Entscheidungsdatum
24.06.2020Norm
BBG §40Spruch
W173 2228668-1/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Vorsitzende und die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF sowie dem fachkundigen Laienrichter Franz GROSCHAN als Beisitzer über die Beschwerde von
XXXX , geb. am XXXX , vertreten durch den Kriegsopfer- und Behindertenverband für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Lange Gasse 53, 1080 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 5.11.2019, OB: XXXX , betreffend Neufestsetzung des Grades der Behinderung im Behindertenpass beschlossen:
A)
Der angefochtene Bescheid vom 5.11.2019, OB XXXX , wird behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Frau XXXX , geb. am XXXX , (in der Folge BF), war seit 2008 im Besitz eines Behindertenpasses mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60%. Dieser beruhte auf folgenden nach der Richtsatzverordnung eingeschätzten Leiden: 1. Funktionsbehinderung am linken Sprunggelenk, 2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, 3. Zustand nach doppeltem Knöchelbruch links mit Affektion des Nervus peronaeus, 4. Neuropathisches Schmerzsyndrom, 5. Chronisch obstruktive Lungenerkrankung und 6. Laktoseintoleranz.
2. Am 12.12.2017 brachte die BF einen Antrag auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung in ihren Behindertenpass ein. Weiters begehrte die BF die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ und die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b Straßenverkehrsordnung 1960 (Parkausweis). Es wurde von der BF ein Konvolut von medizinischen Unterlagen vorgelegt. Die belangte Behörde holte ein ärztliches Sachverständigengutachten von DDr. XXXX , FÄ für Orthopädie, ein. Auf Basis einer persönlichen Untersuchung der BF führte die genannte Sachverständig im Gutachten vom 23.2.2018 auszugsweise Nachfolgendes aus: „………………………………
Anamnese:
Gutachten vom 29.2.2008, Gesamtgrad der Behinderung 60 %
Letzte Begutachtung im Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen am 15.7.2014, Voraussetzungen für beantragte Zusatzeintragung der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel liegen nicht vor (Funktionsbehinderung im linken Sprunggelenk nach Knöchelbruch, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Peroneusläsion links, neuropathisches Schmerzsyndrom, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Laktoseintoleranz, chronische Darmentzündung)
Zwischenanamnese seit 2014: Katarakt —OP bds. 13. 2. 2017 petrochantäre Fraktur linker Oberschenkel mit Abriss des Trochanter major, PFNA
Derzeitige Beschwerden:
‚Beschwerden habe ich vor allem im Bereich des linken Sprunggelenks und der linken Hüfte und im linken Knie. Schmerzen strahlen bis in den Oberschenkel links aus. Das Gehen ist eingeschränkt, gehe mit Rollator etwa 5 min, ohne Rollator etwa eine Zimmerlänge. Hergekommen bin ich mit dem Auto, wurde von meinem Mann gebracht. Mit dem Rollator gehe ich seit der Hüftoperation. Das Gehen ist eingeschränkt wegen einer Schwäche in den Beinen, und wegen der Schmerzen, unterschiedlich stark ausgeprägt.‘
Behandlung(en)/Medikamente/Hilfsmittel:
Medikamente: Seretide, Berodual bei Bedarf, Hydal 4mg 2x1, + 1,3 mg bei Bedarf, Euthyrox,
Allergie: Diclofenac, Neurofenac; Tramalunverträglichkeit, Novalgin 3x1 tgl., Venoruton,
Lexotanil bei Bedarf
Nikotin: 0, Laufende Therapie bei Hausarzt Dr. XXXX , 1100
Sozialanamnese: verheiratet, ein Sohn, lebt in Wohnung 1. Stockwerk mit Lift.
Berufsanamnese: Pensionistin
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Befund rheumatologische Ambulanz, nicht datiert (Sjögren-Synarom (Sicca Mund Augen, ANA, Ro) Manifeste Osteoporose - Schenkelhalsfr. li 1/17, aktuell Prolia, Z.n. >5 Jahre ISN
Chron, Schmerzsyndrom bei 2 n. Knöchelfx li 2004 mit posttraumat Arthrose Schwindel, Z.n. primärem Hyperparathyreoidismus - Z n. OP Psoriasis Posttraumatische OSG Arthrose sin , - Z.n. Sudeck-Syndrom OSG sin. Lähmung des N. peronaeus sin., Eisenmangelanämie. Essentielle Hypertonie, HO Hashimoto-Thyreoiditis, Laktoseintoleranz, Chronische obstruktive Lungenkrankheit, Spondylose und Spondylarthrose Z.n. HE, Z.n. CHE.
Allergien: Diclofenac, Neurofenac; Tramalunverträglichkeit)
MRT kleines Becken vom 28. 11. 2017 (Kein Hinweis auf eine sekundäre Osteonekrose des linken Fernurkopfes bei Zustand nach Operation einer Femurhalsfraktur links seit Jänner 2017. Es wurde eine dynamische Hüftschraube eingebracht. Postoperative Artefakte in den oberflächlichen Weichteilen ohne Hinweis auf eine Heilungsstörung und ohne Anhaltspunkt für eine postoperative Retention. Geringgradige Volumsreduktion der Muskulatur des Gluteus minimus und Gluteus medius links ohne weitere Auffälligkeit und somit uncharakteristisch)
Befund , vom 6. 3. 2017 (Aufnahmegrund: Mobilisierung nach Schenkelhalsfraktur links. Diagnosen bei Entlassung: Pertrochantäre Schenkelhalsfraktur li. mit abruptio trochanter majoris operative Sanierung 28.01.2017 im Wilhelminenspital COPD Il, Osteoporose St.p. Kollagenkolitis bei chron. NSAR-Gebrauch, Morbus Sudeck bei chron. Schmerzsyndrom St p. Nebenschilddrüsen-OP St.p OSG-OP li. 2004 St.p. Harnwegsinfekt)
Befund unfallchirurgische Abteilung Wilhelminenspital vom 13. 2. 2017 (petrochantäre Fraktur linker Oberschenkel mit Abriss des Trochanter major, PFNA).
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand: gut, 70 Jahre, Ernährungszustand: sehr gut, Größe: 152,00 cm Gewicht: 70,00 kg, Blutdruck: 135/80
Klinischer Status — Fachstatus:
Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen
Thorax: symmetrisch, elastisch. Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA. HAT rein, rhythmisch. Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz.
Integument: unauffällig
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:
Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse.
Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden. Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig. Aktive Beweglichkeit: Schultern, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beWeglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind uneingeschränkt durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten:
Freies Stehen sicher möglich, Zehenballengang und Fersengang beidseits ohne Anhalten und ohne Einsinken durchführbar. Der Einbeinstand ist ohne Anhalten möglich. Die tiefe Hocke ist zu einem Drittel möglich. Die Beinachse ist im Lot, annähernd symmetrische Muskelverhältnisse Beinlänge nicht ident, links -1 cm. Die Durchblutung ist ungestört, keine Ödeme, Varizen, keine trophischen Störungen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwielung ist in etwa seitengleich.
Hüftgelenk links: Narbe nach PFNA, kein Stauchungsschmerz, kein Rotationsschmerz.
Kniegelenk links: äußerlich unauffällig, seitengleich, keine Überwärmung, kein Erguss,
Druckschmerzen über dem Tibiakopf lateral, stabiles Gelenk, Patella mäßig verbacken.
Sprunggelenk links: Narbe über dem Außenknöchel 15 cm, geringgradige Umfangsvermehrung, keine Schwellung, keine Überwärmung, endlagige Bewegungsschmerzen. Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Hüften S beidseits 0/100, IR/AR beidseits 20/0/30, Knie beidseits 0/0/130, Sprunggelenke: OSG rechts 15/0/40, links 10/0/20, USG rechts frei, links zur Hälfte eingeschränkt, Zehen sind seitengleich frei beweglich. Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60° bei KG 5 möglich. Kraft proximal und distal KG 5/5, kein Hinweis für Vorfußheberschwäche und Großzehenheberschwäche beidseits.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, mäßig verstärkte Kyphose der BWS, sonst regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, kein Hartspann, kein Klopfschmerz über der Wirbelsäule.
