TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/5 W173 2180013-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.05.2020
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Entscheidungsdatum

05.05.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W173 2180023-1/13E

W173 2179946-1/13E

W173 2180018-1/13E

W173 2180009-1/14E

W173 2180013-1/12E

W173 2180014-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margit Möslinger-Gehmayr als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 2) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 3) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 4) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 5) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan und 6) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 8.11.2017, zu den Zahlen 1) XXXX , 2) XXXX , 3) XXXX , 4) XXXX , 5) XXXX und 6) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.11.2019 zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in der Folge 1.BF), XXXX (in der Folge 2.BF), XXXX (in der Folge 3.BF), XXXX (in der Folge 4.BF) und XXXX (in der Folge 5.BF) reisten im Dezember 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten am 13.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für die damals minderjährigen 3.BF und 4.BF sowie die minderjährige 5.BF stellte die 1.BF als gesetzliche Vertreterin ebenso den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Für den am XXXX in Österreich geborenen minderjährigen XXXX (in der Folge 6.BF) wurde von der 1.BF als gesetzliche Vertreterin am 21.9.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.

2. Bei ihrer Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Steiermark am 14.12.2015 gaben die 1.BF an, afghanische Staatsbürgerin zu sein und aus Herat zu stammen, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören und sunnitisch muslimischen Glaubens zu sein. Sie sei Analphabetin und verfüge über keine Ausbildung. Sie sei mit dem 2.BF verheiratete. Der 3.BF, 4.BF und die 5.BF seien ihre gemeinsamen Kinder. Sie habe mit ihrer Familie illegal vier Jahre im Iran gelebt, wo das Leben sehr schwer gewesen sei. Sie seien wieder nach Afghanistan abgeschoben worden, wo es keine Sicherheit gegeben habe. Im Fall der Rückkehr befürchte sie, von den Taliban getötet zu werden. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gaben sie im Wesentlichen an, dass sie die letzten vier Jahre illegal im Iran gelebt hätten und von den dortigen Behörden nach Afghanistan abgeschoben worden seien. Dort gebe es viele Taliban und es herrsche immer Krieg. Es habe keine Schulmöglichkeit für die Kinder und keine Sicherheit gegeben. Aus diesem Grund seien sie nach Europa geflüchtet.

Bei der Erstbefragung durch die Landespolizei Steiermark am 14.12.2015 gab der 2.BF an, als afghanischer Staatsbürger aus Herat zu stammen, wo er drei Jahre die Schule besucht habe. Er sei moslemischer Sunnit und mit der 1.BF traditionell verheiratet, mit der er vier gemeinsame Kinder (3.BF bis 5.BF) habe. Er sei von Beruf Schneider und habe in Herat in XXXX und vier Jahre in Teheran im Iran gelebt. Vor 45 Tagen habe er mit seiner Familie Afghanistan verlassen. Die Flucht habe ? 5.300,-- pro Person gekostet. Sie seien vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden, wo es viele Taliban gebe und Krieg vorherrsche. Es fehle dort an Schulmöglichkeiten für seine Kinder und an Lebenssicherheit, sodass sie nach Europa geflüchtet seien. Es gebe im Fall der Rückkehr in Afghanistan kein Leben für sie.

Der am 14.12.2015 durch die Landespolizei Steiermark einvernommene minderjährige 3.BF führte aus, aus Herat zu stammen und afghanischer Staatsbürger zu sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei sunnitischer Moslem. Er habe drei Jahre die Grundschule in Herat in XXXX besucht. Seine Eltern seien die 1.BF und der 2.BF. Er habe zwei Geschwister (4.BF und 5.BF). Sein Vater habe die Familie versorgt. Sie hätten vier Jahre in Teheran im Iran gelebt, wo sie nach Afghanistan abgeschoben worden seien. Vor 45 Tagen seien sie schlepperunterstütz aus Afghanistan geflohen. In Afghanistan gebe es viele Taliban und für ihn keine Schul- und Bildungsmöglichkeiten. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er von den Taliban irgendwann getötet zu werden.

Ebenso wurde der minderjährige 4.BF von der Landespolizei Steiermark am 14.12.2015 einvernommen. Er gab an, afghanischer Staatsbürger zu sein und aus Herat zu stammen. Er sei moslemischer Tadschike und Sunnit. Seine Eltern seien die 1.BF und der 2.BF. Er habe drei Jahr die Schule in Herat in XXXX besucht. Als seine Geschwister bezeichnete er die 5.BF und den 3.BF. Sie hätten vier Jahre in Teheran im Iran gelebt und seien von dort nach Afghanistan abgeschoben worden, wo es Taliban geben und es ihm an Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten fehle. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe die Tötung durch die Taliban.

Von einer Einvernahme der 5.BF wurde abgesehen.

3. In der Einvernahme durch die belangte Behörde (BFA) am 20.10.2017 wurden von der 1.BF die Geburtsurkunde für den 6.BF, Tazkiras der übrigen Familienmitglieder, sowie diverse Kursbestätigungen, Bestätigungen über gemeinnützige Tätigkeiten, Fotos und Schulbesuchsbestätigungen vorgelegt. Im Wesentlichen gab die 1.BF an, sie sei sunnitische Tadschikin, im Dorf XXXX in der Provinz Herat geboren und habe auch dort gelebt. Diesen Wohnsitz habe sie vor ca. sechs Jahren verlassen und anschließend vier Jahre illegal im Iran gelebt. Vor ca. zwei Jahren hätte sie den Iran verlassen. Sie sei Hausfrau gewesen und nicht in die Schule gegangen. Im Iran habe sie eine Analphabetenschule besucht und ein bisschen Lesen und Schreiben gelernt. Sie habe mit ca. 17 Jahren den 2.BF geheiratet, der als Schneider die Familie versorgt habe. Ihren in XXXX in Herat lebenden Eltern gehe es gut. Der Vater habe sehr viele landwirtschaftliche Grundstücke, die er nicht selbst bewirtschafte. Über ihre Fluchtgründe befragt, gab die 1.BF im Wesentlichen an, ihr Vater sei ein radikaler Mullah gewesen, der sie bereits in der Kindheit schon sehr eingeschränkt habe, sodass sie keine Schule besuchen und nur in Burka und männlicher Begleitung außer Haus gehen haben dürfen. Sie habe mit ihrer Mutter ihren älteren Bruder im Iran besucht und dort ihren Ehemann (2.BF), der Nachbar ihres Bruders gewesen sei, kennengelernt. Der ältere Bruder habe im Iran gelebt, weil er das Verhalten des Vaters nicht ausgehalten habe. Um die 1.BF heiraten zu können, habe der 2.BF im Haus des Vaters leben müssen. Ihr Ehemann habe aber wegen seiner Herzprobleme einmal in den Iran fahren müssen. Der Vater habe den 2.BF schlecht behandelt, weil der 2.BF im Iran aufgewachsen sei. Der Vater der 1.BF habe mit den Taliban zusammengearbeitet und dann die Söhne der 1.BF und des 2.BF zu einer religiösen Schule der Taliban in Pakistan schicken wollen. Das habe der 2.BF abgelehnt und damit den Vater und einen Bruder der 1.BF entehrt. Der 2.BF sei vom Bruder der 1.BF und weiteren Männern zusammengeschlagen worden. Mit Hilfe der Mutter der 1.BF seien sie daraufhin in den Iran geflüchtet. Im Iran hätte sie keine Dokumente gehabt und seien aus Angst vor einer Abschiebung nach Europa geflohen. Wegen ihrem Vater hätten sie nicht in Herat bleiben können. Auch sonst habe es keine Fluchtalternative in Afghanistan auf lange Sicht gegeben. Das seien alle ihre Fluchtgründe. Bei einer Rückkehr müssten sich ihre Kinder den Taliban anschließen, sodass ihr Leben in Gefahr wäre. Aus der Sicht ihres Vaters wären sie bei einer Rückkehr aus Europa Abtrünnige. Auch das Leben der 1.BF sei in Afghanistan in Gefahr, da sei durch ihren Vater getötet werden könnte. In Österreich würden die Rechte der Frauen eingehalten. Hier würden Frauen respektiert, während in Afghanistan ihnen keine Rechte und kein Respekt zukommen würden. In Österreich bestehe ihr Tagesablauf mit dem Wecken der Kinder. Bevor der 6.BF geboren worden sei, habe sie die Kinder zur Schule gebracht. Sie habe einen Deutschkurs gemacht. Aber das gehe jetzt nicht. Hier sei sie selbst einkaufen gegangen, was im Iran nicht möglich gewesen sei. Sie koche das Mittagessen und mache den Haushalt. Sie freue sich auf den neuen Termin für den Deutschkurs. Auf den Vorhalt, warum sie traditionelle muslimische Kleidung trage, gab die 1.BF an, dass sie so geboren und erzogen worden sei. So freizügig wie jetzt, sei sie in Afghanistan nicht gewesen. Eine Umstellung sei nicht so einfach, wie man sich das vorstelle. Sie würde sich hier gerne weiterbilden und entwickeln und als Konditorin arbeiten. Ihre österreichischen Freunde seien begeistert von ihren Torten gewesen. Sie würden von der staatlichen Unterstützung in Österreich leben.

4. Der 2.BF gab in seiner Einvernahme XXXX das BFA am 20.10.2016 an, er sei sunnitischer Tadschike und stamme aus dem Dorf Norgreh in der Provinz Herat, wo er bis zu seinem 8. Lebensjahr gelebt habe. Er habe dann insgesamt 16 Jahre in Teheran gelebt und sei nach der Heirat am 9.7.1998 nach Afghanistan gezogen. Er habe im Jahr 1992 eine Herzklappenoperation gehabt, habe Herzprobleme und nehme diesbezüglich Medikamente. Er sei arbeitsfähig, könne jedoch nichts machen, was das Herz überanstrenge. Er sei Schneider und Sattler gewesen und habe damit seine Familie ernährt. Als achtjähriges Kind habe er Afghanistan mit seinen Eltern verlassen und wisse nicht genau warum. Über seine Fluchtgründe befragt, gab er im Wesentlichen an, dass sein Leben und das Leben seiner Kinder durch den Schwiegervater in Gefahr gewesen seien. Dieser habe mit den Taliban zusammengearbeitet. Er habe den 2.BF aufgefordert, seine Kinder in eine islamische Schule zu schicken. Der 2.BF habe sich dem widersetzt und sei daraufhin vom Schwiegervater als Abtrünniger beschimpft worden. Am gleichen Tag sei der 2.BF von seinem Schwager und weiteren Personen verprügelt worden. Mit Hilfe der Mutter der 1.BF habe der Schwager der Flucht zugestimmt. In der Nacht sei der 2.BF mit seiner Familie in den Iran geflüchtet und hätten dort vier oder fünf Jahre illegal gelebt. Er habe als Sattler gearbeitet. Wenn sie aufgehalten worden wären, wären sie nach Afghanistan deportiert worden. Der Schwiegervater mache eine Rückkehr nach Herat bzw. überhaupt Afghanistan unmöglich. Er würde ihn und seine Familie verfolgen und töten. Die Taliban gebe es überall auch in Herat. Das seien alle seine Fluchtgründe. Den Schwiegervater habe er bei der ersten Einvernahme nicht erwähnt, da alles sehr schnell habe gehen müssen. Er hoffe, dass sie hierbleiben könnten, sodass seine Kinder hier zu Schule gehen könnten. Im Rahmen der Einvernahme wurden seitens des 2.BF Ambulanzkarten betreffend seine Herzerkrankung, Sprachkursbestätigungen sowie Nachweise über gemeinnützige Tätigkeit vorgelegt.

5. Das BFA hat mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden vom 8.11.2017 die gegenständlichen Anträge der BF auf internationalen Schutz jeweils bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den BF wurden gemäß § 57 AsylG 2005 Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen jeweils gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig seien (Spruchpunkt III.) Als Fristen für die freiwilligen Ausreisen gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurden jeweils 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgelegt (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde ausgeführt, dass die BF in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten ausgesetzt gewesen seien und ihnen eine solche auch in Zukunft nicht drohe. Eine Rückkehr in ihre Herkunftsregion sei ihnen aufgrund der Talibanpräsenz und des familiären Umfeldes nicht möglich, aber die innerstaatliche Fluchtalternative Mazar-e Sharif sei den BF zumutbar. Es sei kein Sachverhalt hervorgekommen, welcher bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen den Schluss zuließe, dass die Rückführung einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben darstelle.

6. Gegen die im Spruch angeführten Bescheide vom 8.11.2017 wurde mit Schreiben vom 7.12.2017 von den BF, zu diesem Zeitpunkt vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Ronald Frühwirth, jeweils eine gleichlautende Beschwerde erhoben und die gegenständlichen Bescheide in vollem Umfang angefochten. Es seien Dokumente zum Nachweis der Identität der BF vorgelegt worden, die zu würdigen seien. Rechtswidrig gehe die belangte Behörde vom Fehlen einer Verfolgung der BF aus. Asylrelevant sei auch eine von privater Seite ausgehend Verfolgung, gegen die der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage sei, Schutz zu bieten. Eine solche Verfolgung liege durch den den Taliban nahestehenden Vater und den Bruder der 1.BF wegen abweichender religiöser und ideeler Wertvorstellungen vor. Die belangte Behörde erachte dieses Vorbringen für glaubhaft, spreche ihm jedoch unrichtigerweise in rechtlicher Hinsicht keine Asylrelevanz zu. Auch liege die Asylrelevanz vor, weil die Söhne des 2.BF von einer Zwangsrekrutierung bedroht seien und der 2.BF seine Söhne dieser Rekrutierung öffentlich vor seinem islamistischen Schwiegervater entzogen und somit seine oppositionelle politische Gesinnung auch den Taliban gegenüber kundgetan habe. Auch drohe der 1.BF Verfolgung aufgrund ihres "westlichen" Lebensstils. Sie habe vorgebracht, ihr Leben in Afghanistan sei auch deshalb in Gefahr, da Frauen dort nicht akzeptiert werden würden und keine Rechte hätten. In Afghanistan sei es ihr nicht einmal möglich gewesen, alleine das Haus zu verlassen. In Österreich tue sie das sehr wohl und besuche zudem Weiterbildungen. Außerdem treffe sie hier ihre österreichischen Freunde. Sie wolle sich zukünftig weiterbilden und eine Arbeit als Konditorin aufnehmen. Außerdem sei es ihr nur in Österreich möglich, sich nach ihrer eigenen Art zu kleiden. Wenn die belangte Behörde ausführe, dass sich die Lebensweise der 1.BF in Österreich im Vergleich zur Lebensweise in Afghanistan nicht maßgeblich verändert habe, werde verdeutlicht, dass sich die belangte Behörde offenkundig nicht mit den in Afghanistan vorherrschenden Verhältnissen bzw. dem diesbezüglichen Vorbringen der 1.BF auseinandergesetzt habe. Faktisch habe sich die Lage für Frauen in Afghanistan nicht verbessert. Die 1.BF habe in Österreich die Freiheit der Frau ohne von außen auferlegter Unterdrückung erlebt. In Afghanistan sei es ihr nicht einmal möglich gewesen, eine Schule zu besuchen, geschwiege denn eine Arbeit aufzunehmen. Die 1.BF habe die ihr in Österreich gewährten Freiheiten angenommen, besuche Fortbildungen und beabsichtige später, eine Beschäftigung als Konditorin aufzunehmen. Sie strebe an, selbst eine Erwerbstätigkeit nachzugehen und nicht "bloß" Hausfrau zu sein, woraus eine westliche Orientierung resultiere.

7. Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 18.12.2017 von der belangten Behörde vorgelegt.

8. Mit Schreiben vom 14.11.2019 wurde die Auflösung der Vollmacht für den Rechtsanwalt Mag. Ronald Frühwirth mitgeteilt. Ebenso wurden dem Schreiben Schulnachrichten der minderjährigen 5.BF mit einer Bestätigung der Teilnahme am Schwimmkurs für Flüchtlinge, ein Zeitungsbericht der Kleinen Zeitung über das Flüchtlingsprojekt die " XXXX ", Arbeitsbestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeit des 2.BF, sowie diverse Sprach- und weitere Kursteilnahmebestätigungen der BF vorgelegt. Übermittelte Prüfungszeugnis bestätigt das Erreichen des Niveau B1 in der deutschen Sprache für den 4.BF und A2 für den 3.BF.

9. Am 18.11.2019 wurden die Vollmachtserklärungen der BF für den Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH vorgelegt. Im Schreiben vom 28.11.2019 wurde zu den aktuellen Länderberichten Stellung genommen. Es wurde auf die westliche Orientierung der 1.BF hingewiesen, die in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führe und das in Österreich vorherrschende Frauenbild verinnerlicht habe. Zudem sei den BF eine Rückkehr nach Afghanistan unzumutbar. Kabul scheide als innerstaatliche Fluchtalternative nach UNHCR aus. Die lange Abwesenheit aus Afghanistan könne dazu führen, dass keine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben sei. Besonders gefährdet seien Kinder. Dies gelte insbesondere für die minderjährigen Kinder. Ihnen fehle es an einem Zugang zu Bildung.

10. Am 19.11.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, der Rechtsvertretung der BF und des Zeugen XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

Der Zeuge gab eingangs der Befragung im Wesentlichen an, in der Steiermark "gemeinsam sicher" - eine Kooperation zwischen der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit und der LPD Steiermark - zu leiten. Das Projekt sei eine Initiative gegen Radikalisierung und Polarisierung durch den politischen Islam und solle gegen die damit verbundenen Probleme eine Strategie entwickelt werden, über den Weg der Kommunikation und Zusammenarbeit mit Flüchtlingen führe. Der 3.BF und der 4.BF seien Mitglieder einer Musikband namens " XXXX ", die sowohl österreichisches als auch afghanisches Liedgut spiele. Es sei dadurch gelungen, auch bei Stammtischen die Teilnehmer im Hinblick auf eine Mehrheitsgesellschaft und die Vorurteile Verständnis zu gewinnen und solle die Angst vor Flüchtlingen genommen werden. Es sei ein Weg geschaffen worden, um Vertrauen und Zugang zu den Communitys der großen Flüchtlingsgruppen (Afghanistan, Syrien, Irak) zu gewinnen. Er habe die Band bei den Auftritten auch begleitet und sei oft selbst anwesend gewesen. Bei Fragen Flüchtlinge und die Community betreffend habe er sich auf Grund des gewonnenen Vertrauens an die BF (3.BF und 4.BF) wenden können. Die BF (3.BF und 4.BF) würden sogar die Amtsstube bei der Polizei besuchen und seien mit den Beamten bestens im positiven Sinne vertraut. Der 3.BF und 4.BF stünden nicht mehr feindselig und skeptisch der österreichischen Gesellschaft gegenüber. Sie hätten das Gefühl, angenommen worden zu sein. Sie seien Teil der österreichischen Gesellschaft geworden und hätten deren Werte angenommen. Bei ihnen habe der westliche Lebensstil über den Weg der Tätigkeit bei der Musikband Eingang gefunden. Der 3.BF und 4.BF würden dies in ihrer Verhaltensweise in der Gesellschaft in einer Form der Toleranz und der Lebensweise und der Freundschaft gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft ausdrücken. Der Zeuge sei für die BF eine "westliche Vaterfigur". Es bestehe eine Freundschaft mit der notwendigen Distanz und Respekt.

