TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/14 L526 2170738-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.11.2019
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Entscheidungsdatum

14.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L526 2170745-1/25E

L526 2170740-1/17E

L526 2170730-1/18E

L526 2170735-1/18E

L526 2170738-1/17E

L526 2170733-1/9E

L526 2170747-1/9E

L526 2170727-1/9E

L526 2170742-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerden 1. des XXXX , geb. XXXX , 2. der XXXX alias XXXX , geb. XXXX , 3. der XXXX , geb. XXXX , 4. der XXXX , geb. XXXX , 5. der XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX alias XXXX , 6. des XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX alias XXXX 7. der XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX alias XXXX , 8. des XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX alias XXXX und 9. des XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX alias XXXX alle Staatsangehörigkeit Irak, alle vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2017, Zlen. 1) XXXX , 2) XXXX , 3) XXXX 4) XXXX , 5) XXXX , 6) XXXX , 7) XXXX , 8) XXXX , 9) XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.10.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet, die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin sowie die minderjährigen Fünft- bis Neuntbeschwerdeführer sind die gemeinsamen Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Sämtliche Beschwerdeführer sind Staatsangehörige des Irak und gehören der kurdischen Volksgruppe an.

2. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen stellten am 23.04.2016 jeweils für sich, die Zweitbeschwerdeführerin auch für die mitgereisten minderjährigen Kinder, im Gefolge ihrer schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Wien am Tag der Antragstellung legten der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen dar, den im Spruch ersichtlichen Namen zu führen und an dem ebendort ersichtlichen Datum geboren zu sein. Sie hätten an einer genau bezeichneten Adresse in XXXX im Irak gewohnt und hätten vor dort aus den Irak verlassen.

Zu den Gründen für die Ausreise befragt, gab der Erstbeschwerdeführer an, sie seien wegen der täglichen Gefechte zwischen kurdischen Truppen und dem Islamischen Staat (in weiterer Folge auch kurz "IS" genannt) ausgereist. Er habe Angst um sein Leben und das seiner Familie gehabt. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, das Land wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen zu haben. Es habe täglich Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und dem IS gegeben. Sie stelle auch für ihre minderjährigen Kinder einen Antrag. Diese hätten keine eigenen Fluchtgründe.

Die Drittbeschwerdeführerin gab an, sie sei wegen des IS ausgereist. Es habe vermehrt Gefechte in ihrer Gegend zwischen den Peschmerga und dem IS gegeben. Deshalb sei sie geflohen.

Die Viertbeschwerdeführerin gab an, die Eltern hätten wegen der Gefechte der Peschmerga mit dem IS beschlossen, das Land zu verlassen.

3. Am 20.07.2019 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführerinnen am Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle St. Pölten, befragt. Dabei gaben die befragten Beschwerdeführer bzw. Beschwerdeführerinnen im Wesentlichen gleichlautend an, sie seien im Jahr 2012 aus dem Kurdengebiet geflohen, da die Drittbeschwerdeführerin mit ihrem Cousin hätte verheiratet werden sollen, der Erstbeschwerdeführer diesem Wunsch jedoch nicht nachgekommen sei und er und die Familie somit mit Sanktionen zu rechnen hätte. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gaben an, den Irak von XXXX , ein Dorf in der Nähe von Mosul, aus verlassen zu haben, wo die Familie im Jahr 2014 nach einem Aufenthalt in XXXX hingezogen wäre, da die vordringenden IS-Kämpfer alle Kurden hätten umbringen wollen.

Die Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen gaben an, sie hätten zuletzt in XXXX gewohnt und seien dort zur Schule gegangen.

Die Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen gaben an, die Familie hätte den Irak über den Flughafen Erbil verlassen.

4. Mit den im Spruch näher bezeichneten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2017 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak jeweils gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, die vorgebrachte Gefährdung der Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen aufgrund einer verweigerten Verheiratung der Drittbeschwerdeführerin mit ihrem Cousin und des daraufhin entfachten Familienkonfliktes werde als nicht glaubhaft erachtet.

Eine Rückkehr in den Irak sei den Beschwerdeführern möglich und zumutbar, da die Beschwerdeführer über familiäre Anknüpfungspunkte in der autonome Region Kurdistan, nämlich in Form der in XXXX lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, verfügen. Zudem sei der Erstbeschwerdeführer gesund und arbeitsfähig und daher fähig, für das Auskommen seiner Familie zu sorgen.

Es hätten sich im Verfahren auch keine Hinweise auf eine allgemeine existenzbedrohende Notlage ergeben.

5. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.08.2017 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

6. Gegen die den Beschwerdeführern am 30.08.2017 durch Hinterlegung zugestellten, im Spruch näher bezeichneten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2017 richtet sich die im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte gemeinsame Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide moniert und beantragt, die angefochtenen Bescheide abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den Beschwerdeführen den Status der Asylberechtigten oder hilfsweise den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig sei und die Abschiebung nach § 46 für unzulässig zu erklären. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt. Ausdrücklich wurde die Beiziehung eines Dolmetschers in der Sprache Kurdisch-Kurmanji beantragt.

In der Sache wird im Wesentlichen vorgebracht, das belangte Bundesamt habe das Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien nicht richtig gewürdigt. Die Behörde hätte auch die Sicherheitslage sowie die Versorgungslage im Irak vor dem Hintergrund der persönlichen Verhältnisse der beschwerdeführenden Parteien betrachten müssen.

In der Folge wurde ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführer anlässlich der Erstbefragung die drohende Zwangsheirat der Drittbeschwerdeführerin nicht erwähnt hätte, da er müde und unkonzentriert gewesen sei. Zudem habe man ihm gesagt, er solle die Fluchtgründe nur kurz umreißen. Ferner werden Ausführungen zum Bruder des Erstbeschwerdeführers getätigt und unter anderem angeführt, dass dieser Leiter der PDK-Partei ist und aufgrund seiner einflussreichen Position eine Verfolgung im gesamten Kurdengebiet zu erwarten sei. Belege für das Vorbringen gebe es nicht. Die Familie habe sich zur Ausstellung eines Reisepasses wieder in das Kurdengebiet begeben, jedoch habe der Bruder wegen des kurzen Aufenthaltes nichts davon bemerkt. Für ihre Ausreise habe die Familie sich kein Geld ausgeborgt, wie die Behörde vermeint habe, sondern diese durch den Verkauf eines Autos und dem Schmuck der Zweitbeschwerdeführerin finanziert.

Ferner werden über mehrere Seiten länderkundliche Berichte betreffend Zwangsheirat und Bedrohung durch den IS wegen der kurdischen Volkszugehörigkeit der Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen und die Sicherheitssituation in der KRG Region zitiert.

7. Die Beschwerdevorlage langte am 15.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Der Neuntbeschwerdeführer wurde am XXXX in XXXX im Bundesgebiet geboren. Er stellte durch die Zweitbeschwerdeführerin als seine gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.

9. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.06.2019 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung der Beschwerdeführer aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Vorbereitung einer anberaumten mündlichen Beschwerdeverhandlung übermittelt und die Möglichkeit einer Stellungnahme freigestellt.

10. Mit E-Mail vom 17.07.2019 ersuchte die rechtsfreundliche Vertretung um Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch-Badhini

11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.07.2019 wurde mitgeteilt, dass aufgrund des ausdrücklichen Wunsches in der Beschwerdeschrift ein Dolmetscher für die Sprache Kurdisch-Kurmanji bestellt wurde, der auch die Sprache Arabisch beherrsche. Ferner wurde auch eine weibliche Dolmetscherin für die Sprache Arabisch bestellt und wurden die Beschwerdeführer aufgefordert, bekanntzugeben, ob die Verhandlung mit den bestellten Dolmetschern durchgeführt werden soll, widrigenfalls eine Erklärung abzugeben, warum eine Durchführung der Verhandlung in der Sprache Arabisch nicht möglich sei. Mit Schreiben vom 23.07.2019 teilten die Beschwerdeführer im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung mit, dass sie einer Verhandlung nur beiwohnen möchten, wenn ein Dolmetscher für die Sprache Kurdisch-Badhini anwesend sei. Die Familie spreche nur wenig Kurmanji und könne sich nicht ausreichend auf Arabisch verständigen. Die für den 30.08.2019 und 01.09.2019 anberaumte Verhandlung wurde deshalb abberaumt.

12. Mit Schreiben vom 18.07.2019 wurden Sprachzertifikate und Schulbesuchsbestätigungen die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen betreffend vorgelegt.

13. Am 23.10.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Erstbeschwerdeführers, der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerin, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Kurdisch-Badhini durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den geladenen Beschwerdeführern, der Zweitbeschwerdeführerin auch in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder, einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation sowie ihre Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen und Anfragebeantwortungen erörtert.

In der Beschwerdeverhandlung wurden die zusammen mit der Ladung zur Beschwerdeverhandlung übermittelten Länderberichte, nämlich das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie weitere in der mündlichen Verhandlung übergebene Länderdokumentationsunterlagen erörtert und wurde den Beschwerdeführern eine schriftliche Stellungnahme hierzu freigestellt.

Folgende Unterlagen wurden dem Gericht von den Beschwerdeführern persönlich übergeben:

- Bestätigung für die Viertbeschwerdeführerin über den Besuch der ersten Klasse der Schule für Sozialbetreuungsberufe für das Schuljahr 2019/2020

- Auszüge aus dem Melderegister Viertbeschwerdeführerin betreffend

- Bestätigung über den Besuch der Drittbeschwerdeführerin eines Bundesgymnasium als außerordentliche Schülerin im Schuljahr 2018/2019

- Bestätigung für die Dritt-, Viertbeschwerdeführerinnen und Fünftbeschwerdeführerin über den Besuch des Bundesgymnasiums als außerordentliche Schülerin (Viert und Fünftbeschwerdeführerinnen) sowie der NNÖMS (Fünftbeschwerdeführerin) in den Schuljahren 2016/2017, 2018/2019, 20119/2020

- Zeugnis über die Absolvierung eines Lehrganges der Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen in der Unterrichtssprache Deutsch für die Dritt und Viertbeschwerdeführerinnen

- Schulbesuchsbestätigung und ergänzende Leistungsbeschreibung für die Fünftbeschwerdeführerin

- Auszug aus dem Familienbuch samt Übersetzung

- Zertifikat über die Teilnahme der Viertbeschwerdeführerin an einer fachspezifischen Schulungsmaßnahme "Kommunikation für Dolmetscher" im Ausmaß von 32 Unterrichtseinheiten für die Dritt und Viertbeschwerdeführerinnen

- Bestätigung, dass die Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen die Prüfung für die Sprache Deutsch für das Niveau A1 und A2 bestanden haben

- Bestätigung, dass die Fünftbeschwerdeführerin die Prüfung für die Sprache Deutsch für das Niveau A1 bestanden hat

- Bestätigung, dass die Drittbeschwerdeführerin die Prüfung für die Sprache Deutsch für das Niveau B1 bestanden hat

- Bestätigung über die nicht erfolgreich abgelegte Integrationsprüfung der Drittbeschwerdeführerin vom 17.06.2019

- Bestätigung über die Absolvierung eines Praktikums der Drittbeschwerdeführerin in einer Arzt-Ordination

14. Am 29.10.2019 brachten die Beschwerdeführer ergänzend zu ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung ein Urkundenkonvolut in Vorlage. Dabei handelte es sich um Kopien eines Fotobuches, welches der Erstbeschwerdeführer angefertigt hat und ihn beispielsweise bei Arbeiten in der Gemeinde oder mit Freunden zeigt.

15. Am 06.11.2019 langte eine abschließende Stellungnahme der Beschwerdeführer zu den übermittelten bzw. übergebenen Länderdokumentationsunterlagen beim Bundesverwaltungsgericht ein. In dieser wird - unter Anführung verschiedener Berichte - im Wesentlichen dargetan, dass die Sicherheitslage im Irak unverändert schlecht sei. Die meisten vom Gericht ausgehändigten Länderfeststellungen würden sich auf die autonome Region Kurdistan beziehen. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen hätten in der mündlichen Verhandlung jedoch glaubhaft und schlüssig dargetan, dass eine Rückkehr dorthin wegen der Bedrohung durch den Bruder des Erstbeschwerdeführers ausgeschlossen sei. Allein der Umstand, dass die Beschwerdeführer im Jahr 2012 XXXX in Richtung XXXX verließen, ließe auf eine tatsächliche Bedrohung in der autonomen Region Kurdistan schließen. Darüberhinaus stelle sich die Lage im Kurdengebiet zwar etwas besser dar als im übrigen Irak, allerdings käme es auch immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in welche, wie die übergebenen Berichte zeigten, auch die kurdischen Streitkräfte involviert seien, weshalb sich die Lage jederzeit ändern könne. Bei diesen Zusammenstößen kämen auch immer wieder Zivilisten zu Schaden. Unter Zitierung der übergebenen Berichte wurde ferner auf die äußerst angespannte wirtschaftliche Situation in der autonomen Region Kurdistan sowie den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten verwiesen. Schließlich wurde noch vermerkt, dass die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen aufgrund ihrer Fluchtgeschichte keine Unterstützung durch die Familie bzw. Gemeinschaft erwarten könnten. In Anbetracht der Wohnungsknappheit und der horrenden Mietpreise wären die Beschwerdeführer von Armut und Obdachlosigkeit bedroht und somit der realen Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt. Im Übrigen wurde auf die bisherigen Stellungnahmen und das Vorbingen der Beschwerdeführer verwiesen und ersucht, der Beschwerde stattzugeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer tragen den im Spruch ersichtlichen Namen und sind zu den im Spruch ersichtlichen Daten geboren. Sie sind alle Staatsangehörige des Irak und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Sie wurden bis auf den Neuntbeschwerdeführer in XXXX geboren. Der Neuntbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren.

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen lebten bis zu ihrer Ausreise im Februar des Jahres 2016 in XXXX in der autonomen Region Kurdistan.

Die Beschwerdeführer sind Moslems und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der Dritt- bis Neuntbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen. Die Fünft- bis Neuntbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen sind minderjährig.

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen sind gesund und haben bis auf die Viertbeschwerdeführerin keine Beschwerden. Die Viertbeschwerdeführerin bekommt gerade eine Spritzenkur für ihr Herz. Sie muss sie sich schonen. Es liegen keine medizinischen Atteste vor.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Viertbeschwerdeführerin an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet und eine rasche und unwiederbringliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands im Falle ihrer Rückkehr zu befürchten ist, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass sie regelmäßig medizinische Betreuung braucht.

Die übrigen Beschwerdeführer stehen nicht in medizinischer Behandlung.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte im Irak die Grundschule im Ausmaß von sieben Jahren und arbeitete danach als Taxifahrer.

Die Mutter des Erstbeschwerdeführers sowie vier Brüder und eine Schwester leben nach wie vor in XXXX .

Für die Ausreise und die anschließende Schleppung wendete der Erstbeschwerdeführer 19.000 Euro auf.

Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in XXXX sechs Jahre lang die Grundschule. Sie trat nicht in das Erwerbsleben ein und widmete sich nach ihrer Eheschließung der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder.

Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sowie vier Schwestern und fünf Brüder leben nach wie vor in XXXX .

Die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen besuchten im Irak die Schule. Die Drittbeschwerdeführerin besuchte elf Jahre lang die Schule, zuletzt ein Gymnasium, zu dessen Abschluss noch ein Jahr fehlte. Die Viert-, die Fünft- sowie der Sechstbeschwerdeführer besuchten die Mittelschule. Die Siebentbeschwerdeführerin und der Achtbeschwerdeführer verließen den Irak noch vor Erreichen des schulpflichtigen Alters.

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen beherrschen die Sprache Kurdisch Badhini und etwas Arabisch. Die Drittbeschwerdeführerin spricht auch Türkisch.

Im Februar 2016 verließen die Erst- bis Achtbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen gemeinsam den Irak von XXXX ausgehend mit dem Flugzeug in Richtung Türkei und gelangten in der Folge schlepperunterstützt in die Türkei und von dort über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn weiter nach Österreich, wo sie am 23.04.2016 in Wien festgenommen wurden und in weiterer Folge die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Der Neuntbeschwerdeführer wurde im Jahr XXXX in Österreich geboren.

Die Erst- bis Achtbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen verfügen über irakische Ausweisdokumente im Original, nämlich Reisepässe. Diese wurden im November 2015 in XXXX ausgestellt.

1.2. Zu den Ausreisegründen und der behaupteten Rückkehrgefährdung:

1.2.1. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatten in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit oder aufgrund ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

1.2.2. Die Viert- bis Neuntbeschwerdeführer bzw.- beschwerdeführerinnen brachten keine eigenen asylrelevanten Ausreisegründe vor.

1.2.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen einer von der Mutter und dem Bruder des Erstbeschwerdeführers bestimmten Verehelichung der Drittbeschwerdeführerin mit ihrem Cousin widersetzten bzw. die Verehelichung vereitelten und sie nunmehr deshalb oder aus anderweitigen Gründen einer von der Familie des Erstbeschwerdeführers oder der Zweitbeschwerdeführerin ausgehenden individuellen Gefährdung ausgesetzt wären oder ihnen aus diesem Grund im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in die autonome Region Kurdistan eine solche Gefährdung drohen würde.

1.2.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass die minderjährigen Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in die autonome Region Kurdistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder Zwangsehe betroffen wären.

1.2.5. Es kann schließlich nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären. Den Beschwerdeführern und Beschwerdefüherinnen droht außerdem im Rückkehrfall keine strafrechtliche Verfolgung.

1.2.6. Es kann nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführern und Beschwerdefüherinnen im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine im Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie im Hinblick auf kriegerische Ereignisse, extremistische Anschläge, stammesbezogene Gewalt oder organisierte kriminelle Handlungen.

1.2.7. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat von einer existentiellen Notlage und/oder Obdachlosigkeit betroffen waren.

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen verfügen über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in ihrer Herkunftsregion in der Autonomen Region Kurdistan und dort auch über familiäre Anknüpfungspunkte in Gestalt ihrer dort lebenden zahlreichen Familienangehörigen und Verwandten.

Der Erstbeschwerdeführer ist ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit grundlegender Schulbildung sowie mit im Herkunftsstaat erworbener Berufserfahrung als Taxifahrer. Ihm ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Familienauskommens im Rückkehrfall möglich und zumutbar.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist ebenfalls ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit grundlegender Schulbildung. Auch der Zweitbeschwerdeführerin ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Familienauskommens im Rückkehrfall - soweit es die Betreuungspflicht in Ansehung der minderjährigen Beschwerdeführer zulässt - grundsätzlich möglich und zumutbar.

Ferner sind auch die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen jung, gesund und in erwerbsfähigem Alter. Sie sind ebenfalls anpassungsfähige Menschen mit mehrjähriger Schulbildung. Auch ihnen ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Familienauskommens im Rückkehrfall grundsätzlich möglich und zumutbar.

1.2.8. Die minderjährigen Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen verfügen in ihrer Herkunftsregion in der Autonomen Region Kurdistan über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage, ferner ist eine hinreichende Betreuung durch ihre Eltern und den Familienverband und eine hinreichende Absicherung in ihren altersentsprechenden Grundbedürfnissen gegeben. Den minderjährigen Beschwerdeführern und Beschwerdeführerinnen steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung.

1.2.9. Die autonome Region Kurdistan ist im Luftweg direkt mit Linienflügen (etwa Schwechat-Erbil oder Suleymania) gefahrlos erreichbar. Bei den Beschwerdeführern und Beschwerdeführerinnen handelt es sich um ethnische Kurden mit familiären und verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten in der Autonomen Region Kurdistan und ihrer Herkunftsregion, wo auch ihr Reisepass ausgestellt wurde. Sie werden daher nicht von Zugangssperren zur Kurdenregion oder zum Gouvernement, aus dem sie stammen, betroffen sein.

1.3. Zur Lage der Beschwerdeführer im Bundesgebiet:

1.3.1. Die Erst- bis Achtbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführeinnen halten sich seit dem 23.04.2016 im Bundesgebiet auf. Sie reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, sind seither Asylwerber und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Neuntbeschwerdeführer wurde am XXXX im Bundesgebiet geboren, ist seither Asylwerber und verfügt ebenfalls über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen leben nach einer anfänglichen Unterbringung in einer Unterkunft für Asylwerber seit Mai des Jahres 2019 in einer privaten Wohnung in XXXX . Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen beziehen seit Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und sind nicht erwerbstätig. Keiner der Beschwerdeführer bzw. Beschwerdeführerinnen in erwerbsfähigem Alter hat eine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Sie haben sich bislang auch nicht um eine legale Erwerbstätigkeit bemüht.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin besuchten Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache, haben jedoch keine Sprachzertifikate erlangt. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin beherrschen die deutsche Sprache nur in rudimentäre Ausmaß.

Die Dritt-, Viert und Fünftbeschwerdeführerinnen besuchten das Bundesgymnasiums als außerordentliche Schülerinnen, die Fünftbeschwerdeführerin auch die "NNÖMS XXXX " in den Schuljahren 2016/2017 und 2018/2019.

Die Drittbeschwerdeführerin besucht nun die Handelsschule als ordentliche Schülerin. Sie hat eine Prüfung zum Sprachniveau B1 bestanden.

Die Viertbeschwerdeführerin besucht zur Zeit die erste Klasse der Schule für Sozialbetreuungsberufe.

Die Fünftbeschwerdeführerin wird ebenfalls ordentliche Schülerin an der Handelsschule.

In der Zeit vom 28.11.2018 bis zum 5.12.2018 haben die Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen an einer fachspezifischen Schulungsmaßnahme "Rechtliche Aspekte I-III und Kommunikation für Dolmetscher" im Ausmaß von 32 Unterrichtseinheiten teilgenommen.

Die Sechts- bis Achtbeschwerdeführer bzw. -beschwerdeführerinnen gehen ebenfalls zur Schule.

1.3.2. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen haben - von den Verfahrensbeteiligten Familienangehörigen abgesehen - im Bundesgebiet keine Verwandten. Merkmale einer ein- oder wechselseitigen Abhängigkeit zu Personen im Bundesgebiet sind nicht feststellbar.

1.3.3. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.4.1. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.02.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Am 002.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 02.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018). Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.02.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 12.02.2018). Die ethnische und religiöse Zusammensetzung der einzelnen Regionen des Irak ist aus der Grafik im Punkt Minderheiten ersichtlich.

1.1. Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

1.2. Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

1.3. Autonome Region Kurdistan

Ein Teil des föderalen Staates Irak ist die Autonome Region Kurdistan, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Die Autonome Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung. Gemäß Art. 121 der irakischen Verfassung üben kurdische Sicherheitskräfte (insbesondere die militärisch organisierten Peschmerga und die Sicherheitspolizei Asayish) die Sicherheitsverantwortung in den Provinzen Erbil, Sulaimaniyya, Dohuk und Halabdscha aus; diese Kräfte kontrollieren darüber hinaus de facto Teile der Provinzen Diyala, Kirkuk und Ninawa. Die Autonome Region Kurdistan betreibt außerdem eine eigenständige Wirtschafts- und Außenpolitik und regelt Fragen der Grenzkontrolle selbst - hierzu gehört auch die von zentralirakischen Behörden unabhängige Vergabe von Visa.

Bis heute ist die Region faktisch zwischen KDP (Kurdistan Democratic Party) und PUK (Patriotic Union of Kurdistan) aufgeteilt - wobei die PUK in den letzten Jahren Einfluss an Goran abgeben musste. Innerhalb der autonomen Kurdenregion gibt es immer wieder Konflikte zwischen den drei großen irakisch-kurdischen Parteien KDP, Goran und PUK. Grund dafür ist unter anderem die Wirtschaftskrise und die weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft, die im Kurdengebiet vorherrschen. Darüber hinaus sorgte der Streit um die Präsidentschaft Mas?ud Barzanis für Spannungen, dessen (bereits außertourlich verlängerte) Amtszeit schon im August 2015 abgelaufen war. Die Waffenlieferungen des Westens und anderer Verbündeter an die Kurden haben zudem den Effekt, dass die kurdische Politik insgesamt zwar an Bedeutung gewinnt, sich jedoch dadurch die Spannungen zwischen den kurdischen Fraktionen weiter erhöhen. KDP und PUK sind durch ihre jeweiligen Bündnisse mit mächtigen - teilweise gegensätzlichen - Partnern gespalten: Die KDP mit Mas'ud Barzani, dem Präsidenten der KRG (Kurdish Regional Government - die Regionalregierung in der KRI) wird vorrangig vom Westen unterstützt und steht der Türkei nahe, während die PUK vorrangig vom Iran unterstützt wird und der türkischen PKK sowie der irakischen Regierung in Bagdad nahesteht. Beide Parteien haben ihre jeweils eigenen Militäreinheiten (Peschmerga), die im Kampf gegen den IS oftmals in einem starken Konkurrenzverhältnis zueinander stehen.

Das Verhältnis der Zentralregierung zur kurdischen Autonomieregion, die einen semi-autonomen Status innehat, hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der Autonomieregion und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil umstrittener Gebiete am 25.09.2017 deutlich verschlechtert (AA 12.02.2018). Die Kurden konnten das von ihnen kontrollierte Territorium im Irak in Folge der Siege gegen den IS zunächst ausdehnen. Mit dem Referendum am 25.09.2017 versuchte die kurdische Regional-Regierung unter Präsident Masud Barzani, ihren Anspruch auch auf die von ihr kontrollierten Gebiete außerhalb der drei kurdischen Provinzen zu bekräftigen und ihre Verhandlungsposition gegenüber der Zentralregierung in Bagdad zu stärken (BPB 24.1.2018).

Bagdad reagierte mit der militärischen Einnahme eines Großteils der umstrittenen Gebiete, die während des Kampfes gegen den IS von kurdischen Peshmerga übernommen worden waren, angefangen mit der ölreichen Region um Kirkuk (AA 12.02.2018). Die schnelle militärische Rückeroberung der umstrittenen Gebiete durch die irakische Armee, einschließlich der Erdöl- und Erdgasfördergebiete um Kirkuk, mit massiver iranischer Unterstützung, bedeutete für die kurdischen Ambitionen einen Dämpfer. Präsident Barzani erklärte als Reaktion darauf am 29.10.2017 seinen Rücktritt. Der kampflose Rückzug der kurdischen Peshmerga scheint auch auf zunehmende Differenzen zwischen den kurdischen Parteien hinzudeuten (BPB 24.1.2018).

Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregion (AA 12.02.2018). Im Dezember 2017 forderte die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen gegen die Regionalregierung in Sulaymaniya mehrere Todesopfer. Daraufhin hat sich die Oppositionspartei Gorran aus dem kurdischen Parlament zurückgezogen (BPB 24.1.2018). In der Autonomieregion gehen die Proteste schon auf die Zeit gleich nach 2003 zurück und haben seitdem mehrere Phasen durchlaufen. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind jedoch gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018).

Das Parlament der Autonomen Region Kurdistan hat 110 Abgeordnete; elf davon sind quotierte Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten. Zudem regelt eine Quote, dass dreißig Prozent der Mandate von Frauen wahrgenommen werden müssen. Am 30.9.2018 fanden in der kurdischen Autonomieregion Wahlen zum Regionalparlament statt (Tagesschau 30.9.2018). Mit einer Verzögerung von drei Wochen konnte die regionale Wahlkommission am 20.10.2018 die Endergebnisse veröffentlichen. Zahlreiche Parteien hatten gegen die vorläufigen Ergebnisse Widerspruch eingelegt. Gemäß den offiziellen Endergebnissen gewann die KDP mit 686.070 Stimmen (45 Sitze), vor der PUK mit 319.912 Stimmen (21 Sitze) und Gorran mit 186.903 Stimmen (12 Sitze) (ANF 21.10.2018; vgl. Al Jazeera 21.10.2018, RFE/RL 21.10.2018). Die Oppositionsparteien lehnen die Abstimmungsergebnisse ab und sagen, dass Beschwerden über den Wahlbetrug nicht gelöst wurden (Al Jazeera 21.10.2018).

2. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich verbessert, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv und ist die Sicherheitslage regional unterschiedlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates in allen Fällen sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten und zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (AA 12.02.2018).

Die im Folgenden dargestellte Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und ziviler Opfer ist im Kontext der Bevölkerungsanzahl eines Gouvernements zu sehen. Im Folgenden findet sich eine Tabelle mit Schätzungen der Bevölkerungszahlen der irakischen Provinzen (herausgegeben von der Republik Irak, mit Stand 2009):

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(Quelle: Republik Irak, zitiert bei UK HO 3.2017)

2.1. Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 03.07.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 06.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 04.10.2018; vgl. ISW 02.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 04.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Rückzugsgebiete des IS, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und wo sich IS-Kämpfer tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 06.10.2018). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 06.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.08.2018).

2.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 06.02.2018).

Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017).

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle. dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016 935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

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(IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence. https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 31.10.2018)

Der sich im Jahr 2018 bereits in der ersten Jahreshälfte abzeichnende Trend einer sich stetig verbessernden Sicherheitslage setzte sich bis zuletzt fort, was aus den untenstehenden Grafiken ersichtlich ist.

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(MOI - Musings on Iraq (12.2018): http://musingsoniraq.blogspot.com/2018/12/large-drop-in-violence-in-iraq-november.html, Zugriff 04.12.2018)

Im November 2018 wurde die geringste Anzahl ziviler Opfer im Irak seit sechs Jahren verzeichnet (UNAMI 3.12.2018).

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Die Bundesjustiz besteht aus dem Obersten Justizrat (Higher Judicial Council, HJC), dem Bundesgerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission und anderen Bundesgerichten, die durch das Gesetz geregelt werden. Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft (LIFOS 8.5.2014). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.02.2018).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.02.2018). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Darüber hinaus schwächen die Sicherheitslage und die politische Geschichte des Landes die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 20.04.2018). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.02.2018).

Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 16.1.2018).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.02.2018). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft (FH 16.1.2018). Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über "schiitische Siegerjustiz" und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.02.2018).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Die Integritätskommission untersucht routinemäßig Richter wegen Korruptionsvorwürfen, aber einige Untersuchungen sind Berichten zufolge politisch motiviert. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente sowie der Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 20.04.2018). Nicht nur Polizei Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung gibt allen Bürgern das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess. Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen. Obwohl Ermittlungs-, Prozess- und Berufungsrichter im Allgemeinen versuchen, das Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen, ist der unzureichende Zugang der Angeklagten zu Verteidigern ein schwerwiegender Mangel im Verfahren. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 20.04.2018).

Auch die Lage in der Autonomen Region Kurdistan ist von Defiziten der rechtsstaatlichen Praxis gekennzeichnet (AA 12.02.2018). Der Kurdische Justizrat ist rechtlich, finanziell und administrativ unabhängig vom Justizministerium der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, die Exekutive beeinflusst jedoch politisch sensible Fälle. Beamte der Region Kurdistan-Irak berichten, dass Staatsanwälte und Verteidiger bei der Durchführung ihrer Arbeit häufig auf Hindernisse stoßen und dass Prozesse aus administrativen Gründen unnötig verzögert werden. Nach Angaben der Unabhängigen Menschenrechtskommission der Region Kurdistan-Irak bleiben Häftlinge auch nach gerichtlicher Anordnungen ihrer Freilassung für längere Zeit in den Einrichtungen des internen Sicherheitsdienstes der kurdischen Regierung (USDOS 20.04.2018).

4. Sicherheitskräfte und Milizen

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle ausgeübt (USDOS 20.04.2018).

4.1. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces) und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.04.2018).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es keine gesetzliche Regelung der Befugnisse der Polizei, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung. Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.02.2018).

4.2. Kurdische Sicherheitskräfte (Peshmerga)

Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peshmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind bislang nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Sie bilden allerdings keine homogene Einheit, sondern unterstehen faktisch voneinander getrennt den beiden großen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), in ihren jeweiligen Einflussgebieten (AA 12.02.2018). Die Peshmerga sind eine komplexe und vielschichtige Kraft, ihre Loyalität geteilt zwischen dem irakischen Staat, der autonomen Region Kurdistan, verschiedenen politischen Parteien und mächtigen Persönlichkeiten. Zu verschiedenen Zeitpunkten, manchmal auch gleichzeitig, können die Peshmerga als nationale Sicherheitskräfte, regionale Sicherheitskräfte, Partei-Kräfte und persönliche Sicherheitskräfte bezeichnet werden (Clingendael 3.2018).

Im Kampf gegen den IS hatten die Peshmerga Gebiete über die ursprünglichen Grenzen von 2003 der Region Kurdistan-Irak hinaus befreit. Aus diesen zwischen Bagdad und Erbil seit jeher umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peshmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben die Peshmerga sich kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten (AA 12.02.2018).

Nach der irakischen Verfassung hat die kurdische Autonomieregion das Recht, ihre eigenen Sicherheitskräfte zu unterhalten, finanziell unterstützt von der irakischen Bundesregierung, aber unter der operativen Kontrolle der kurdischen Autonomieregierung. Dementsprechend beaufsichtigt das Ministerium für Peshmerga-Angelegenheiten der kurdischen Autonomieregion 14 Infanteriebrigaden und zwei Unterstützungsbrigaden.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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