Aktive Beweglichkeit:
HWS: in allen Ebenen frei beweglich
BWS/LWS: FBA: 30 cm, in allen Ebenen zur Hälfte eingeschränkt beweglich
Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar.
Gesamtmobilität — Gangbild:
Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen mit Rollator, das Gangbild mit Rollator ist verlangsamt, hinkfrei.
Barfußgang im Untersuchungszimmer ohne Anhalten und ohne Gehhilfe ist etwas verlangsamt, leicht vorgeneigt, geringgradig links hinkend, insgesamt mäßig zügig, Gesamtmobilität unauffällig, Wendemanöver unauffällig.
Das Aus- und Ankleiden wird selbständig im Sitzen durchgeführt.
Status Psychicus:
Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig; Stimmungslage ausgeglichen.
Ergebnis der durchgeführten Untersuchung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos.Nr.
GdB%
1
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule
Unterer Rahmensatz, da rezidivierende Beschwerden mit Lumboischialgie links bei mäßig eingeschränkter Beweglichkeit ohne neurologisches Defizit
02.01.02.
30
2
Chronisch obstruktive Lungenkrankheit, COPD II
Unterer Rahmensatz, da unter regelmäßiger Therapie klinisch unauffällig und kein Nachweis einer höhergradigen Lungenfunktionseinschränkung.
06.06.02.
30
3
Funktionseinschränkung linkes Sprunggelenk
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da mäßig eingeschränkter Bewegungsumfang.
02.05.32.
20
4
Laktoseintoleranz
Oberer Rahmensatz, da ständige Diät erforderlich.
07.04.04.
20
5
Geringgradige Funktionseinschränkung linkes Hüftgelenk
Unterer Rahmensatz, da bei Zustand nach operative sanierter Schenkelhalsfraktur geringgradige funktionelle Einschränkung
02.05.07.
10
Gesamtgrad der Behinderung
30 v.H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Leiden 1 wird durch die weiteren Leiden nicht erhöht, da kein maßgebliches ungünstiges Zusammenwirken mit führendem Leiden 1 besteht.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung: Keine
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Leiden 1 des Vorgutachtens (Funktionsbehinderung linkes Sprunggelenk) wird um 2 Stufen herabgesetzt, da eine Besserung feststellbar ist.
Leiden 3 des Vorgutachtens (Affektion des N.peronaeus links) und Leiden 4 (neuropathisches Schmerzsyndrom) entfallen, da nicht mehr objektivierbar.
Leiden 5 des Vorgutachtens (COPD Il) wird unter erstmaliger Anwendung der EVO neu eingestuft.
Hinzukommen von Leiden 5 des aktuellen Gutachtens, da dokumentiert. Chronische Darmentzündung des VGA ist nicht mehr nachgewiesen.
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung: Besserung von Leiden 1 und Wegfall von Leiden 3 und 4 des Vorgutachtens.
X Dauerzustand
………………….“
3. Das eingeholte medizinische Sachverständigengutachten vom 23.2.2018 wurde unter Einräumung einer dreiwöchigen Stellungnahmfrist dem Parteiengehör unterzogen. Mit Schreiben vom 13.3.2018 zog die BF ihren Antrag auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung zurück.
4. Mit Bescheid vom 17.4.2018 wurde von der belangten Behörde im Spruch festgelegt, dass die BF mit einem Grad der Behinderung von 30% nicht mehr die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfülle. Die belangte Behörde stützte sich dabei auf das eingeholte medizinische Sachverständigengutachten vom 23.2.2018. Die Stellungnahme der BF zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens sei nicht innerhalb der gesetzten Frist eingelangt. Das angeschlossene Gutachten vom 23.2.3018 sei ein Bescheidbegründungsbestandteil. Die BF erfülle nicht mehr die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses.
5. In einem weiteren Bescheid vom 18.4.2018 bezog sich die belangte Behörde auf den Grad der Behinderung von 30%, wodurch die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht mehr erfüllt seien. Der Behindertenpass der BF sei einzuziehen und von ihr unverzüglich der belangten Behörde vorzulegen.
6. Sowohl der Bescheid vom 17.4.2018 als auch der Bescheid vom 18.4.2018 wurden von der BF mit Beschwerde bekämpft, die beim Bundesverwaltungsgericht unter den Aktenzahlen W135 2196024-1 bzw. W135 2196026-1 protokolliert wurden. Mit Erkenntnis vom 21.8.2018, Zl W135 2196026-1/3E, wurde der Bescheid vom 18.4.2018 ersatzlos behoben. Mit Erkenntnis vom 21.8.2018, W135 2196024-1/4E, wurde die Beschwerde der BF gegen den Bescheid vom 17.4.2018 als unbegründet abgewiesen. Die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses würden nicht mehr vorliegen, sodass der Behindertenpass einzuziehen sei.
7. Auf Grund der gegen das abweisende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgericht, Zl W135 2196024-1/4E, eingebrachten außerordentlichen Revision behob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 13.12.2018, Ra 2018/11/0204, das angefochtene abweisende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.8.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Das Beschwerdeverfahren wurde in der Folge der Gerichtsabteilung W141 des Bundesverwaltungsgerichts zugeteilt. Von der BF wurden auch die Anträge zur Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ sowie zur Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO vom 12.12.2017 zurückgezogen. Mit Erkenntnis vom 25.7.2019, Zl W141 2196024-1/13E, wurde der angefochtene Bescheid vom 17.4.2018 ersatzlos behoben.
8. Mit Bescheid vom 5.11.2019, OB: 35763620000075, stellte die belangte Behörde fest, dass die BF mit einem Grad der Behinderung von 60% die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfülle. Die belangte Behörde bezog sich dabei auf einen Antrag der BF vom 15.6.2006 zur Ausstellung eines Behindertenpasses, wobei im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ein Grad der Behinderung von 60% festgestellt worden sei. Das in der Beilage angeschlossene Gutachten bilde einen Begründungsbestandteil.
9. Mit Bescheid vom 5.11.2019, OB XXXX , wurde von der belangten Behörde von Amts wegen der Gesamtgrad der Behinderung mit 30% festgelegt. In der Begründung bezog sich die belangte Behörde auf einen Antrag der BF vom 12.12.2017 auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung. Im Ermittlungsverfahren sei dabei ein Grad der Behinderung von 30% feststellt worden. Das angeschlossene dazu beauftragte Gutachten vom 23.2.2018 sei schlüssig und bilde einen Bestandteil der Begründung. Die Neufestsetzung sei von Amts wegen erfolgt.
10. Gegen den Bescheid vom 5.11.2019, OB XXXX , zur amtswegigen Neufestsetzung des Grades der Behinderung erhob die BF Beschwerde. Begründend wurde vorgebracht, dass der Antrag vom 12.12.2017 zurückgezogen worden sei und das Bundesverwaltungsgericht den dazu ergangenen Bescheid ersatzlos behoben habe. Das herangezogene Sachverständigengutachten vom 19.2.2018 sei bereits über 1 Jahr und 8 Monate alt. Es sei dazu nicht neuerlich ein Parteiengehör eingeräumt worden. Die belangte Behörde habe erst mit dem Bescheid vom 5.11.2019 darüber informiert, dass ein Verfahren von Amts wegen eingeleitet worden sei. Es handle sich um einen überraschenden Bescheid, der verhindert habe, dass die BF neue Befunde habe vorlegen können. Bei der BF seien im Jänner 2019 Rhythmusstörungen festgestellt worden. Sie habe sich auch im Juni 2019 einer Hernienoperation unterzogen. Sie habe auch Beschwerden im rechten Knie. Sie leide darüber hinaus an Osteoporose und unter Panikattacken. Dazu wurden medizinische Unterlagen vorgelegt. Es seien Sachverständigengutachten aus den Bereichen der Orthopädie/Chirurgie, Lungenheilkunde, Neurologie/Psychiatrie und inneren Medizin einzuholen. Es werde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Die belangte Behörde habe es auch unterlassen, das Gutachten zur Feststellung des Grades der Behinderung von 60% zu übermitteln, um der BF die Überprüfung der Besserung ihres Gesundheitszustandes zu ermöglichen.
11. Am 17.2.2020 wurde der Beschwerdeakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 45 Abs. 3 Bundesbehindertengesetz, BGBl Nr. 283/1990 idgF (BBG), hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Zu Spruchpunkt A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.). § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.