Der 3.BF gab in seiner Befragung im Wesentlichen an, dass er mit ca.11 Jahren für vier Jahre mit der Familie in den Iran gezogen zu sein. Seine Eltern (1.BF und 2.BF) hätten ihn mitgenommen, wobei ihm der Grund für den Umzug unbekannt sei. Es sei alles wegen des Großvaters gewesen, mit dem ständig gestritten worden sei. Er habe dort drei Jahr die Schule besucht und nebenbei gearbeitet. Das letzte Jahr sei er nur mehr beruflich tätig gewesen. Er habe als Hilfskraft und dann als Metalltechniker gearbeitet. Zuvor habe er in Afghanistan aufgrund seines strengen Großvaters mütterlicherseits keine öffentliche Schule besucht, sondern nur im Alter von 5 oder 6 Jahren begonnen, in der Moschee den Koran zu lernen. Er hätte nach dem Willen des Großvaters in eine Madrassa nach Pakistan geschickt werden sollen. Sein Großvater habe mit ihnen nicht viel zu tun gehabt. Das Verhältnis zwischen seinem Großvater und seiner Mutter sei "OK" gewesen. Beim 1.Versuch seiner Familie den Iran zu verlassen, seien sie von der iranischen Polizei erwischt und nach Afghanistan abgeschoben worden. Sie seien nach Herat und hätten dort 12 oder 13 Tage bei einem Geschäftspartner seines Vaters verbracht. Beim 2.Versuch sei die Flucht nach Österreich gelungen. Es habe geheißen, dass Österreich ein gutes System für Flüchtlinge habe. In Österreich versuche er die deutsche Sprache zu lernen. Er habe die Prüfung für die deutsche Sprache auf Niveau A2 bestanden. Für Niveau B1 lerne er. Nach einem sechsmonatigen Besuch der HTL habe sich herausgestellt, dass diese Schule für ihn zu schwierig sei. Er besuche nun ein Abendgymnasium. Die Österreicher würden Musik lieben. Auch er sei mit der Musik verbunden, deswegen wolle er auch bleiben. Er spiele bei einer Musikband als Trommler. Sie seien nur Musiker, die Musik spielen würden. Er habe auch Theater gespielt. Er könne sich nicht mehr an den Inhalt erinnern. Er schreibe Gedichte, wobei er in Zukunft Musikstücke verkaufen wollen. Er wolle eine Lehre machen, wobei er nicht wisse welche. Sein Berufswunsch sei Kommander bei der Polizei. Das kenne er aus dem Internet. Er trinke Alkohol und habe ein Tattoo. Auf den Zeugen ( XXXX ), der Polizist sei, könne man sich verlassen, zumal er sie unterstütze. Wegen seiner Rauferei in Graz am 18.2.2019 sei er zweimal bei der Polizei gewesen. Ob es zu einer Gerichtsverhandlung komme, sei noch offen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er das, was seine Eltern sagen würden und habe Angst vor seinem Großvater. Die Sicherheitslage sei auch schlecht. Eigentlich sei es ihm egal, ob sein Großvater noch lebe.

Der 4.BF gab in seiner Befragung im Wesentlichen an, dass er in Afghanistan keine Schule besucht habe. Er habe dort in der Moschee den Koran bis zur Ausreise in den Iran gelernt. Sein Großvater habe mit ihnen gemeinsam gewohnt und sei streng gewesen. Im Iran habe er drei Jahre die afghanische Schule besucht. Dann habe er dort als Monteur gearbeitet. Solange sie in Afghanistan gelebt hätten, hätten sie die Moschee besucht. An das Leben in Afghanistan könne er sich nicht mehr erinnern. Er sei ca. 10 Jahre alt gewesen, als sie in den Iran eingereist seien. In Österreich habe er ein Jahr die Übergangsstufe der HTL besucht und dann ins Abendgymnasium gewechselt. Er lerne die deutsche Sprache. Er könne in Österreich machen, was er wolle. Er sei meistens bei seinen Freunden und mache Musik. Mit seiner Musikgruppe laufe es gut. Mit dem Zeugen ( XXXX ) treffe er sich nicht oft. Aber er helfe ihnen oft. Probleme in der afghanischen Community würden sie selbst lösen. Warum sollte damit jemanden befassen? Mit der Musikband laufe es immer besser. Die Texte schreibe ein Freund bzw. sein Cousin. Es würden eher traurige Lieder gesungen und über die Gefühle zwischen Männer und Frauen. In Afghanistan gebe es keine Vereine und Bands wie in Österreich. Das sei ihm aus dem Fernsehen bekannt. Den Account im Facebook über die Band betreue ein anderes Bandmitglied. Auf Grund des Theaterspielens vor drei oder vier Jahren sei er nicht mehr so zornig wie früher. Mehr falle ihm dazu nicht ein. Wegen der Anzeige zu seiner Rauferei am 18.2.2019 sei er bei der Polizei gewesen. Das Verfahren sei noch offen. Ob sein Großvater noch lebe, wisse er nicht. Über ein aufgeführtes Theaterstück konnte der 4.BF verständlich in deutscher Sprache erzählen. Er möchte in Zukunft bei der Musik bleiben. Über einen konkreten Beruf habe er noch nicht nachgedacht. Bei der Rückkehr nach Afghanistan sei sein Leben in Gefahr. Warum wisse er nicht genau. Er habe gehört, dass es Taliban gebe, die Leute töten würden. Aber Musik sei "haram". Das Familienleben in Österreich würde sich gut gestalten. Sein Vater helfe auch im Haushalt. Er passe meistens auf seinen jüngsten Bruder auf. Seine Mutter sei auch zu Hause und koche das Essen. Sie gehe manchmal gemeinsam und manchmal allein einkaufen. Obwohl es in der Asylunterkunft keinen Deutschkurs gebe, gehe die Mutter einmal in der Woche zum Deutschunterricht. Er sei meistens bei seinen Freunden.

Die 1.BF gab an, sie heiße XXXX und sei 39 Jahre alt. Sie stamme aus dem Dorf XXXX in der Provinz Herat und sei Tadschikin, sunnitisch muslimischen Glaubens und spreche Dari. Sie verstehe auch Farsi, das habe sie im Iran gelernt. Sie sei seit ca. 20 Jahren mit dem 2.BF verheiratet. Sie hätten im Heimatdorf in Herat geheiratet. Sie sei die Mutter des 3. BF bis 6.BF. Sie habe zuletzt vor ihrer Ausreise in Teheran gewohnt. Sie habe nie eine Schule besucht und seine Analphabetin ohne Ausbildung. Sie habe im Iran nur das Alphabet gelernt und sei Hausfrau. Sie bedaure sehr, dass sie keine Ausbildung habe. Seit sie in Österreich sei, bemühe sie sich schreiben und lesen zu lernen. In Afghanistan habe sie die Schule nicht besuchen dürfen, aber hier in Österreich sei es sehr wichtig, dass man die Sprache lerne. Sie würde unabhängiger sein, wenn sie die Sprache könne. Im Allgemeinen würde sie unabhängiger sein: Wenn man die Sprache lerne und dann arbeite, dann sei man "auf eigenen Beinen". Es bedeute für sie aktiv zu sein, selbständig und unabhängig zu leben. Ihre Tochter und ihr Sohn würden sie bei der Sprache unterstützen. Ihre Tochter wünsche sich in Zukunft eine Zahnärztin zu werden und sie respektiere ihre Meinung. Das könnte sie in Afghanistan nicht. Für ein Mädchen in Afghanistan gebe es nicht so viele Möglichkeiten bzw. Freiheit. Außerdem hätten sie speziell mit ihrem Vater, der ein Imam gewesen sei, Probleme gehabt. Er sei sehr streng und konservativ gewesen. Bis zu einem Alter ihrer Kinder von ca. 10-11 Jahren habe sie es dort aushalten können. Dann hätten sie die Flucht ergreifen müssen. Das Leben ihrer Kinder und ihres Ehemannes sei in Gefahr gewesen. Ihre Kinder seien damals sehr jung gewesen und in die Moschee gegangen. Der Vater der 1.BF habe sich entschlossen, ihr Kinder nach Pakistan zu schicken, um dort eine Madrassa zu besuchen. In Afghanistan hätten ihre Kinder keine Madrassa aufgesucht. Sie seien zwar in der Moschee gewesen und hätten den Koran gelernt, seien aber danach zum Spiel gegangen. Eine öffentliche Schule hätten sie nicht besuchen dürfen, sondern lediglich in die Moschee gehen können. Nicht sie, aber ihr Vater sei dagegen gewesen. Das habe sie gestört, aber sie habe nichts gegen ihren Vater machen können. Sie habe vor ihm Angst gehabt. Von Kindheit an habe er sie so erzogen. Sie hätten nicht gleich Gelegenheit zur Flucht gefunden. Das habe sich erst nach drei Jahren ergeben. Zum Aufenthalt ihrer Familie führte die 1.BF aus, dass ein Bruder und eine Schwester sich im Iran und ein Bruder und eine Schwester sich noch immer in Afghanistan befinden würden. XXXX heiße der Bruder in Afghanistan. Er sei der Lieblingssohn ihres Vaters und unterstütze ihren Vater. Er sei auch streng gläubig und konservativ. Ihr Vater habe mehrere Grundstücke und sei mit der Landwirtschaft beschäftigt gewesen. Sie wisse von den im Iran lebenden Geschwistern, dass ihr Vater noch am Leben sei, während ihre Mutter vor ein paar Monaten verstorben sei. Von der Geburt bis zu ihrer ersten Ausreise in den Iran sei sie in ihrem Heimatdorf gewesen. Sie sei damals ca. 17 oder 18 Jahre alt gewesen, als sie das erste Mal im Iran gewesen sei. Sie habe ihren Bruder, der wegen des strengen Vaters im Iran gewesen sei, gemeinsam mit ihrer Mutter besucht. Während ihres dortigen einmonatigen Aufenthaltes sei es für sie besser gewesen. Anders als in Afghanistan hätten sei beispielsweise einen Fernseher zu Hause gehabt. Auch sei der Iran liberaler als Afghanistan, sodass sie diese Freiheit genossen habe. In Herat habe ihr Tagesablauf wieder in kochen, putzen und waschen bestanden. Ihren Mann habe sie kennengelernt, als sie das erste Mal im Iran gewesen sei. Er sei der Nachbar ihres Bruders gewesen. Ihr Vater habe der Ehe nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ihr Mann nach Afghanistan komme. Ihr Vater habe bereits ihre andren zwei Schwester sehr jung vergeben. Sie habe das Glück gehabt, dass ihre Mutter ihre letzte Tochter nicht so jung verheiraten wolle. Aber ihr Vater habe auch viele Besucher gehabt und jemanden gebraucht, der die ganze Haushaltsarbeit mache. Eine Art der Zwangsheirat habe die 1.BF überhaupt nicht haben wollen. Sie habe es persönlich erlebt und es sei nichts Gutes, unabhängig von der Reife der potentiellen Eheleute. Sie sollten selbst entscheiden, wen sie heiraten und wen nicht. Die Eheschließung solle einvernehmlich sein, wenn eine Seite des Paares nicht wolle, wie könne das ganze Leben weitergehen? Ihre Tochter solle selbst ihren Mann auswählen. Sie sei vom Iran nach Afghanistan zurückgekehrt, da ihre Mutter bei ihr gewesen sei und sie die Mutter nicht im Stich lassen und allein zu ihrem Vater schicken hätte können. Sie seien beim Bruder auch nur zu Besuch gewesen. Ihr Bruder habe gemeint, dass sie zurückfahren sollten. Das sei in Afghanistan Tradition. Es gelte die Ehre und den Stolz aufrechtzuerhalten. Nach der Eheschließung habe sie gemeinsam mit ihrem Ehemann bei ihren Eltern in einem Haushalt gelebt. Sie habe ihre Söhne geboren und ihr Ehemann habe als Schneider gearbeitet und ein paar Mal hat ihrem Vater gestritten. Die Entscheidung ihres Vaters, die zwei ältesten Kinder nach Pakistan in die Madrassa zu schicken, habe ihr Ehemann abgelehnt. Er sei dann von ihrem Bruder und von ein paar anderen Personen entführt und geschlagen worden, wobei er verletzt worden sei. Das habe ihr Mann nicht ausgehalten und den Entschluss zur Flucht gefasst. Nach ihrer Zustimmung hätten sie mit Hilfe ihrer Mutter schlepperunterstützt Afghanistan Richtung Iran verlassen, wo die Kernfamilie ihres Mannes und die Schwiegermutter gewesen seien. Dann hätten sie ein Haus gemietet. Wegen des Fehlens eines Aufenthaltstitels hätten sie Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan gehabt. Nach vier Jahre Angst seien sie nach Österreich geflohen. Beim 2. Versuch seien sie erfolgreich gewesen. Beim 1. Versuch seien sie nach der Abschiebung in Herat bei einem Freund ihres Mannes gewesen. Seit ihrer Ankunft in Österreich habe sie mehrmals Deutschkurse besucht. Außerdem habe sie auch an verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen. In XXXX seien verschiedene Veranstaltungen organisiert worden. Zum Beispiel das Kochen von interkulturellen Speisen. Dazwischen sei sie mit dem 6.BF schwanger gewesen. Sie habe noch keine Deutschprüfung gehabt, aber könne sich vorstellen, erzählen woher sie komme und wie viele Kinder sie habe. Als sie Deutschkurse besucht habe oder zum Cafe gegangen sei, habe ihr Mann auf das Kind aufgepasst. Sie sei im Schwimmbad gewesen und es habe auch ein Tanzprojekt gegeben. Sie stamme von einer religiösen und konservativen Familie ab und die Schritte, die sie bis jetzt gemacht habe, seien gewaltig. Sie gehe allein einkaufen. Sie habe auch das Kopftuch abgenommen. Beim BFA habe sie noch ein Kopftuch gehabt. Sie habe sich geändert. Sie sei frei, wann und in welche Richtung sie das Haus verlasse. Sie mische sich nicht in die Entscheidungen ihrer Kinder ein, wohin sie gehen und mit wem sie sich treffen würden. Ihre 13-jährige Tochter dürfe zwar nicht alles, aber sie kaufe z.B. auf eigenen Wunsch ihre Kleidung und trage sie auch. In der Schule wären Mädchen und Burschen gemeinsam, was ihr keine Sorgen bereite. In Afghanistan und im Iran habe sie sich Sorgen gemacht. Der Knackpunkt sei, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten. Solange ein Mädchen bei ihren Eltern, Mutter und Vater sei, habe der Vater das Recht. Nach der Heirat übernehme die Rechte des Vaters der Ehemann. In Österreich hingegen sei es ganz anders, da können die Frauen alles machen. Sie wolle gerne hierbleiben und diese Freiheit weitergenießen. Das wünsche sie auch ihrer Tochter. Im Fall Ihrer Rückkehr nach Afghanistan habe sie Angst vor ihrem Vater. Sie befürchte, dass ihre Kinder und ihr Ehemann vom Vater umgebracht werden würden. Außerdem würden ihre Kinder jetzt Musik machen und das sei dort in ihrer Familie verboten. Ihr Vater sei dagegen. Ihre Zukunft in Österreich schaue sehr gut aus. Sie wolle sehr gerne mit ihrer ganzen Familie hierbleiben. Ihre Kinder sollten auf eigenen Beinen stehen. Ihre Tochter wolle eine Zahnärztin werden. Sie wolle auch selbst in Zukunft arbeiten. Sie könne sehr gut Torten backen und wolle in einer Bäckerei arbeiten. Ihre Kinder hätten dieselben Fluchtgründe wie sie. Ihr Mann besuche wie sie zwei Mal in der Woche einen Deutschkurs. Die1.BF schilderte verständlich in deutscher Sprache, was ihre Kinder in Österreich machen würden. Ihre Kinder hätten die selben Fluchtgründe wie sie.

Der 2.BF gab im Wesentlichen an, er sei Tadschike, sunnitischer Moslem und spreche Dari. Er sei am XXXX im Ort XXXX geboren. Aber er akzeptiere den XXXX , zumal es in Afghanistan so sei. Als er acht Jahre alt gewesen sei, sei er in den Iran gezogen und mit 24 Jahren sei er wegen seiner Heirat zurückgekehrt. Er habe die 1.BF im Jahr 1998 in deren Heimatdorf geheiratet. Er habe nur drei Jahre die Schule besucht und sei von Beruf Maßschneider. Er habe in Afghanistan auch als Schneider gearbeitet, bis er durch seinen Schwiegervater, der mit den Taliban kooperiert habe, bedroht worden sei. Der Hass zwischen ihm und dem Schwiegervater sei mit der Zeit größer geworden. Der Schwiegervater habe die Kinder des 2.BF nach Pakistan in eine Madrassa schicken wollen. Da er dies abgelehnt habe, sei er von seinem Schwager und zwei weiteren Personen bei einer Autofahrt verprügelt worden. Dann sei er mit seiner Familie aus Afghanistan mit Hilfe der Schwiegermutter in den Iran geflohen. Aus Angst abgeschoben zu werden, hätten sie nach vier Jahren den Iran verlassen, was ihnen beim 2.Versuch gelungen sei. Seit er in Österreich sei, habe er Deutschkurse und verschiedene Veranstaltungen besucht und auch bei der Gemeinde als gemeinnütziger Arbeiter gearbeitet. Er habe drei Jahre lang in XXXX gemeinnützig gearbeitet und eine Zusage bekommen. Er habe die A1 Prüfung gemacht, aber nicht bestanden. Er wolle in Zukunft arbeiten und zwar alles, was möglich wäre. Er habe für die Gemeinde drei Jahre lang Gartenarbeiten gemacht und könne gut mit dem Traktor umgehen. Er könnte auch als Schneider tätig werden. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor dem Tod wegen des Schwiegervaters. Gerüchten zufolge lebe er noch. Sie würden ihn und seine Kinder umbringen.

