Entscheidungsdatum
27.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L529 2224666-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 19.09.2019, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrenshergang
I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge als "BF" bezeichnet) ist Staatsangehöriger der Türkei und stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.05.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zum Fluchtgrund an, dass er als Kurde in der Türkei keinen Wehrdienst habe leisten wollen. Zudem sei er in der Türkei Mitglied der HDP Partei (Kurdenpartei) und er habe befürchtet, von den türkischen Behörden festgenommen zu werden. Bei Rückkehr habe er wegen seiner Wehrdienstverweigerung und seiner Mitgliedschaft zur HDP Angst vor den türkischen Behörden; die Polizei habe auch bereits zweimal bei ihm zu Hause nach ihm gefragt.
I.2. Am 12.06.2019 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ("BFA") von der Fremdenpolizei über die Eheschließung des BF mit der österreichischen Staatsangehörigen, XXXX , geb. XXXX , am 12.06.2019 beim Standesamt XXXX in Kenntnis gesetzt. Zuvor war die Eheschließung vom Standesamt XXXX wegen des Verdachts der Scheinehe abgelehnt worden.
I.3. Am 02.07.2019 und 03.07.2019 wurde Frau XXXX zum Verdacht einer Aufenthaltsehe mit dem BF als Beschuldigte einvernommen. Am 02.07.2019 gab Frau XXXX an, dass sie ihren Ehemann, den BF, im Oktober/November 2018 in einer Shisha-Bar kennengelernt habe und es habe sich daraus eine Beziehung entwickelt. Er habe ihr Mitte Mai 2019 einen Heiratsantrag gemacht, am 30.05.2019 hätten sie von der türkischen Botschaft in Wien eine Heiratsbestätigung erhalten und die Eheschließung habe Anfang Juni 2019 stattgefunden. Ihre Mutter sei bei der Hochzeit wegen einer Dienstreise nicht dabei gewesen, sei aber mit der Eheschließung und Wohnsitzverlegung einverstanden.
Am 03.07.2019 widerrief Frau XXXX ihre am Tag zuvor getätigten Aussagen und gab nunmehr an, es bestehe zwischen dem BF und ihr weder eine Liebesbeziehung noch ein sexueller Kontakt oder eine Lebensgemeinschaft. Sie sei am 01.05.2019 in der Shisha-Bar von XXXX angesprochen worden, ob sie mit einer Scheinehe schnelles Geld verdienen wolle und es seien dafür EURO 10.000,00 vereinbart worden, sie habe aber bislang nur EUR 4.200,00 dafür erhalten. Ihres Wissens nach sei der BF schon seit Oktober 2018 in Österreich aufhältig, wohne bei seinem Onkel und arbeite in einer Pizzeria.
I.4. Am 06.08.2019 wurde die Einvernahme des BF beim BFA abgebrochen, da dieser die Einvernahme in türkischer Sprache wünschte, der anwesende Dolmetscher jedoch als Dolmetscher für die Sprache Kurdisch beeidet war.
I.5. Anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme beim BFA am 28.08.2018 gab der BF an, er sei Türke, Kurde und Muslim. Er habe in seinem Heimatland die Grundschule und ein Jahr das Gymnasium besucht, habe dort bei seiner Familie gewohnt und fallweise seinen Unterhalt mit Gartenarbeiten verdient. Die meiste Zeit habe er keine Arbeit gehabt, die Familie habe Schafe gehabt und damit ihren Lebensunterhalt bestritten. In seinem Heimatland würden seine Eltern und Geschwister leben, ebenso zahlreiche Onkeln und Tanten und er stehe in Kontakt mit seiner Familie. Er habe am 22.04.2019 (sic!) in Österreich Frau XXXX aus Liebe geheiratet, seine Tage verbringe er mit Freunden in XXXX oder XXXX . Er habe sein Heimatland am 12.10.2018 illegal verlassen, den Asylantrag habe er aus Unwissen erst am 20.05.2019 gestellt. Sein Reisepass sei nach Rückübermittlung durch den Schlepper an seine Heimatadresse vom Vater des BF nach Österreich geschickt worden. Er könne ihn aber nicht vorlegen, da er unabsichtlich gewaschen wurde und er ihn dann entsorgt habe. Dass er den Reisepass dem BFA hätte vorlegen müssen, habe er nicht gewusst. Zum Fluchtgrund befragt gab der BF an, er werde als Wehrdienstverweigerer und Mitglied in einem kurdischen Verein (HDP) von Polizei und Militärbehörden gesucht und er könne als Kurde keine Arbeit bekommen. Sein Onkel sei seit 2017 in Haft, die Familie werde seither ständig kontrolliert. Das Telefon des BF sei überwacht und er selbst sei mehrfach gesucht worden, habe sich aber wegen rechtzeitiger Warnung verstecken können.
