholte der Beschwerdeführer die bereits bei der belangten Behörde vorgebrachten Familienstreitigkeiten. Diese seien dadurch entstanden, dass der Großvater des Beschwerdeführers ein Geschäftsmann gewesen sei, was einen wirtschaftlichen Konkurrenten gestört habe. Es sei daher zwischen den beiden Familien immer wieder zu Streitigkeiten gekommen, dabei sei dem Beschwerdeführer auch einmal die Nase gebrochen worden. Der Beschwerdeführer und dessen Familie seien täglich mit Mord bedroht worden. Als der Beschwerdeführer an der Schwelle zum Erwachsensein gestanden sei, habe ihn dessen Vater aus Sicherheitsgründen in den Iran geschickt. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass ihm die Nase vom ältesten Sohn der verfeindeten Familie gebrochen worden sei. Er habe sich gegen den viel größeren und stärkeren Angreifer nicht wehren können. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass er glaube, der Angreifer hätte ihn auch umbringen wollen, es hätten sich im Zuge der Auseinandersetzung aber viele Leute versammelt und die Streitenden getrennt, woraufhin der Angreifer weggegangen sei. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass die verfeindete Familie ebenfalls der Volksgruppe der Hazara angehöre und ca. 15 Gehminuten vom Haus des Beschwerdeführers entfernt gelebt habe. Die Feindschaft bestehe schon länger, als er sich zurückerinnern könne. Es sei zwar bislang niemand aus der Familie des Beschwerdeführers verletzt oder gar getötet worden, in Afghanistan könne dies bei Familienstreitigkeiten aber jederzeit passieren. Er könne von der verfeindeten Familie überall in Afghanistan gefunden werden, weil diese bewaffnet sei und über gute Kontakte mit den Dorfältesten verfüge. Er habe den Vorfall mit der verfeindeten Familie bei der polizeilichen Erstbefragung nicht erwähnt, weil er damals sehr müde gewesen und auch nicht detailliert befragt worden sei.
Der Beschwerdeführer gab an, dass es auch Probleme mit den Taliban gegeben habe, die zwar nicht im Dorf gewesen wären, aber die Straßen nach Kabul und nach Ghazni kontrolliert hätten. Er selber sei auch einmal kontrolliert worden, weil ihm aufgrund des Tragens eines verdächtigen Rucksackes unterstellt worden sei, für die Amerikaner bzw. die Regierung tätig zu sein. Es sei zwar niemand aus der Familie des Beschwerdeführers durch die Taliban zu Schaden gekommen, dies könne aber jederzeit passieren. Nachgefragt, warum er bei der belangten Behörde angegeben habe, dass die Taliban ins Dorf gekommen seien, während er nunmehr vorbringe, die Taliban wären nicht im Dorf gewesen, sondern hätten die Verbindungsstraßen kontrolliert, gab der Beschwerdeführer an, dass das auf einen Fehler des Dolmetschers zurückzuführen sei müsse.
Er könne wegen der geschilderten Probleme und weil er dort niemanden habe nicht nach Afghanistan zurückkehren.
Am Ende der Verhandlung legte der Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig vor, aus der hervorgeht, dass trotz der im Februar 2020 begonnen Friedensgespräche die Taliban nach wie vor bestrebt wären, die Macht in Afghanistan zu ergreifen, egal, ob auf militärischem oder politischem Weg. Eine „gewisse Kriegsmüdigkeit“ auf Seiten der Taliban sei nicht zu erkennen. Auch wenn diese Gruppierung bereit sei, „gewisse Positionen anzupassen“, so würden diese aber sicherlich keine Liberalen oder Demokraten werden. Der Friedensprozess in Afghanistan werde noch sehr lange dauern und so lange werde auch der Krieg noch weitergehen. Nachdem im ersten Quartal des Jahres 2020 die niedrigste Opferzahl in einem ersten Quartal seit dem Jahr 2012 registriert worden sei, sei die Zahl der zivilen Opfer der Taliban im Vergleich zum April 2019 wieder um 25 Prozent und die der Regierungstruppen um 38 Prozent gestiegen.
Ebenso legte der Vertreter des Beschwerdeführers ein als „Stellungnahme Covid-19 Afghanistan, Stand 28.05.2020“ bezeichnetes, vor allem auf Beiträgen von Friederike Stahlmann basierendes Schreiben vor, dem zu Folge sich aus einer Kurzinformation der
BFA-Staatendokumentation vom 09.04.2020 ergebe, dass die Covid-19-Pandemie Afghanistan voraussichtlich besonders hart treffen werde. Mit Stand 25.05.2020 seien in Afghanistan 10.582 Personen an Covid-19 erkrankt und 218 daran gestorben. Dabei habe sich die Ansteckungsrate in den letzten Wochen „massiv erhöht“ und die Zahl der Erkrankten binnen 10 Tagen verdoppelt. An den Grenzen zu Pakistan und dem Iran, beides Länder mit „massiven Rückkehrbewegungen“, gebe es keine Quarantäneeinrichtungen. Die Testkapazitäten in Afghanistan seien derart eingeschränkt, dass verlässliche Zahlen über Ansteckungsrate und Todesfälle nicht vorliegen würden. Aufgrund der Sozialstruktur Afghanistans sei davon auszugehen, dass sich bis zu 50 Prozent der Bevölkerung mit Covid-19 anstecken und auch die Todeszahlen rasch ansteigen werden. Da bei vielen Teilen der afghanischen Bevölkerung infolge Mangelernährung ein geschwächtes Immunsystem bzw. Vorerkrankungen vorliegen würden, liege eine andere Risikogruppenverteilung als z.B. in Europa vor. Der ursprünglich bis 24.05.2020 vorgesehene „Lockdown“, der Bewegungseinschränkungen mit negativen Auswirkungen insbesondere auf die Unterstützungsmöglichkeiten humanitärer Hilfsorganisationen habe, sei inzwischen über dieses Datum hinaus verlängert worden. Rückkehrerinnen und Rückkehrer würden im Zusammenhang mit Covid-19 stigmatisiert und ihnen teilweise medizinische Behandlung verweigert. Da sämtliche Binnenflüge gestrichen worden seien, sei es derzeit nicht möglich, auf dem Luftweg von Kabul in eine andere afghanische Großstadt zu gelangen. Weitere Auswirkungen der Covid-19-Pandemie seien Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln und eine erhöhte Arbeitslosigkeit. Die Stadt Herat sei über den dortigen internationalen Flughafen nicht sicher erreichbar, da die Gegend zwischen Flughafen und Stadt von kriminellen Netzwerken beherrscht werde. In Herat sei es um die Jahreswende 2019/2020 auch zu einem „massiven Anstieg an krimineller Gewalt“ gekommen. In den neu entstandenen Wohngebieten um die Stadt sei der Zugang zur Grundversorgung sehr eingeschränkt. Die Stadt Mazar-e Sharif sei aufgrund der Einstellung des Binnenflugverkehrs derzeit nicht erreichbar. Die Sicherheitslage in der Stadt habe sich in den letzten Jahren verschlechtert. Insbesondere Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Europa seien mit Problemen konfrontiert. Zusammengefasst sei die Situation für diese Personengruppe „äußerst prekär“, es sei nicht davon auszugehen, dass jene, die über kein starkes soziales Netzwerk verfügten, in diesen beiden Städten eine Lebensgrundlage vorfinden würden.
Nach Beendigung der Verhandlung verkündete der verhandelnde Richter das gegenständliche Erkenntnis.
Im Anschluss an die Verkündung beantragte der Beschwerdeführer über seine Vertretung eine Ausfertigung des Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seiner Familie:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist am XXXX in XXXX , Provinz Ghazni geboren. Er ist afghanischer Staatsbürger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan zu Beginn des Jahres 2015 verlassen und ist spätestens am 15.02.2016 illegal in Österreich eingereist.
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers hat nach diesem ebenfalls Afghanistan verlassen und lebt derzeit in Pakistan. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig – ca. einmal pro Woche per WhatsApp – Kontakt zu seiner Familie in Pakistan.
Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan in der Moschee den Koran sowie Lesen und Schreiben gelernt. Er hat für kurze Zeit als Schneider gearbeitet und verfügt ansonsten über keine weitere Berufserfahrung.
Der Beschwerdeführer hält sich seit ca. vier Jahren und vier Monaten in Österreich auf. Er hat diesen Zeitraum nicht bzw. nur wenig genutzt, um sich in Österreich sozial zu integrieren.
Der Beschwerdeführer verbringt seine Zeit mit Deutschlernen und betätigt sich sportlich. Vor Ausbruch der Corona-Krise arbeitete er einige Monate unentgeltlich in einem Altersheim. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt durch die Grundversorgung.
Der Freundeskreis des Beschwerdeführers besteht sowohl aus Afghanen als auch aus Österreichern und Angehörigen sonstiger Nationalitäten, z.B. Somaliern. Er verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte, lebt nicht in einer Partnerschaft und hat in Österreich keine spezielle Bezugsperson. Er ist nicht Mitglied in einem Verein.
Der Beschwerdeführer ist in der Lage, in einfachen Sätzen und mit entsprechenden Pausen auf Deutsch kommunizieren. Er verfügt – bezogen auf seine bereits sehr lange Aufenthaltsdauer in Österreich - über nur mäßige, keinesfalls über als überdurchschnittlich gut zu bezeichnende Deutschkenntnisse.
Der Beschwerdeführer befindet sind in einem guten gesundheitlichen Zustand.
Es ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit mit für ihn schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen an Covid-19 erkranken wird.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemein schlechten Lage und auf Anraten seines Vaters verlassen.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nicht die Gefahr, aufgrund einer „Blutfehde“ verfolgt zu werden.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr keine konkrete, gegen ihn als Einzelperson gerichtete Verfolgung durch die Taliban.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr Verfolgung weder aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensgemeinschaft.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr auch keine Verfolgung aus einem sonstigen in der GFK genannten asylrelevanten Grund.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung bzw. Abschiebung nach Afghanistan nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder chronischen Krankheiten, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen.
Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Bezugnehmend auf die sonstigen Verfahrensergebnisse sind vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Afghanistan keine Hinweise auf eine allfällige Gefährdung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat hervorgekommen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ist der Beschwerdeführer in der Lage, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich mit den daraus zu erzielenden Einkünften selbst erhalten.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zur aktuellen Lage in Afghanistan:
Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, zuletzt gesamtaktualisiert am 13.11.2019 und mit der zuletzt eingefügten Kurzinformation vom 18.05.2020, wird auszugsweise und beschränkt auf die relevanten Abschnitte wie folgt angeführt:
1.4.1. Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.4.3. Ethnische Minderheiten
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 17.3).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 17.3).
1.4.4. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 16.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 16.1).
1.4.5. Zur aktuellen Lage hinsichtlich Covid-19:
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen, Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)
Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).
1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.4.7. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
1.4.8. Rekrutierung durch die Taliban
Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).
Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht, Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).
Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).
1.4.9. Provinzen und Städte
1.4.9.1. Provinz Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Die Provinz hat 1.475.649 Einwohner (LIB, Kapitel 3.5).
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.5).
In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.4.9.2. Provinz Ghazni
Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken. Ghazni hat 1.338.597 Einwohner (LIB, Kapitel 3.10).
Ghazni gehört zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, Luftangriffen und Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Im Jahr 2018 gab es 653 zivile Opfer (253 Tote und 400 Verletzte) in Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 84% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe, gefolgt von Luftangriffen und gezielten oder vorsätzlichen Morden (LIB, Kapitel 3.10).
In der Provinz Ghazni reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein ernstes Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an Einzelelementen erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.4.9.3. Provinz Herat
Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 3.13).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2018 gab es 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.13).
In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.4.9.4. Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten