TE Vwgh Beschluss 2020/7/30 Ra 2019/20/0506

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.07.2020
beobachten
merken

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
B-VG Art133 Abs6 Z2
MRK Art8
VwGG §33 Abs1
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, in der Revisionssache des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. September 2019, 1. G307 2197204-1/15E, 2. G307 2197196-1/14E und 3. G307 2197199-1/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. Z S, sowie 2. S A und 3. D S, dieser vertreten durch S A, beide in W), den Beschluss gefasst:

Spruch

I. Die Revision wird, soweit sie sich gegen das erstgenannte Erkenntnis (betreffend den Erstmitbeteiligten) richtet, als gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.

II. Die Revision wird, soweit sie sich gegen das zweit- und drittgenannte Erkenntnis (betreffend die Zweitmitbeteiligte und den Drittmitbeteiligten) richtet, zurückgewiesen.

Begründung

1        Der - im Lauf des Revisionsverfahrens verstorbene - Erstmitbeteiligte war der Lebensgefährte der Zweitmitbeteiligten und der Vater des Drittmitbeteiligten. Die aus Serbien stammenden Mitbeteiligten stellten im Jahr 2014 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit den Bescheiden vom 24. April 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge ab, erteilte den Mitbeteiligten jeweils keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Serbien zulässig sei. Weiters sprach das BFA aus, dass den Beschwerden die aufschiebende Wirkung aberkannt werde, keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und der Erstmitbeteiligte sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 23. September 2016 verloren habe.

3        Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten und des Status von subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie hinsichtlich des Ausspruchs, der Erstmitbeteiligte habe sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren, als unbegründet ab. Im Übrigen gab es den Beschwerden aber statt und erklärte in Bezug auf die Mitbeteiligten die Erlassung von Rückkehrentscheidungen gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) bis zum 1. September 2020 vorübergehend als unzulässig. Unter einem sprach das BVwG aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig sei.

4        Begründend führte das BVwG - zusammengefasst - aus, der Erstmitbeteiligte sei wiederholt in Österreich stationär behandelt worden, sei an den Rollstuhl gebunden und „überwiegend auf Pflege und Unterstützung ... angewiesen“, welche von der zweit- und drittmitbeteiligten Partei „übernommen“ worden sei. Er werde in häuslicher Pflege betreut, stehe unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle und werde medikamentös behandelt. Nicht festgestellt werden könne, dass er an einer tödlichen Krankheit im Endstadium leide. Er benötige regelmäßig eine Reihe von Medikamenten und Behandlungen, die nicht alle in Serbien durch staatliche Leistungen gedeckt seien. Die dortigen Sozialleistungen bewegten sich zudem auf niedrigem Niveau. Aufgrund der Notwendigkeit der Finanzierung seiner Medikamente und Behandlungen müsste der Erstmitbeteiligte im Fall einer Rückkehr - selbst bei Unterstützung durch seine Familienangehörigen - massive Einschränkungen in seiner Lebensführung hinnehmen. Insbesondere aufgrund seiner aktuellen Mobilitätseinschränkung und dadurch hervorgerufener Reisestrapazen bestehe die massive Gefahr einer Verschlechterung seines Allgemeinzustandes. Der erhebliche Behandlungsbedarf erscheine im Ergebnis geeignet, das private Interesse des Erstmitbeteiligten an einem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet ausreichend zu stärken, weshalb sich die Rückkehrentscheidung im Entscheidungszeitpunkt gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG als vorübergehend unzulässig erweise.

Zu Spruchpunkt I.:

5        Gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG ist eine Revision mit Beschluss als gegenstandlos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen, wenn in irgendeiner Lage des Verfahrens offenbar wird, dass der Revisionswerber klaglos gestellt wurde. Ein Einstellungsfall (wegen Gegenstandslosigkeit) liegt insbesondere auch dann vor, wenn der Revisionswerber kein rechtliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung des Gerichtshofes hat (vgl. VwGH 13.2.2020, Ra 2019/01/0105, mwN).

6        Dies gilt auch für eine Revision der belangten Behörde gemäß Art. 133 Abs. 6 Z 2 B-VG. Es ist nämlich nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes, in einer Revisionssache zu entscheiden, wenn der Entscheidung nach der Sachlage praktisch überhaupt keine Bedeutung mehr zukommt und letztlich bloß eine Entscheidung über theoretische Rechtsfragen ergehen könnte (vgl. VwGH 20.5.2015, Ro 2015/10/0021, mwN).

7        Dies liegt im Fall des Erstmitbeteiligten hier vor, weil dieser verstorben ist und das Erkenntnis höchstpersönliche Rechte zum Gegenstand hat, in die eine Rechtsnachfolge nicht in Betracht kommt (vgl. etwa zum Fall des Ausspruchs über die Zulässigkeit der Abschiebung VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0170, 0171; zum Recht auf Asylgewährung VwGH16.12.2009, 2007/01/1232 bis 1236; 28.4.2010, 2008/19/1161). Über Anfrage des Verwaltungsgerichtshofes erklärte das BFA, an einer Entscheidung über die Revision, soweit sie gegen das den Erstmitbeteiligten betreffende Erkenntnis gerichtet ist, kein rechtliches Interesse mehr zu haben. Mit dem Ableben des Erstmitbeteiligten nach Einbringung der vorliegenden Revision ist diese hinsichtlich des ihn betreffenden Ausspruchs der vorübergehenden Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung im Sinne des § 33 Abs. 1 VwGG gegenstandslos geworden, weshalb das Revisionsverfahren in Bezug auf die ihn betreffende Entscheidung einzustellen war.

Zu Spruchpunkt II.:

8        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

9        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

10       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

11       Das BFA bekämpft die angefochtenen Erkenntnisse in dem Umfang, in dem die Rückkehrentscheidungen jeweils vorübergehend für unzulässig erklärt wurden.

12       Soweit die Revision ihre Zulässigkeit mit einer Abweichung vom Erkenntnis vom 25. Oktober 2012, 2012/21/0030, begründet, lässt sie außer Acht, dass dieses Erkenntnis zu einer Rechtslage ergangen ist, die im vorliegenden Fall nicht anzuwenden war. Ausführungen dazu, inwieweit das zitierte Erkenntnis auf die geltende Rechtslage, auf deren Basis die Entscheidungen des BFA und des BVwG ergingen, übertragbar wäre, sind der Revision nicht zu entnehmen. Dass das BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG von der Judikatur des Verwaltungsgerichthofes abgewichen sei, wird mit dem erwähnten Vorbringen daher nicht aufgezeigt (vgl. VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0148).

13       Mit dem (unter Hinweis auf VwGH 23.2.2018, Ra 2017/03/0064, erstatteten) Vorbringen, das BVwG habe sich „auf 10 Monate alte Ermittlungsergebnisse gestützt“, macht die Revision einen Verfahrensmangel geltend. Werden Verfahrensmängel - wie hier Feststellungs- und Ermittlungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2020/20/0049, mwN). Diesem Erfordernis wird die Zulässigkeitsbegründung mit dem Vorbringen, dass „bei einer vorübergehenden Erlassung einer Rückkehrentscheidung per definitionem auf einen relativ kurzen Zeitraum abzustellen“ sei, nicht gerecht.

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 10.7.2019, Ra 2019/14/0288; 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, jeweils mwN).

15       Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 5.7.2019, Ra 2019/01/0227, 0228, mwN). Das BFA behauptet mangelhafte Feststellungen zu Art und Dauer der erforderlichen medizinischen Behandlungen in Österreich. Das in der Zulässigkeitsbegründung (unter Hinweis auf die Erkenntnisse des VwGH vom 29. Februar 2012, 2010/21/0310 bis 0314, und vom 23. März 2017, Ra 2017/21/0004) erstattete Vorbringen, dass das BVwG nicht festgestellt habe, aufgrund welcher Umstände eine medizinische Behandlung des Erstmitbeteiligten „nur in Österreich“ erfolgen könne, übersieht, dass sich die Beurteilung des vorliegenden Falles nicht auf eine Behandlungsbedürftigkeit beschränkt und sich das BVwG auch auf den - in der Zulässigkeitsbegründung als solchen nicht bestrittenen - Aspekt gestützt hat, dass der Erstmitbeteiligte der massiven Gefahr einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes „insbesondere aufgrund seiner aktuellen Mobilitätseinschränkung und dadurch hervorgerufener Reisestrapazen“ ausgesetzt wäre. Dass ausgehend davon die unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles erfolgte Entscheidung des BVwG im aufgezeigten Sinn unvertretbar wäre, ist anhand der Ausführungen der Revision nicht zu sehen.

16       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.

Wien, am 30. Juli 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200506.L00

Im RIS seit

20.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten