TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/29 W247 2225171-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.05.2020
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Entscheidungsdatum

29.05.2020

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W247 2225171-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, idgF., iVm §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, sowie 8 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF., als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste spätestens am 25.08.2004 ins Bundesgebiet und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF wurde am 30.08.2004, vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen und schilderte hinsichtlich ihrer Ausreisegründe die Ereignisse ihren (mittlerweile) Ex-Ehegatten XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, betreffend. Das Verfahren wurde am 30.08.3004 zugelassen.

Die BF wurde in der Folge am 17.03.2005 vor dem Bundesasylamt erneut zu ihren Fluchtgründen einvernommen und bezog sie sich hierbei wiederum auf die Ausreisegründe ihres Ex-Ehegatten. Eigene Fluchtgründe brachte die BF nicht vor.

1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, wurde dem Asylantrag der BF gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und ihr in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Ebenso wurde ihrem Ex-Ehegatten mit Bescheid vom selben Tag, Zl. 04 07.639-BAL, gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2.1. Am 01.03.2018 wurde von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren beim Ex-Ehegatten der BF eingeleitet.

2.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, wurde dem Ex-Ehegatten der BF der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Diese Entscheidung erwuchs mit 02.06.2018 in Rechtskraft.

2.3. Am 25.01.2019 wurde von Amts wegen bei der BF ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

2.4. Am 25.01.2019 erging seitens des BFA eine Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens und Aufforderung zur Stellungnahme samt Länderinformationsblatt der Russischen Föderation. Im Rahmen dieses Schreibens wurde der BF ein Fragenkatalog übermittelt.

2.5. Die BF brachte mit schriftlicher Stellungnahme vom 07.02.2019 - neben der Beantwortung der an sie gerichteten Fragen zur Identität, ihren persönlichen Umständen in Ö, sowie den persönlichen Bindungen zum Herkunftsstaat - im Wesentlichen vor, dass sie mit ihrer Familie seit 2004 in Österreich lebe und sie das Land lieben gelernt hätten. Dieses Land sei zu ihrer Heimat geworden. Integration sei seit dem ersten Tag ihre oberste Priorität gewesen. Ihre beiden Söhne hätten mehr als die Hälfte ihres Lebens hier verbracht und seien diese stets fleißig, brav und vorbildhaft gewesen. Nichts binde sie an die alte Heimat. Der nächste Schritt in ihrem Leben sollte nun der Erhalt der Staatsbürgerschaft sein. Mit ihrem Ex-Ehegatten habe sie nichts mehr zu tun und bräuchten sie internationalen Schutz, um hier in Frieden zu leben. Es gebe keine Sicherheit und keine Zukunft für sie in ihrer alten Heimat.

2.6. Am 12.02.2019 erging eine Mitteilung gemäß § 7 Abs. 3 AsylG an den Magistrat XXXX .

2.7. Mit Stellungnahme vom 28.02.2019 brachte die BF vor, dass eine Asylaberkennung in ihrem Fall unzulässig sei, da weder sie noch ihre Söhne jemals im Heimatland gewesen seien. Selbst wenn sie jemals im Heimatland gewesen seien, sei die Fünf-Jahres-Frist gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 bereits abgelaufen und eine Aberkennung aus diesem Grund unzulässig, da keine Straffälligkeit vorliege. Sie sei seit 2015 von ihrem Mann geschieden und sei eine Aberkennung im Familienverfahren schon aus diesem Grund unzulässig. Selbst wenn sie nicht geschieden wäre, sei eine Aberkennung im Familienverfahren auch nach der Judikatur des Asylgerichtshofes unzulässig, da im Aberkennungsverfahren § 34 AsylG keine Anwendung finde. Die BF stelle daher den Antrag 1) auf Einstellung des Aberkennungsverfahrens, 2) auf Ausstellung einer schriftlichen Bestätigung über die Einstellung, in eventu auf bescheidmäßige Feststellung der Aufrechterhaltung der Flüchtlingseigenschaft.

2.8. Am 01.03.2019 wurde dem BFA seitens des Amtes der oberösterreichischen Landesregierung die Niederschrift vom 20.11.2018 betreffend den von der BF am 19.09.2018 gestellten Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft übermittelt. Aus dieser Niederschrift geht hervor, dass die BF ihren Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft am 20.11.2018 zurückgezogen hatte.

2.9. Am 03.05.2019 langte die Mitteilung des Magistrates XXXX ein, wonach der BF mit Feststellungsbescheid vom 26.04.2019, zugestellt am 30.04.2019, ein Aufenthaltstitel XXXX amtswegig erteilt worden sei. Aus der gleichzeitig übermittelten Stellungnahme geht hervor, dass die BF die Erteilung die Erteilung dieses Aufenthaltstitels nicht gewollt habe.

2.10. Am 27.05.2019 übermittelte der Magistrat XXXX die Beschwerde gegen den Feststellungsbescheid des Magistrates XXXX samt zugehörigem Feststellungsbescheid, sowie den gesamten Akteninhalt zum Verfahren betreffend die Erteilung eines Aufenthaltstitels.

2.11. Am 18.09.2019 langte die Verständigung über die rechtskräftige Erteilung des Aufenthaltstitels XXXX , gültig von 29.05.2019 bis 29.05.2024, vom Magistrat XXXX beim BFA ein.

2.12. Am 02.10.2019 langte beim BFA das angeforderte Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , ein, mit welchem die Beschwerde der BF gegen den Feststellungsbescheid betreffend die Erteilung des Aufenthaltstitels XXXX als unbegründet abgewiesen wurde und die Revision für unzulässig erklärt wurde.

3.1. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 02.10.2019 erkannte das BFA den der BF mit Bescheid vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das BFA der BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.).

Dazu wurde zur Person der BF festgestellt, dass ihre Identität bzw. Nationalität feststehe, sie Staatsangehörige der Russischen Föderation sei und der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre. Ihr sei der Aufenthaltstitel „ XXXX “ vom Magistrat XXXX zur XXXX , gültig von 29.05.2019 bis 29.05.2024, rechtskräftig erteilt worden. Es habe festgestellt werden können, dass sie an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung leide. Sie wäre unbescholten.

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde festgestellt, dass die BF im gesamten Asylverfahren keine eigenen Fluchtgründe angegeben habe. Sie habe bei ihren Einvernahmen im Asylverfahren keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, sondern wiederholt auf die Angaben ihres Ex-Ehegatten verwiesen. Feststehe auch, dass aus ihren Stellungnahmen zum Aberkennungsverfahren keine konkret gegen sie gerichtete Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen hervorgehen würden. Auch von Amts wegen sei keine gezielte Verfolgung oder Bedrohung Ihrer Person im Herkunftsland erkannt worden. Ihr sei aufgrund der damaligen Fluchtgründe ihres Ex-Ehegatten der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden. Mit Bescheid des BFA vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, sei ihrem Ex-Ehegatten der Status des Asylberechtigten aberkannt worden, sodass die BF keine weiteren Ansprüche ableiten könne. Die Aberkennung des Asylstatus ihres Ex-Ehegatten sei am 02.06.2018 in Rechtskraft erwachsen. Dementsprechend könne die BF es auch nicht ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitze. Ferner habe festgestellt werden können, dass sich die Lage im Herkunftsstaat der BF für Tschetschenen seit der Asylgewährung ihres Ex-Ehegatten und von der BF maßgeblich geändert habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass die BF in ihrer Heimat einer Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt sei. Es hätte auch aus den sonstigen Umständen keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung festgestellt werden können.

Nicht festgestellt werden habe können, dass die BF in ihrem Herkunftsstaat von solchen Verhältnissen betroffen sei, die dazu führen, dass sie, wenn sie sich dort aufhalte, einem realem Risiko unterworfen wäre, einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt oder einer dem 6. oder 13. Zusatzprotokoll zur EMRK widerstreitenden Behandlung unterworfen zu sein. Es habe festgestellt werden können, dass die Verwandten der BF in der Russischen Föderation leben würden und sie bei einer Rückkehr unterstützen könnten. Auch verfüge die BF über Schulbildung und Berufserfahrung und könnte sie bei einer Rückkehr auf Grundversorgung und Sozialhilfe in der Russischen Föderation zurückgreifen, sodass sie in keine existenzbedrohende Lage geraten würde.

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten wurde beweiswürdigend u.a. ausgeführt, dass der BF der Asylstatus ausschließlich aufgrund der Familieneigenschaft zu XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, zuerkannt worden sei. Der einst zuerkannte Status sei der Bezugsperson der BF jedoch rechtskräftig aberkannt worden, sodass die BF nunmehr keine Ansprüche daraus ableiten könne. Die Ermittlungsergebnisse im Verfahren des Ex-Ehegatten der BF hätten eindeutig ergeben, dass dieser auch keiner asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt wäre, sodass weder die BF noch ihr Ex-Ehegatte auf den Status des Asylberechtigten angewiesen wären. Es sei für die Behörde glaubhaft, dass weder die BF noch ihr Ex-Ehegatte einer asylrelevanten Verfolgung im gesamten Gebiet der Russischen Föderation ausgesetzt seien und demnach keinen alleinigen Anspruch auf internationalen Schutz ableiten könnten. Die BF könne es auch nicht ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie ableiten könne. In Gesamtschau seien ihre Behauptungen einer aktuellen und konkret gegen sie gerichteten asylrelevanten Verfolgung und Bedrohung als nicht glaubhaft zu qualifizieren. Aufgrund dieser Tatsachen gehe die Behörde davon aus, dass auch für die BF kein weiterer Bedarf mehr auf den Status der Asylberechtigten bestehe, zumal sie ohnehin nie einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung in der Russischen Föderation ausgesetzt gewesen sei. Seit ihrer Asylgewährung seien sohin die damaligen Voraussetzungen weggefallen, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden wäre. In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, dass in Zusammenschau der persönlichen Lebensumstände und der Länderinformationen für die BF zumutbar wäre, in die Russischen Föderation zurückzukehren, ohne in eine existenzbedrohliche Notlage zu geraten. Im Ermittlungsverfahren hätten sich keine Hinweise darauf ergeben, dass die BF im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation im Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht sein könnte. Es seien somit keine Gründe hervorgekommen, die eine Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erforderlich machen würden.

3.2. Mit Verfahrensanordnung vom 03.10.2019 wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

3.3. Gegen den Bescheid wurde – beim BFA einlangend mit 25.10.2019 - binnen offener Frist in vollen Umfang Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit erhoben. Dazu wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 gemäß Abs. 3 leg. cit. prinzipiell nur zulässig sei, wenn seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten noch keine 5 Jahre vergangen seien, außer die betroffene Person wäre straffällig geworden. Die gelte ausdrücklich auch dann, wenn der betroffenen Person der Aufenthaltstitel „ XXXX “ in einem Verfahren gemäß § 45 Abs. 8 NAG erteilt worden sei. Auch in diesem Fall müsse jedenfalls ein Aberkennungsgrund vorliegen. Die alleinige Erteilung des Aufenthaltstitels ohne Vorliegen eines Aberkennungsgrundes reiche nicht für die Aberkennung aus. Nur, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Z 2 leg. cit. vorliege, könne somit der Status des Asylberechtigten aberkannt werden. Die BF wäre seit mehr als 5 Jahren in Österreich und nicht straffällig geworden. Sie sei auch nicht in ihr Heimatland gereist, weshalb kein Aberkennungsgrund gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG vorliege. Wenn die Behörde vermeine, dass der Asylaberkennungsgrund des Art. 1 Abschnitt C lit. 5 GFK erfüllt wäre, weil ihrem Ex-Ehegatten der Status des Asylberechtigten rechtskräftig aberkannt worden sei, übersehe sie, dass nach der Judikatur des Asylgerichtshofes die Bestimmungen über das Familienverfahren im Aberkennungsverfahren keine Anwendung finden würden. Bei der Aberkennung sei keine Familiengleichbehandlung vorgesehen. Der Status des Asylberechtigten dürfe somit nur jenen Personen aberkannt werden, in deren eigener Person sich der Aberkennungstatbestand verwirklicht habe. Die Aberkennung des Zusammenführenden schlage nicht auf den Familienangehörigen durch. Im vorliegenden Fall komme hinzu, dass aus der bloßen Tatsache der Asylaberkennung des Ex-Ehegatten der BF nicht geschlossen werden könne, dass die Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden sei, weggefallen seien, da es immer auf den genauen Grund der Aberkennung des Zusammenführenden ankomme. Die BF habe in ihrer eigenen Person keinen Aberkennungstatbestand verwirklicht. Die Behörde stütze die Aberkennung ausdrücklich nur auf die Aberkennung ihres Ex-Ehegatten. Auch wenn ihr der Daueraufenthaltstitel erteilt worden sei, müssten aber die Aberkennungsgründe des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG vorliegen. Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sei daher nicht gerechtfertigt. Beantragt wurde, 1.) den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes ersatzlos zu beheben; 2.) den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung an die Behörde 1. Instanz zurückzuverweisen; 3.) eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

3.4. Mit Beschwerdevorlage vom 05.11.2019 und die Verwaltungsakte langten beim Bundesverwaltungsgericht am 07.11.2019 ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Der Ablauf des Verfahrensgangs zum bisherigen Verfahren wird – wie unter Punkt I. dargelegt – festgestellt.

1.2. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die volljährige Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche die im Spruch ersichtlichen Personalien führt. Sie ist der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und muslimischen Glaubens.

Die BF reiste spätestens am 25.08.2004 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, wurde der BF im Rahmen des Familienverfahrens aufgrund der Fluchtgründe ihres (nunmehrigen) Ex-Ehegatten gemäß § 7 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 07.639-BAL, wurde dem Asylantrag des XXXX , Ex-Gatte der BF, gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und ihm in Österreich Asyl gewährt, sowie gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Am 01.03.2018 wurde von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren bei dem Ex-Gatten der BF eingeleitet. Am 28.03.2018 wurde dem Ex-Gatten der BF vom Magistrat Stadt XXXX unter der Zahl AEG/69851 der Aufenthaltstitel „ XXXX “ erteilt.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, wurde dem Ex-Gatten der BF unter anderem der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt, gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt und gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Diese Entscheidung erwuchs mit 02.06.2018 in Rechtskraft.

Feststellend führte die belangte Behörde im Aberkennungsbescheid des Ex-Gatten Folgendes aus:

„[…]Dem BFA wurde bekannt, dass Sie in den vergangenen Jahren mehrmals nach Dagestan in der Russischen Föderation gereist sein sollen. Weiters wurde bekannt, dass Sie in Dagestan neuerlich geheiratet hätten.

Im Rahmen Ihrer Einvernahme vor dem BFA gaben Sie zu, dass Sie, neben zahlreichen, oft monatelangen Aufenthalten im Zeitraum von 2016 bis 2018, im Jahr 2016 persönlich in Dagestan einen Antrag auf Ausstellung eines biometrischen Reisepasses der Russischen Föderation einbrachten, der Ihnen am 27.04.2016 auch ausgestellt und ausgefolgt worden ist. Die Ausstellung des Reisepasses erfolgte demzufolge nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Österreich und Sie unterstellten sich durch die Beantragung und Ausstellung des Dokumentes dem Schutz der Russischen Föderation[…].“

Die Umstände, auf Grund derer die Beschwerdeführerin als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefe, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Die BF leidet an keinen schwerwiegenden, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und arbeitsfähig. Sie ist unbescholten.

Sie verfügt über eine fundierte Schulbildung im Herkunftsstaat, hat sich in Österreich über Sprachkurse (Niveau B2) fortgebildet und am Vorbereitungslehrgang für Gesundheits- und Sozialberufe im Bereich des Pflegeberufs teilgenommen. Sie geht in Österreich einer ordentlichen Beschäftigung nach und ist selbsterhaltungsfähig. Sie verfügt über mehrere familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und steht mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in telefonischem Kontakt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notwendige Lebensgrundlage entzogen wäre. So können sie auch insbesondere ihre Verwandten in der Russischen Föderation nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen.

Es ist der BF grundsätzlich möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der Beschwerdeführer hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.

Das Bundesamt hat nach § 7 Abs. 3 AsylG 2005 die Niederlassungsbehörde von der beabsichtigten Aberkennung verständigt. Der BF wurde im April 2019 rechtskräftig ein XXXX nach § 45 Abs. 8 NAG erteilt.

1.2. Zum Herkunftsstaat bzw. Tschetschenien werden folgende Feststellungen getroffen:
1.         Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformation

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 18.4 Homosexuelle).
Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).

Quellen:

- Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019):

New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed, https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed, Zugriff 28.2.2019

- Nowaja Gaseta (18.1.2019): ?????????? ??????, https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy, Zugriff 28.2.2019

- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen, https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welle-der-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401, Zugriff 28.2.2019

- UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces ‘new wave of persecution’: UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641, Zugriff 28.2.2019
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB RUSS übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 16.3.         Zeugen Jehovas).

Änderungen seit Mai 2018:

Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die „Föderale Liste extremistischer Materialien“ des Justizministeriums der RF (http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 „Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung“ des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB („Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation“) selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das „Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland“ als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.

Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee – in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung – in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden.

Art. 282.3 des russ. StGB (http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:

„Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit

1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.

2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.

Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist.“

Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.

Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.

Quellen:

-        ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email

-        

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-        ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-        ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

2.       Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

-        CIA – Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

-        FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

2.1.    Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        GKS – Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-        ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-        Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

2.2.    Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser „Interessenausgleich“ traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).
Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen „Aufständischen“ und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).
Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der „Siloviki“, das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete „Terrorverdächtige“ können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich „reinigen“, was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).
Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-        IOM – International Organisation of Migration (6.2014): Länderinformationsblatt Russische Föderation

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan: Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-        ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

3.       Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-        BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

3.1.    Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherhe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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