TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/17 W139 2175721-1

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Veröffentlicht am 17.06.2020
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Entscheidungsdatum

17.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W139 2175721-1/55E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       In seiner Erstbefragung am 19.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, er habe in Afghanistan für die Regierung gearbeitet und sei aufgrund seines Berufes bedroht worden. Er fürchte um sein Leben.

3.       Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 09.05.2017 wiederholte der Beschwerdeführer die im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte ergänzend im Wesentlichen aus, er habe in Afghanistan für die Regierung gearbeitet und sei aufgrund seines Berufs von den Taliban bedroht worden. Er sei Angestellter beim XXXX gewesen, dort sei er Direktor der Abteilung für die gerechte Verteilung der Energie und Wasserversorgung in den einzelnen Provinzen gewesen. Aufgrund von Beschwerden der Bevölkerung, die Wasserverteilung sei nicht gerecht, da die Taliban durch bauliche Veränderungen der Kanäle – die das Wasser aus den Bergen leiten – das meiste Wasser für sich und den Drogenanbau abzweigen, seien der Beschwerdeführer und seine Kollegen in unterschiedliche Regionen gefahren, um dort diese Probleme zu lösen. Unter anderem in die Provinzen XXXX und XXXX . Bei diesen Reisen hätte er versucht, nicht als Regierungsmitarbeiter erkennbar zu sein. Der Beschwerdeführer gab an bei einer derartigen Dienstreise in die Provinz XXXX in den Bezirk XXXX am 15.09.2015, sei ein Mitreisender von der Gruppe getrennt und von den Taliban mitgenommen worden, weil er verdächtigt worden sei, Regierungsmitarbeiter zu sein. Da der Bezirk XXXX unter der Führung der Taliban gewesen sei, hätten der Beschwerdeführer und seine Kollegen nicht weiterreisen können und seien zurück nach Kabul gekehrt, wo sie um Unterstützung der Regierung gebeten haben, die jedoch nicht in der Lage gewesen sei, zu helfen und den Beschwerdeführer und seine Kollegen vor Ort in den Provinzen zu beschützen. Während der Beschwerdeführer und seine Kollegen in Kabul an einem Lösungsprogramm arbeiteten, haben ein Kollege und am nächsten Tag am 05.10.2015 auch der Beschwerdeführer einen Drohbrief von den Taliban erhalten. Daraufhin habe sein Arbeitgeber im XXXX versichert, bei der nächsten Fahrt nach XXXX für Sicherheit zu sorgen. Daraufhin seien dem Beschwerdeführer ein Auto, ein Fahrer und ein bewaffneter Bodyguard zur Verfügung gestellt worden. Bei einer weiteren Fahrt in den Bezirk XXXX sei auf dem Weg dorthin auf das Auto geschossen worden. Der Beschwerdeführer und seine Kollegen seien dann nach Kabul zurückgekehrt, haben den Vorfall gemeldet und um mehr Sicherheit gebeten. Ein Arbeitskollege des Beschwerdeführers sei danach am Weg in die Arbeit getötet worden. Ungefähr drei Tage nach diesem Vorfall sei der Beschwerdeführer am 14.10.2015 ausgereist.

Der Beschwerdeführer gab an, er habe zur Problemlösung in diese Provinzen fahren müssen, um seinen Job nicht zu verlieren. Es sei sein erster Job nach dem Uni Abschluss gewesen und er sei zuvor zwei Jahre arbeitslos gewesen. Es sei sehr schwer gewesen, eine Arbeit zu bekommen. Er habe Verantwortung gegenüber seiner Familie zu tragen gehabt. Nach dem Vorfall habe er die Regierung gebeten, für seine Sicherheit zu sorgen, diese habe jedoch verdeutlicht, sie könne den Beschwerdeführer nicht beschützen. Nachgefragt durch die belangte Behörde gab der Beschwerdeführer an, dass er selbst nach Beendigung seines Jobs durch die Taliban als Mitarbeiter der Regierung abgestempelt und bedroht worden wäre. Er habe keinen Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan und wisse nicht wo sie sich aufhält, nur ein Onkel lebe in Laghman. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei sein Leben durch die Taliban bedroht. In Österreich sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Verlobten und deren Familie, und er habe sich bereits gut eingelebt.

4.       Der Beschwerdeführer legte bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 09.05.2017 ein Konvolut an Unterlagen vor: seine Afghanische Geburtsurkunde (Original mit Foto) Nr. XXXX ausgestellt von Registeramt XXXX am XXXX ; seinen Arbeitsausweis vom XXXX (Original mit Foto) ausgestellt am XXXX , seine Ausweiskarte für Arbeitszuordnung – XXXX (Original mit Foto) Nr. XXXX , ausgestellt in Afghanistan am XXXX ., einen Drohbrief der Taliban (Original), drei Zertifikate (Original), ein Diplom (Original) und zwei Englischkursbestätigungen aus Afghanistan (Original), ein Schulabschlusszeugnis aus Afghanistan (Original), diverse Deutschkursbestätigungen aus Österreich (ua. ÖSD Sprachzertifikat A1 am 05.12.2016 gut bestanden), Teilnahmebestätigungen an diversen Kursen (Volkshochschule, Werte- u Orientierungskurs), ein Unterstützungsschreiben, eine Bestätigung der Caritas vom 05.05.2017 über die ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers als Dolmetscher, sowie diverse Fotos des Beschwerdeführers bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit und von seinen Integrationsbemühungen.

5.       Am 17.05.2017 brachte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter eine Stellungnahme zu seinem Fluchtvorbringen sowie zur Situation in Afghanistan bei der belangten Behörde ein.

6.       Mit dem angefochtenen Bescheid vom XXXX , der dem Beschwerdeführer am 11.10.2017 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer begründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war bzw. er einer solchen dort gegenwärtig ausgesetzt wäre, da die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer im Verfahren gemachten Angaben betreffend seiner Fluchtgründe als nicht glaubhaft erachtete.

7.       Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

8.       Am 27.10.2017 brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – Beschwerde gegen den genannten Bescheid ein. Er beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und die Zurückverweisung, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in eventu die Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, in eventu die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, sowie in eventu die Feststellung, dass die Abschiebung unzulässig ist. Außerdem beantragte er die Feststellung, dass die Rechtsmittelbelehrung der belangten Behörde im bekämpften Bescheid verfassungswidrig ist.

9.       Mit Schreiben vom 20.02.2018, legte der Beschwerdeführer Bestätigungen über die Teilnahme an einem Vorbereitungskurs zum Pflichtschulabschluss sowie über sein freiwilliges Engagement und seine Integrationsbemühungen vor.

10.      Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 10.07.2018 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 29.06.2018

11.      Am 06.09.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Beilage A zum Verhandlungsprotokoll): ein ÖSD Zertifikat über die bestandene A2 Deutschprüfung vom 23.07.2018, eine Bestätigung über den Besuch des Pflichtschulabschlusslehrganges vom 03.09.2018, Bestätigungen über die psychiatrische Behandlung des Beschwerdeführers sowie das verschriebene Medikament Trittico, sowie Bestätigungen über dessen ehrenamtliche Tätigkeiten und Teilnahme an Deutschkursen. Er legte außerdem einen Bericht vom 11.06.2018 über einen Anschlag in Kabul – in der Nähe des XXXX in dem der Beschwerdeführer arbeitete – vor, bei dem durch eine Explosion fünf Menschen getötet und 20 verwundet wurden (Beilage B zum Verhandlungsprotokoll).

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer u.a. ausführlich zu seiner Identität und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Leben in Afghanistan und Pakistan, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und seinem Leben in Österreich befragt.

12.      Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Anfragebeantwortung der Staatendokumentationen zu Drohbriefen der Taliban vom 27.06.2018, ACCORD-Anfragebeantwortung ua zur Situation von Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017 und eine Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Drohbriefen der Taliban vom 14.11.2016.

13.      Mit Schreiben vom 20.09.2018 brachte das erkennende Gericht eine Erkenntnisquelle in das Verfahren ein: Die Seiten 12 bis 18 des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation Afghanistan vom 29.06.2018, zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers, übermittelte dieses an die Parteien und gab die Möglichkeit zu einer schriftlichen Stellungnahme.

14.      Mit Schreiben vom 27.09.2018, brachte der Beschwerdeführer fristgerecht eine Stellungnahme zur eingebrachten Länderinformation ein.

15.      Am 12.10.2018 langte die vom erkennenden Gericht beauftragte Übersetzung des Drohbriefes der Taliban beim erkennenden Gericht ein.

16.      Mit Schreiben vom 31.10.2018 nahm der Beschwerdeführer zur Übersetzung des Drohbriefes Stellung.

17.      Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 29.10.2019 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 29.06.2018 mit aktueller Kurzinformation vom 04.06.2019.

18.      Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 10.12.2019 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019.

19.      Am 18.02.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Es waren außerdem ein Vertreter der belangten Behörde und ein Zeuge anwesend, der eine verbindliche Einstellungszusage dem Beschwerdeführer gegenüber in seinem Gastronomiebetrieb machte. Die bestellte Dolmetscherin für die Sprache Dari ist nicht zur Verhandlung erschienen. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt: Eine verbindliche Einstellungszusage vom 02.07.2019, Deutsch-Kursbestätigungen, ein Empfehlungsschreiben seiner Caritas Unterkunft, ein ÖSD Zertifikat über die bestandene Deutsch Prüfung A2 vom 23.07.2018, eine Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers, ein Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung vom 11.04.2019, eine Bestätigung vom 05.02.2020 über den Besuch einer Psychotherapie sowie diverse Fotos (diese wurden als Beilage A zum Verhandlungsprotokoll in den Akt genommen).

Aufgrund des Nichterscheinens der Dolmetscherin und der beabsichtigten erneuten Vorlage der Arbeitsausweise des Beschwerdeführers im Original und deren beabsichtigter kriminaltechnischer Untersuchung wurde die Verhandlung verlegt.

20.      Mit Schreiben vom 21.04.2020 langte der Untersuchungsbericht des Bundeskriminalamtes über die Urkundentechnische Untersuchung zweier vom Beschwerdeführer im Original vorgelegter Dienstausweise aus Afghanistan ein.

21.      Am 19.05.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die öffentliche mündliche Verhandlung unter dem Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari fortgesetzt. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

22.      Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017, ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018 und verwies auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern, Dezember 2016.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:

Aufgrund des Asylantrags vom 19.11.2015, der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 19.11.2015, durch die Einvernahme der belangte Behörde am 09.05.2017, der Beschwerde vom 27.10.2017 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom XXXX , der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, aufgrund des Urkundentechnischen Untersuchungsberichtes des Bundeskriminalamtes vom 20.04.2020, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Stellungnahmen sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlungen werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er beherrscht außerdem die Sprachen Paschtu und Englisch in Wort und Schrift und kann sich auf Deutsch verständigen. Er ist nicht verheiratet, und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist in XXXX geboren und aufgewachsen, wo er mit seiner Familie, seinen Eltern, seinen drei Brüdern und einer Schwester, bis zum Alter von ca. 15 Jahren gelebt hat. Der Vater des Beschwerdeführers war Bauer und versorgte die Familie mit den eigenen landwirtschaftlichen Produkten. Danach lebte er mit seiner Familie von ca. 2000 bis 2006 in XXXX in Pakistan, von wo sie wieder nach Afghanistan, nach XXXX zurückkehrten.

Nach seiner Ausreise nach Österreich hatte der Beschwerdeführer Kontakt mit seinem Onkel in Afghanistan der ihm berichtete, dass sein Vater das Haus sowie die Felder verkauft und mit seiner Familie XXXX verlassen hat. Der Beschwerdeführer hat seit seiner Ausreise aus Afghanistan keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern und Geschwistern und weiß nicht wo sich diese momentan aufhalten. Auch mit seinem Onkel hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr.

Der Beschwerdeführer besuchte die Schule in XXXX bis er ca. 15 Jahre alt war. Er übersprang zwei Klassen und machte seinen Schulabschluss vor der Ausreise nach Pakistan im Jahr 2000. Er studierte vier Jahre lang, von 2007 bis 2011 in XXXX Rechtswissenschaften und politische Wissenschaften. Danach war er zwei Jahre auf Arbeitssuche, bis er den Job im XXXX bekam.

1.1.1. Tätigkeit des Beschwerdeführers im XXXX

Der Beschwerdeführer war ca. ein Jahr im XXXX , in der Abteilung XXXX tätig und als Abteilungsleiter für die Wasserverteilung zuständig. In seiner Funktion reiste er gemeinsam mit Kollegen in verschiedene Provinzen Afghanistans, um eine gerechte Wasserverteilung zu gewährleisten.

1.1.2. Drohungen und Angriff durch die Taliban

Bei der Verrichtung ihrer Arbeit in verschiedenen Provinzen Afghanistans wurden der Beschwerdeführer und seine Kollegen immer wieder von den Taliban, die in den Provinzen die Überhand hatten, bedroht und an der Verrichtung ihrer Arbeit gehindert.

Der Beschwerdeführer reiste mit seinem Kollegen aus XXXX mehrmals in die Provinz XXXX , um den Beschwerden der dortigen Bevölkerung, wonach die Wasserverteilung durch das Abzweigen von Wasser durch die Taliban nicht gerecht sei, nachzugehen.

Der Beschwerdeführer erhielt am 05.10.2015 einen Drohbrief der Taliban, mit welchem er aufgefordert wurde, seinen Job niederzulegen, widrigenfalls würde er mit dem Tod bestraft werden.

Nach Erhalt des Drohbriefes meldete er dies an das XXXX und bat um Sicherheit.

Danach wurde er vom XXXX am 08.10.2015, ausgestattet mit einem Bodyguard und einem PKW, gemeinsam mit einem zweiten Kollegen erneut in die Provinz XXXX gesendet. In XXXX stiegen zwei weitere Kollegen zu. Vor XXXX geriet das Fahrzeug unter Beschuss und kam von der Fahrbahn ab. Das Auto wurde beschädigt, aber es wurden keine Insassen verletzt. Nach dem Vorfall kehrten sie umgehend nach XXXX zurück.

Der Beschwerdeführer berichtete dem XXXX von den Geschehnissen und bat erneut um erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, erhielt diese aber nicht.

Kurz darauf wurde jener Kollege, der zuvor mit ihm von XXXX nach XXXX unterwegs war, auf dem Weg in die Arbeit ermordet.

Am darauffolgenden Tag kondolierte der Beschwerdeführer dem Vater des ermordeten Kollegen und erfuhr von diesem, dass auch sein Kollege zuvor einen Drohbrief von den Taliban erhalten hatte.

Am 14.10.2015 flüchtete der Beschwerdeführer aus Afghanistan und stelle am 19.11.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.1.3. Bedrohung bei einer Rückkehr

Der Beschwerdeführer befürchtet im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund der Drohungen der Taliban gegen ihn und der Präsenz der Taliban in Kabul sowie im restlichen Afghanistan, verfolgt zu werden.

Es muss davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für das XXXX eine politische Gesinnung gegen die Zielsetzungen der Taliban zugeschrieben wird, zumal er den Aufforderungen der Taliban, sein Amt niederzulegen und sodann mit ihnen zu kooperieren, nicht nachgekommen ist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt zu sein. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in seinem Heimatland hinreichend vor diesen Bedrohungen durch die Taliban zu schützen.

Die Bedrohung des Beschwerdeführers ist aktuell. Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich am 22.03.2017, vom zuständigen Landesgericht wegen dem Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und 4 StGB und dem Vergehen der Begünstigung nach §§ 15, 299 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, verurteilt.

Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, liegen im Verfahren nicht vor.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

a.       Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019

b.       UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018

c.       ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018

d.       Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Afghanistan: Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen auf Mitarbeitende der Regierung, ausländischer Firmen und internationaler Streitkräfte; Drohbriefe; Rekrutierung; psychische Erkrankungen, vom 14.11.2016

e.       Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“, vom 23.08.2017

f.       Anfragebeantwortung der Staatendokumentationen- Afghanistan, Drohbriefe der Taliban und des IS, vom 27.06.2018

a. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019:

1.       Sicherheitslage

„Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))

Chart

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

 

2016

2017

2018

2019

Jänner

2111

2203

2588

2118

Februar

2225

2062

2377

1809

März

2157

2533

2626

2168

April

2310

2441

2894

2326

Mai

2734

2508

2802

2394

Juni

2345

2245

2164

2386

Juli

2398

2804

2554

2794

August

2829

2850

2234

2443

September

2493

2548

2389

-

Oktober

2607

2725

2682

-

November

2348

2488

2086

-

Dezember

2281

2459

2097

-

insgesamt

28.838

29.866

29.493

18.438

Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR

30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))

Jahr

Tote

Verletzte

Insgesamt

2009

2.412

3.557

5.969

2010

2.794

4.368

7.162

2011

3.133

4.709

7.842

2012

2.769

4.821

7.590

2013

2.969

5.669

8.638

2014

3.701

6.834

10.535

2015

3.565

7.470

11.035

2016

3.527

7.925

11.452

2017

3.440

7.019

10.459

2018

3.804

7.189

10.993

2019*

2.563*

5.676*

8.239*

Insgesamt

32114

59561

91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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