Der Verwaltungsgerichtshof geht in seiner Judikatur zur Entscheidungsbefugnis des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 28 VwGVG (vgl. VwGH vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063) grundsätzlich von einem prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte aus. Eine meritorische Entscheidungspflicht des Verwaltungsgerichtes liegt jedenfalls gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG vor, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde. Davon ist auszugehen, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
Die verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidung in der Sache selbst sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum beschränkt. Die in § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG verankerte Zurückverweisungsentscheidung stelle eine solche Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte dar. Normative Zielsetzung ist, bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken von der Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch zu machen. Davon ist auszugehen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Wird das Treffen einer meritorischen Entscheidung verneint, hat das Verwaltungsgericht auch nachvollziehbar zu begründen, dass die Voraussetzungen der Z 1 und Z 2 des § 28 VwGVG nicht vorliegen.
Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.
Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits im oben zitierten Erkenntnis vom 13.12.2018, Ra 2018/11/0204, das auf Grund der Revision der BF in Zusammenhang mit der Neufestsetzung ihres Grades der Behinderung und der damit verbundenen Entziehung ihres Behindertenpasses erging, ausführte, ist bei einem amtswegigen Vorgehen der belangten Behörde zur Festsetzung des Grades der Behinderung erforderlich, der BF Parteiengehör einzuräumen, andernfalls im Ergebnis ein unzulässiges „Überraschen“ der BF vorliegt. Ungeachtet dessen hat die belangte Behörde wiederum – ohne der BF ein Parteiengehör im Zuge der nunmehrigen amtswegigen Festsetzung des Grades der Behinderung der BF mit 30% - den angefochtenen mit 5.11.2019 datierten Bescheid erlassen. Abgesehen davon stütze sich die belangte Behörde auf ein medizinisches Sachverständigengutachten vom 23.2.2018, dem es an jeglicher Aktualität fehlt, und das auf einer mehr als eineinhalb Jahren zurückliegenden persönlichen Untersuchung der BF (19.2.2018) zurückgeht. Dieses kann jedoch in keiner Weise zur Beurteilung bei der nunmehrigen amtswegigen Festsetzung des Grades der Behinderung als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden. Es wurde auch zugleich am selben Tag – nämlich mit 5.11.2019 datierten Bescheid - von der belangten Behörde festgestellt, dass die BF mit einem Grad der Behinderung von 60% die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfüllt. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.
In gegenständlichen Fallkonstellation wäre zur schlüssigen und umfassenden Einschätzung der Gesundheitsschädigungen der BF im Hinblick auf eine amtswegige Festsetzung des Grades der Behinderung der BF die Einholung eines aktuellen medizinischen Sachverständigengutachtens erforderlich, das als Entscheidungsgrundlage für eine allfällige amtswegige Neufestsetzung des Grades der Behinderung der BF dienen kann. Dieses ist im Hinblick auf die Vermeidung der vom Verwaltungsgerichtshof aufgezeigten „Überraschung der BF“ unter Einräumung einer hinreichenden Stellungnahmefrist dem Parteiengehör zu unterziehen. Es wäre auch von der belangten Behörde mit Datum zu fixieren, ab wann der amtswegig festgestellte Grad der Behinderung für die BF gilt. Die seitens des Bundesverwaltungsgerichtes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung war in der gegenständlichen Fallkonstellation nicht möglich.
Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat. Der vorliegende Sachverhalt erweist sich im Hinblick auf die amtswegige Neufestsetzung des Grades der Behinderung der BF als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich sind.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann – im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes – nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine vollständig neue unmittelbare Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der BF für die amtswegige Neufestsetzung nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde neuerlich ein medizinisches Sachverständigengutachten unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen einzuholen und bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben. Die Ergebnisse des weiteren Ermittlungsverfahrens sind der BF im Rahmen einer allfälligen amtswegigen Neufestsetzung des Grades der Behinderung mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme unter Wahrung des Parteiengehörs zur Kenntnis zu bringen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, ausgeführt, dass im verwaltungsbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Parteiengehör SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W173.2228668.1.00Im RIS seit
05.10.2020Zuletzt aktualisiert am
05.10.2020