Die 5.BF gab in ihrer Einvernahme an, es gefalle ihr in Österreich ganz gut. Sie könne hier die Schule besuchen, lernen und Freunde treffen. In Afghanistan und im Iran habe sie ein eingeschränktes Leben geführt. Hier sei es nicht mehr so und das wolle sie nicht aufgeben. In Zukunft wolle sie Zahnärztin werden. Dafür müsse man sechs Jahre an der Universität studieren. Sie strebe die Universität an. Sie habe Mädchen und Burschen als Freunde und besuche manche Konzerte ihrer Brüder. Es gefall ihr die Melodie. Sie selbst singe gerne, wolle aber keine Auftritte machen. Ihre Brüder würden in die Schule gehen und Musik spielen. Den Haushalt würden die Eltern gemeinsam führen. Der 2.BF würde die 1.BF unterstützen. Die 1.BF müsse nicht machen, was der 2.BF sage. Es gebe keinen Streit. Der Chef vom Haus sei die 1.BF und der 2.BF müsse das machen, was die 1.BF anschaffe. Die 1.BF verwalte das Geld und ordne an, was der 2.BF zu tun habe. Der 2.BF helfe der 1.BF. Sie gehe ohne Begleitung ihrer Familie ins Geschäft z.B. ins Shoppingcenter Graz shoppen. Sie kenne H&M, C&A und Colloseum.

Im Rahmen der Verhandlung wurden seitens der BF Zeitungsberichte und Fotografien über die Musikgruppe des 3.BF und des 4.BF, Empfehlungsschreiben, Sprachkursbesuchsbestätigungen, Schulzeugnisse und Arbeitsbestätigungen vorgelegt.

11. Mit Stellungnahme vom 28.11.2019 brachten die BF im Wesentlichen vor, dass es sich bei der 1.BF um eine "westlich orientierte" Frau handle, die ein selbstbestimmtes Leben führe und sich ein solches auch für ihre Tochter wünsche. Die Lage für Frauen habe sich in Afghanistan in den letzten Jahren nicht verbessert und sei sexualisierte und geschlechterspezifische Gewalt weiterhin weit verbreitet. Auch läge keine innerstaatliche Fluchtalternative für die BF vor. Die 5.BF sei als Kind spezifisch gefährdet und läge kein Zugang zur Bildung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zu den Beschwerdeführern:

Die BF (1.BF bis 6.BF) tragen die im Spruch genannten Namen, sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an, sind sunnitisch muslimischen Glaubens und sprechen Dari. Die 1.BF und der 2.BF sind verheiratet und die Eltern der übrigen BF (3.BF bis 6.BF).

Die 1.BF und der 2.BF stammen aus der Provinz Herat. Vor ihrer Ausreise nach Österreich lebten die 1.BF bis 5.BF rund vier Jahre lang in Teheran im Iran. Der 2.BF hat bereits vor seiner Heirat in Teheran gelebt und zog danach zur Familie der 1.BF nach Herat. Der 6.BF ist am XXXX in Österreich geboren.

Die 1.BF ist im Dorf XXXX in der Provinz Herat geboren und in einer streng konservativen Familie aufgewachsen. Sie durfte dort weder die Schule besuchen noch eine Ausbildung absolvieren. Sie litt unter der Dominanz ihres Vaters, der ihr Leben beherrschte. In Österreich möchte die 1.BF sich weiterbilden und als Konditorin arbeiten.

Die 1.BF hat während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in der Familie und Gesellschaft steht in Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die 1.BF hat eine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung ist wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)

2016 2017 2018 2019

Jänner 2111 2203 2588 2118

Februar 2225 2062 2377 1809

März 2157 2533 2626 2168

April 2310 2441 2894 2326

Mai 2734 2508 2802 2394

Juni 2345 2245 2164 2386

Juli 2398 2804 2554 2794

August 2829 2850 2234 2443

September 2493 2548 2389 -

Oktober 2607 2725 2682 -

November 2348 2488 2086 -

Dezember 2281 2459 2097 -

insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der A

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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