I.6. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Z. 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gleichzeitig wurde dem BF gemäß § 15b Abs. 1 AsylG aufgetragen, von 20.05.2019 bis 22.05.2019 im BS Ost AIBE Otto Glückel-Straße 24-26 in 2514 Traiskirchen Quartier zu nehmen.
I.7. Am 01.10.2019 wurde dem BFA der Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Steiermark vom 23.09.2019 übermittelt, wonach mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass es sich bei der Eheschließung zwischen dem BF und Frau XXXX um eine Aufenthalts- und Scheinehe handle und am 22.10.2019 wurde das BFA von der Staatsanwaltschaft Graz von der Anklageerhebung gegen den BF gemäß §§ 117 Abs. 1 und Abs. 2 FPG und § 228 StGB verständigt.
I.8. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist vollinhaltlich Beschwerde erhoben.
I.9. Der Verwaltungsakt langte am 23.10.2019 bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, sowie durch Einholung von Auszügen aus dem ZMR, dem GVS sowie dem zentralen Fremdenregister Beweis erhoben.
II. 1. Feststellungen (Sachverhalt)
II.1.1. Zur Person des BF:
Die Identität des BF steht mangels Vorlage eines geeigneten Identitätsdokumentes nicht fest.
Der BF ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der kurdischen Volksgruppe an und stammt aus XXXX im Bezirk XXXX . Er ist muslimischen Glaubens. Der BF ist seit 12.06.2019 mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheiratet und hat keine Kinder. Er ist gesund und arbeitsfähig und leidet an keiner lebensbedrohenden Krankheit.
Die Eltern und Geschwister des BF leben nach wie vor in der Türkei. Der BF lebte bis zu seiner Ausreise bei den Eltern; diese besaßen Schafe und war die Existenz des BF soweit gesichert. Der BF besuchte in seinem Heimatland die Grundschule und ein Jahr das Gymnasium. Er hatte keine regelmäßige Arbeit, fallweise verdiente er Geld mit Gartenarbeiten.
Der BF bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung, er wird in Österreich von seinem Onkel unterstützt. Deutschkurse besuchte der BF bislang nicht, er ist auch nicht Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation. Er verbringt seine Tage mit Freunden in XXXX oder in XXXX . Er geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er hat in Österreich Verwandte (Onkeln, Tanten, Cousin).
Der BF reiste zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt - vermutlich im Oktober 2018 - illegal in Österreich ein, den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte er am 20.05.2019.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten, es wurde jedoch gegen ihn Anklage wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen (wegen §§ 117 Abs. 1 und Abs. 2 FPG, § 228 StGB) erhoben.
II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seiner Heimat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer glaubhaften, Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr für Leib und/oder Leben ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, (konkret die Herkunftsregion XXXX ) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste.
II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Das Bundesamt stellte im Bescheid umfassende Länderfeststellungen samt aktuellen integrierten Kurzinformationen dar (Seite 12 bis 78 des angefochtenen Bescheides). Aus der dargestellten allgemeinen Lage ergibt sich kein konkretes, hier entscheidungsrelevantes Szenario, wonach Personen mit dem Persönlichkeitsprofil des BF im Falle einer Rückkehr real bzw. mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer hier maßgeblichen Gefährdung unterliegen würden.
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei schließt sich das ho. Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen des BFA an und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen (Auszug aus dem von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA v. 18.10.2018 mit letzter Kurzinformation vom 21.08.2019)
KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz (relevant für den Abschnitt: 10. Wehrdienst)
Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 ?) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen. Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Sirnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Wehrdienst
Die türkische Armee (TSK) ist zu 50% eine Berufsarmee, ergänzt um 200.000 Wehrpflichtige. Jedes Jahr werden etwa 300.000 türkische Männer über 18 Jahren für zwölf Monate einberufen. Nach offiziellen Angaben haben 1,9 Millionen junge Männer wegen ihres Studiums den Wehrdienst aufgeschoben. Weitere drei Millionen haben aus verschiedenen anderen Gründen einen Aufschub beantragt. Rund 650.000 entziehen sich gesetzwidrig der Wehrpflicht (AM 4.7.2018).
Jeder männliche türkische Staatsangehörige unterliegt ab dem 20. Lebensjahr der Wehrpflicht. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet und endet am 1. Januar im Jahr des 41. Geburtstags. Diejenigen, die innerhalb dieser Zeit den Wehrdienst nicht abgeleistet haben, werden von der Wehrpflicht nicht befreit. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften einschließlich der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder von gefallenen Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden (AA 3.8.2018).
Das Parlament hat am 26.7.2018 ein Gesetz ratifiziert, das es den Bürgern ermöglicht, die Dauer ihres Militärdienstes durch die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zu verkürzen. Das Gesetz ermöglicht es den Bürgern, ihren Militärdienst in nur 21 Tagen statt in fünfeinhalb oder zwölf Monaten zu absolvieren, wenn sie Hochschulabsolventen sind und Geld via Bankkonten an die Regierung zahlen. Nach dem Gesetz sind Bürger, die am oder vor dem 1. Januar 1994 geboren wurden, verpflichtet 21 Tage Militärdienst zu leisten, wenn sie 15.000 TL (ca. 2.000 Euro) zahlen (DS 26.7.2018). Fast 450.000 Personen [Stand 2.9.2018] haben sich in der Türkei für den kaufbaren, verkürzten Militärdienst beworben. Die Antragstellung begann am 3.8. und endet am 3.11.2018 (Anadolu 2.9.2018).
Mit der ebenfalls am 26. Juli 2018 erfolgten Gesetzesänderung gilt für den "Freikauf" von auf Dauer im Ausland lebenden türkischen Wehrpflichtigen nun folgendes: Die Gesamtsumme, die für den "Freikauf" festgelegt ist, beträgt 2.000 ? (Connection e.V. 27.07.2018, vgl. DS 26.7.2018). Er ist bis zur Vollendung des 38. Lebensalters zu zahlen, kann aber auch noch später gezahlt werden. Es besteht die Verpflichtung, eine vom türkischen Verteidigungsministerium angebotene Fernausbildung abzuleisten. Wie dies genau aussehen soll, ist bislang unklar (Connection e.V. 27.07.2018).
Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle konnten unter der Bezeichnung "psycho-sexuelle Störungen" nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Im Gesundheitsgesetz der türkischen Streitkräfte vom 12.11.2015 wird Homosexualität wie folgt beschrieben: "Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen, die im militärischen Umfeld die Harmonie und Funktionalität beeinträchtigen könnten." Homosexualität führte daher im Grundsatz zur Wehrdienstuntauglichkeit, die jedoch bis zum gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 durch ärztliches Gutachten in Militärkrankenhäusern festgestellt werden musste. In Folge des gescheiterten Putschversuchs wurden alle militärischen Krankenhäuser geschlossen; das Personal wurde entweder verhaftet, entlassen oder in zivile Einrichtungen überführt (AA 3.8.2018).
Medienberichten zufolge erlitten einige Wehrpflichtige schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten (USDOS 20.4.2018).
Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Laut der kurdischen Nachrichtenplattform "Ekurd Daily" werden kurdische Rekruten in den Konfliktzonen der Südost-Türkei eingesetzt, wo sie Gefahr laufen auf kurdische Deserteure zu stoßen, die sich der PKK angeschlossen haben. Überdies stehen kurdische Rekruten unter einem hohen Risiko, Opfer von Menschenrechtsverletzungen - dazu gehören Erniedrigungen, Schläge und Folter - zu werden, mitunter sogar getötet zu werden. 90% der Selbstmorde in den Streitkräften fielen auf ethnische Kurden. Todesfälle wurden vom Militär als vermeintliche Selbstmorde oder Unfälle dargestellt, wobei angemessene Untersuchungen der Vorfälle ausblieben. Deserteure und Wehrdienstverweigerer wurden generell als mit der PKK sympathisierend betrachtet, weil sie willentlich den Wehrdienst verabsäumen (ED 1.3.2016).
In den 1990er Jahren wurden während der Kämpfe zwischen der Armee und der PKK kurdische Rekruten selten in die Kriegsgebiete des Südostens entsandt. Diese Politik hat sich durch die AKP schrittweise geändert, als diese aufgrund ihrer Kurdenpolitik auch für Kurden wählbar wurde, und es zudem zu Verhandlungen mit der PKK kam. Angesichts des erneuten Konflikts glauben allerdings viele in den kurdischen Gebieten, dass die Regierung absichtlich kurdisch-stämmige Soldaten in den Kampf gegen die PKK entsendet, um den Ruf der PKK als kurdische Widerstandsbewegung zu diskreditieren (Rudaw 4.2.2016).
Die türkischen Streitkräfte berufen ihre Wehrpflichtigen generell in andere Landesteile ein, damit diese die Türkei kennenlernen. Es kann also durchaus sein, dass ein kurdisch-stämmiger junger Mann aus Ankara nach Diyarbakir einberufen wird und vice versa. Bei den Anschlägen der PKK werden auch immer wieder kurdisch-stämmige Wehrpflichtige und Berufssoldaten getötet. Viele junge Männer im Südosten der Türkei verschwinden aber vor ihrer Einberufung in die Wälder zur PKK. Ein weiterer Grund für die Einberufung in andere Landesteile soll auch sein, dass die Bevölkerung im Osten oder Südosten des Landes grundsätzlich weniger gebildet ist und traditionell eine andere Lebenseinstellung hat. Die Erfahrungen im Westen sollen mit nach Hause genommen werden und - so hofft man jedenfalls - das künftige Leben zumindest ein wenig beeinflussen (VB 10.11.2016).
Aus Sicht der Österreichischen Botschaft besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder betreffend die kurdische- als auch die alevitische Minderheit. Es existieren aber Einzelfälle (ÖB 10.2017).
Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Die Türkei ist das einzige Mitglied des Europarates, das das Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen nicht anerkennt (EC 17.4.2018).
Wehrdienstverweigerung ist strafbar und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist bis dato noch nicht möglich. Derzeit besteht für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nur die Möglichkeit, eine Haftstrafe abzusitzen; danach erfolgt normalerweise die "Befreiung". Im März 2012 wurde erstmals ein Urteil des Militärgerichts von dem Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom EGMR beeinflusst. Der angeklagte Wehrdienstleistende war nach fünf Monaten im Militärdienst geflohen und teilte seine Dienstverweigerung aus Gewissensgründen (aus religiösen Gründen) mit. Der Wehrdienstleistende wurde aufgrund seiner Flucht und seiner Dienstverweigerung vom Militärgericht angeklagt, wurde aber nicht wegen der Militärdienstverweigerung, sondern wegen seiner Flucht zu zehn Monaten Haft verurteilt. Das Militärgericht hat in seinem Urteil, das erste Mal auf die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs Bezug genommen, das die Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen schützt (Art. 9 EMRK). Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Verweigerung der Anerkennung von Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt. Im Fall Savda gegen die Türkei hatte der EGMR festgehalten, dass ein System, das keinen Ersatzdienst und kein entsprechendes Verfahren vorsieht, keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigerern treffe und hatte eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) bejaht (ÖB 10.2017).
Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 3.8.2018).
Denjenigen, die nicht zum Wehrdienst erscheinen oder verspätet erscheinen, drohen je nach Dauer des Fernbleibens unterschiedliche Gefängnisstrafen. Die Bestrafung folgt zusammen mit Geldstrafen, deren Umfang sich gestaffelt an den Jahren des Fernbleibens orientiert (VB 15.2.2017).
Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert; wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (für Krieg) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahren Gefängnisstrafe. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Das im Rahmen des Ausnahmezustands erlassene Dekret 691 vom 2.6.2017 hält unter anderem fest, dass Soldaten, die sich mehr als drei Tage ohne offizielle Erlaubnis im Ausland aufhalten, als Deserteure betrachtet und entsprechend bestraft werden. Ein ins Ausland geflohener Deserteur muss mit einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen. Eine Strafe von zehn Jahren ist jedoch auch möglich (SFH 22.3.2018).
Opposition
Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Die links-kurdische Partei HDP steht im Zuge von Anklagen gegen 57 ihrer 59 Abgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten im Juni 2016 (auch Abgeordnete anderer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung betroffen) politisch unter Druck. Zahlreiche HDP-Abgeordnete der vorangegangenen Legislaturperiode befinden sich in Untersuchungshaft, darunter der ehemalige Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Das Parlament hat neun Abgeordneten der HDP nach rechtskräftiger Verurteilung ihr Mandat entzogen. Den HDP-Abgeordneten wird zu großen Teilen Terrorismus-Unterstützung (PKK) vorgeworfen. Damit drohen ihnen im Falle von Verurteilungen lange Haftstrafen sowie ein fünfjähriges Politikverbot und damit der Verlust ihrer Mandate (AA 3.8.2018; vgl. EC 17.4.2018). Neun HDP-Parlamentarier befanden sich Ende 2017 im Gefängnis. 278 Verfahren wurden gegen 41 HDP-Abgeordnete eingeleitet (SCF 1.2018). Selahattin Demirtas wurde Anfang September 2018 wegen seiner Äußerungen während der kurdischen Neujahrsfeiern im März 2013 zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ein Gericht befand ihn der Terrorpropaganda schuldig. Im Hauptverfahren drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Zusammen mit ihm wurde der frühere HDP-Abgeordnete Sirri Sürreya Önder zu drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (DW 7.9.2018).
Nebst der Verhaftung von hochrangigen Politikern, wurden auch mindestens 5.000 Mitglieder der HDP - darunter 80 Bürgermeister - inhaftiert (TM 1.5.2018). Zwischen November 2014 und November 2017 wurden 93 Bürgermeister und Vizebürgermeister ihrer Ämter enthoben und verhaftet, von denen 22 nach einem Verfahren wieder freigelassen wurden und 71 noch im Gefängnis sind. Elf lokale Verwalter wurden wegen terroristischer Anschuldigungen zu insgesamt 89 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt (EC 17.4.2018). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, die von ihrer Schwester-Partei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), bestellt werden, und Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018). Die Regierung versucht, den Einfluss der HDP bzw. ihrer regionalen Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird zahlreichen DBP-Mitgliedern die Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete sind insgesamt 51 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 3.8.2018). Während des Wahlkampfes 2018 haben die türkischen Behörden einige der Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen. Darüber hinaus hat die Partei physische Angriffe von Unbekannten während einiger ihrer Kampagnen erlitten (ICG 13.6.2018).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018).
Das Europäische Parlament verurteilt im Februar 2018 den Beschluss des türkischen Parlaments aufs Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben (HDN 9.2.2018).
Der Parlamentsabgeordnete und Vize-Parteichef der sekularen, kemalistischen CHP, Enis Berberoglu, erhielt im Juni 2017 vor einem Gericht in Istanbul wegen angeblicher Spionage eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Er soll der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugearbeitet haben (SO 14.6.2017). Das Berufungsgericht ordnete zwar im Oktober 2017 einen neuen Prozess an, lehnte jedoch die Freilassung Berberoglus ab (DS 10.10.2017). Am 20.9.2018 bestätigte das Kassationsgericht in seinem Urteil die im Februar 2018 auf fünf Jahre und zehn Monate reduzierte Haftstrafe, verfügte jedoch gleichzeitig seine Freilassung bis zum Ende der parlamentarischen Legislaturperiode, denn Berberoglu konnte bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 sein Abgeordnetenmandat wiedererlangen (HDN 20.9.2018). Im Juni 2018 ist Eren Erdem, ein früherer CHP-Abgeordneter, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in Istanbul wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" festgenommen worden. Erdem drohen bis zu 22 Jahre Haft (ZO 29.6.2018, vgl. BBC 29.6.2018). Im Juli hat Staatspräsident Erdogan eine Strafanzeige gegen den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kiliçdaroglu, und 72 weitere CHP-Parlamentarier wegen Beleidigung durch die Verbreitung eines Cartoons auf Twitter eingereicht (HDN 18.7.2018).
Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdogan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die IYI-Partei, alles Oppositionspartein (OSCE/ ODIHR 25.6.2018).
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.4.2018).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.4.2018).
Was die kulturellen Rechte betrifft, so ist die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im öffentlichen Dienst nicht gestattet (EC 17.4.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Zum Beispiel hat der von der Regierung ernannte Treuhänder [nach Ablöse des gewählten Bürgermeisters] des Edremit-Distrikts in der Provinz Van die Verwendung des Armenischen und Kurdischen abgeschafft. Die Behörden haben auch die Entfernung arabischer Aufschriften in bestimmten Gebieten angeordnet. Im April 2017 ordnete die Stadtverwaltung in Adana die Entfernung arabischsprachiger Schilder von Geschäftslokalen an, um "die türkische Sprache zu schützen". Obwohl Kurdisch offiziell in der privaten Bildung und im öffentlichen Diskurs erlaubt ist, hat die Regierung die Erlaubnis zum kurdischen Sprachunterricht nicht auf die öffentliche Bildung ausgeweitet (USDOS 20.4.2018).
Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe blieben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch wurden in öffentlichen staatlichen Schulen und Universitäten in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki weiterhin angeboten. Einige Universitätsdozenten der kurdischen Sprache und Literatur wurden im Januar 2017 durch eine Notverordnung entlassen, was den Mangel an qualifizierten Dozenten auf Kurdisch noch verstärkte. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden zahlreiche Theater, Bibliotheken, Kultur- und Kunstzentren aufgrund dieses Dekrets geschlossen (EC 17.4.2018). Andere nationale oder ethnische Minderheiten, darunter Assyrer, Caferis, Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen, durften ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (ARC 21.11.2017). Weiterhin werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA 3.8.2018).
Das gesamte Bildungssystem basiert auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt (MRGI 27.10.2015). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azinlik") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Zwar werden Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern von Minderheiten fortgesetzt. Trotzdem bleiben Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten ein ernstes Problem. Eine zivilgesellschaftliche Umfrage zu Hassreden in den Medien ergab, dass Artikel/Nachrichten, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten, im Berichtszeitraum zugenommen haben. Antisemitische Rhetorik in den Medien und von Beamten besteht weiterhin (EC 17.4.2018).
Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitativen oder qualitativen Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer Bürger sammelt, speichert oder verwendet. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der Bürger, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma (EC/DGJC 2016).
Die nationale Strategie (2016-2021) und der Aktionsplan (2016-2018) für Roma-Bürger werden umgesetzt, aber der zuständige Ausschuss zur Überwachung und Bewertung der Strategie trat nur einmal zusammen. Es bedarf insbesondere der Zuteilung budgetärer Mittel zur Unterstützung des Aktionsplanes. Laut einer umfassenden Umfrage steigt das Bildungsniveau unter jungen Roma. Davon abgesehen, ist das allgemeine Bildungsniveau unter den Roma niedrig. Extreme Armut und ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs sind in den Haushalten der Roma nach wie vor weit verbreitet. Die Gesamtbeschäftigungsquote ist mit 31% niedrig. Die Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen, oft ohne Grundversorgung und mit Segregation konfrontiert. Das Stadterneuerungsprojekt führte häufig dazu, dass Roma-Siedlungen abgerissen und Familien vertrieben wurden. Der Zugang zu öffentlichen Diensten ist für Roma, die keinen ständigen Wohnsitz haben, eine große Herausforderung (EC 17.4.2018).
Kurden
Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).
Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vgl. EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vgl. EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vgl. AM 12.3.2018, USDOS 20.4.2018).
Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). [siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]
Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDPKandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017).
Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).
II. 2. Beweiswürdigung
II.2.1. Zur Person des BF
Die Feststellungen zur Person des BF, zu seiner Herkunftsregion, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinem Gesundheitszustand sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen und zu seiner Situation in Österreich ergeben sich - vorbehaltlich der Feststellungen zur Identität - aus seinen in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben sowie seinen Orts- und Sprachkenntnissen.
Aufgrund der im Verfahren unterlassenen Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments bzw. sonstigen Bescheinigungsmittels konnte die Identität des BF nicht festgestellt werden. Soweit dieser namentlich genannt wird, legt das Gericht auf die Feststellung wert, dass dies lediglich der Identifizierung des BF als Verfahrenspartei dient, nicht jedoch eine Feststellung der Identität im Sinne einer Vorfragebeurteilung iSd § 38 AVG bedeutet.
Anzuführen ist, dass es dem BF möglich gewesen wäre, seine Identität bei entsprechender Mitwirkung im Verfahren zu bescheinigen. So legte der BF dem BFA keinen Reisepass vor und gab dazu befragt an, der türkische Reisepass sei ihm vom Schlepper abgenommen worden (AS 11). Dennoch war es ihm möglich, beim Standesamt seine Identität mit der Vorlage seines türkischen Reisepasses nachzuweisen und fand die Eheschließung am 12.06.2019 statt (AS 63). Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 28.08.2019 gab der BF an, sein Reisepass sei unabsichtlich gewaschen worden und er habe ihn dann entsorgt (AS 127). Dass er ihn dem BFA vorlegen hätte müssen, habe er nicht gewusst (AS 129). Auch der erkennende Richter geht - wie zuvor auch das BFA - davon aus, dass es sich dabei um eine Schutzbehauptung handelt, zumal der BF mehrmals auf seine Verpflichtung, im Verfahren mitzuwirken, hingewiesen wurde und zudem zugesagt hat, dass er versuchen würde, seinen Reisepass über die türkische Botschaft in Wien zu bekommen (AS 10). Der Umstand, dass die Identität bis dato nicht festgestellt werden konnte, ist letztlich auf die mangelnde Mitwirkung des BF an der Identitätsfeststellung zurückzuführen ist. Durch dieses Verhalten des BF hat aber auch die Glaubwürdigkeit des BF in seiner Person Schaden genommen.
Die Feststellungen zur illegalen Einreise - vermutlich im Oktober 2018 - und zur Antragstellung im Mai 2019 ergeben sich aus den Angaben des BF und den korrespondierenden Dokumenten im Akt. Mangels gleichlautender Angaben des BF konnte das Einreisedatum in das österreichische Bundesgebiet nicht genau festgestellt werden, zumal der BF dazu unterschiedliche Angaben tätigte (AS 8 zur Antragstellung; AS 10, 85, 131 zum Einreisedatum). Aufgrund der Aussagen der Ehefrau des BF am 03.07.2019 (AS 85) und seiner eigenen Aussage in der niederschriftlichen Einvernahme am 28.08.2019 sowie aufgrund des Umstandes, dass der BF bereits am 12.06.2019 die österreichische Staatsbürgerin, Frau XXXX , ehelichte, geht das Bundesverwaltungsgericht von einer Einreise des BF nach Österreich etwa im Oktober 2018 aus und nicht erst, wie in der Erstbefragung angegeben, zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 20.05.2019.
Die Tatsache der Eheschließung ergibt sich aus der dem BFA übermittelten Heiratsurkunde (AS 63), die strafrechtliche Unbescholtenheit aus einer aktuellen Strafregisterabfrage. Dass gegen den BF Anklage wegen §§ 117 Abs. 1 und Abs. 2 FPG und § 228 StGB erhoben wurde, ergibt sich aus der Verständigung durch die Staatsanwaltschaft Graz (OZ 2).
Der Umstand, dass keine bestimmten Deutschkenntnisse und/oder relevanten Bindungen zu Österreich festgestellt wurden, ist darauf zurückzuführen, dass der BF im bisherigen Verfahren diesbezüglich keinerlei Angaben getätigt hat und auch sonst - in Wahrnehmung seiner Mitwirkungspflichten - seitens des BF keine Nachweise (z.B. Zeugnisse, Mitgliedsbestätigungen, usw.) vorgelegt wurden.
II.2.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates
II.2.2. Vorweg ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen des BF iSd § 15 AVG vollen Beweis über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können. Gerade im Asylverfahren kommt der persönlichen Aussage des Antragstellers besondere Bedeutung zu, handelt es sich doch im Wesentlichen behauptetermaßen um persönliche Erlebnisse, über die berichtet wird, die sich vielfach insbesondere auf Grund der faktischen und rechtlichen Ermittlungsschranken der Asylinstanzen weitgehend einer Überprüfbarkeit entziehen.
Das BFA hat ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage nachvollziehbar, umfangreich und fundiert zusammengefasst.
Das BFA legte im Rahmen der Beweiswürdigung im Wesentlichen dar, dass der BF keineswegs in der Lage war, die Gefahr asylrelevanter Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen.
Die Ausführungen des BFA sind für sich als tragfähig anzusehen und stellen die nachfolgenden Erwägungen des ho. Gerichts lediglich Konkretisierungen und Abrundungen dar.
II.2.2.1. Der BF brachte als Fluchtgrund vor, er habe als Kurde für die Türkei keinen Wehrdienst ableisten wollen und er sei auch Mitglied der HDP Partei. Als Wehrdienstverweigerer und Mitglied der HDP Kurdenpartei fürchte er in seinem Heimatland Verfolgung und Verhaftung. Zurecht wies schon das BFA in seiner Beweiswürdigung darauf hin, dass der BF - trotz ausdrücklicher Nachfragen - keine konkreten, relevanten Angaben zu der von ihm behaupteten Bedrohung vorbringen konnte. Die Ausführungen des BF beschränkten sich auf Allgemeinplätze, ohne dass daraus eine persönliche Bedrohung des BF abgeleitet werden könnte. Auf die Aufforderung, seine Flucht- und Asylgründe möglichst ausführlich und konkret zu schildern, gab der BF an: "Erstens, ich bin Militärdienstverweigerer. Zweitens, bin ich Mitglied in einem Kurdenverein und habe deshalb überall Probleme. [...]" (AS 133). Die Nachfrage, ob es einen konkreten Anlassfall oder Bedrohung des BF gegeben habe, wurde vom BF dezidiert verneint (AS 139).
II.2.2.2. Zum Wehrdienst befragt gab der BF in der Folge an, dass er keinen Einberufungsbefehl vom Militär erhalten habe, er habe nur ein Schreiben erhalten, dass er beim Militär vorstellig werden müsse. Es ist somit schon am Umstand der Einberufung zum Militär zu zweifeln. Im Übrigen mangelt es dem entsprechenden Vorbringen selbst im Falle des Zutreffens an Asylrelevanz (s. dazu unter rechtliche Beurteilung Punkt II.3.1.3.).
II.2.2.3. Als weiteren bzw. zweiten Fluchtgrund gab der BF an, dass er aus politischen Gründen, nämlich seiner Mitgliedschaft zur HDP, sein Land habe verlassen müssen. Schon das BFA hat zu Recht darauf verwiesen, dass der BF - seinen eigenen Angaben zufolge - lediglich ein einfaches Mitglied der HDP-Partei gewesen sei, keine exponierte Position inngehabt habe und auch kein auffälliges Verhalten gesetzt habe. So sei er für die Jugend zuständig gewesen und habe sich mit den Jugendlichen unterhalten (AS 139) und er habe nach außen hin keine Aktivitäten gesetzt, die das Interesse der türkischen Sicherheitsbehörden im besonderen Ausmaß auf ihn ziehen würde, weil er immer Angst vor dem Gefängnis gehabt habe (AS 139). So ist zwar den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass sich die meisten politisch Oppositionellen nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen können und sich zahlreiche HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft befinden (Bescheid, S 54-56), jedoch handelt es sich dabei um in der HDP exponierte Personen. Der BF, der - seinen Angaben zufolge - seit 2016 Mitglied der HDP ist, war aber bis zu seiner Ausreise politisch nicht wahrnehmbar aktiv und beschränkte sich seine politische Tätigkeit - wiederum seinen Angaben zufolge - auf Gespräche mit Jugendlichen. Auch spricht sein unzureichendes Wissen hinsichtlich der Parteistrukturen und der leitenden Funktionäre dagegen, dass der BF sich in herausragender Weise für die Partei engagiert hätte. Auch darauf hat das BFA zutreffend verwiesen. Zudem gibt der BF auch selbst zu, dass es aufgrund seiner Mitgliedschaft zur Kurdenpartei bis dato keine nennenswerten Vorfälle gegeben habe, er sei lediglich von der Polizei kontrolliert worden (AS 137).
Soweit der BF im Zuge der Einvernahme ein Anmeldeformular der HDP-Partei und ein Bestätigungsschreiben betreffend Mitgliedschaft vorlegte (AS 133), so geht das BVwG von der Gegebenheit dieser Vorgänge ab, gleichwohl fehlen diese vorgelegten Beweismittel aber im Akt.
II.2.2.4. Aber auch aus der vom BF ins Treffen geführten Verwandtschaft zu einem verhafteten Onkel lässt sich keine konkrete Bedrohung oder Gefährdung des BF erkennen. Abgesehen davon, dass der BF keine konkreten Angaben zum Onkel oder zum behaupteten Naheverhältnis machen konnte, konnte er auch nicht angeben, welche Funktion der Onkel in der HDP gehabt haben soll oder aus welchen Gründen es zu dessen Verhaftung gekommen war. Auch aus diesem Vorbringen lässt sich somit keine konkrete Gefährdung des BF ableiten.
II.2.2.5. Dem BFA kann aber auch nicht entgegengetreten werden, wenn dieses ausführt, es sei nicht glaubwürdig, dass der BF, der - seinen Angaben zufolge - jahrelang von Polizei und Militär gesucht worden sein soll - sich über mehrere Jahre hindurch jeglichen Kontrollen durch die türkischen Behörden entziehen habe können, da ihn ein Gemeindebediensteter des Dorfes immer rechtzeitig gewarnt hätte. Der erkennende Richter geht - wie zuvor auch das BFA - davon aus, dass der Umstand, dass der BF von keinen tatsächlich erfolgten Kontrollen oder Bedrohungen der türkischen Behörden zu berichten wusste und solche sogar dezidiert verneinte (AS 139), dafür spricht, dass das Vorbringen des BF, er werde wegen Wehrdienstverweigerung und seiner HDP-Mitgliedschaft von den türkischen Behörden (Polizei, Militär) verfolgt und fürchte seine Verhaftung, jedenfalls nicht glaubhaft ist.
II.2.2.6. Letztlich wird die Ansicht der Unglaubwürdigkeit der Angaben des BF zu seinen Ausreisegründen auch durch die nachfolgend beschriebene Vorgehensweise des BF, welche auch das BFA beweiswürdigend zu Lasten der Glaubwürdigkeit der Angaben des BF hervorhob, untermauert.
Der BF befand sich - seinen Angaben zufolge - seit 16.10.2018 in Österreich (AS 143). Den gegenständlichen Asylantrag stellte er jedoch erst am 20.05.2019. In diesem Zusammenhang ist auf die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Statusrichtlinie) zu verweisen, welche in ihrem Art 4 Abs 5 lit d vorsieht, dass dann, wenn für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war.
Dazu befragt, warum er versäumt habe, den Asylantrag unverzüglich zu stellen, obwohl er dazu ausreichend, nämlich länger als ein halbes Jahr, Gelegenheit gehabt habe, gab der BF lediglich an, er habe von dieser Möglichkeit nichts gewusst, sondern erst im Zuge der Heirat von seinem Rechtsanwalt davon erfahren. Es ist jedoch nicht plausibel, dass eine tatsächlich asylrelevant verfolgte Person, der die Ausreise aus dem Herkunftsstaat gelungen ist und die zudem im Bundesgebiet über ein soziales Netz an türkischstämmigen Angehörigen und Verwandten verfügt, von der Möglichkeit eines Asylantrages keine Kenntnis hat und diesen nicht sogleich stellt, sobald sie einen sicheren Zielstaat erreicht hat.
II.2.2.7. In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt glaubwürdig vorgebracht. Es wird im Wesentlichen das Fluchtvorbringen wiederholt und ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorlägen. Auch die in der Beschwerde zitierten Berichte zum politischen Konflikt der Regierung mit der HDP sind von vornherein nicht geeignet, die wesentlich aktuelleren Feststellungen der belangten Behörde in Zweifel zu ziehen und