TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/19 W274 2212308-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.06.2020
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Entscheidungsdatum

19.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W274 2212308-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Mag. LUGHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (auch XXXX ), geboren XXXX , syrischer Staatsbürger, XXXX , vertreten durch Dr. Martin DELLASEGA, Dr. Max KAPFERER, Rechtsanwälte, Schmerlingstraße 2/2, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg - Außenstelle Salzburg vom 31.10.2018, Zahl: 1088266001-170549409/BMI- BFA_Sbg_Ast_01, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu Recht:

Der allein gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides gerichteten Beschwerde wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Der Beschwerdeführer (BF) beantragte erstmals am 21.09.2015 vor der Landesverkehrsabteilung für Tirol PI Innsbruck AGM unter dem Namen XXXX internationalen Schutz und brachte als Fluchtgrund vor, sein Vater sei politisch aktiv und gegen die aktuelle Regierung Assad. Die (gemeint) Familie werde daher verfolgt. Sein Vater und seine Familie hätten sich versteckt. Wenn sie gefunden würden, würden sie getötet. Ihm drohe dasselbe Schicksal. Er sei vier Tage in Bulgarien in Schubhaft gewesen, dabei seien seine Fingerabdrücke genommen worden. Danach sei er geflüchtet.

Am 28.01.2016 wurde der BF vor dem BFA im Zulassungsverfahren befragt, wobei eine ausdrückliche Befragung zu den Fluchtgründen nicht erfolgte.

Mit Bescheid vom 03.02.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten zurückgewiesen.

Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde durch das Bundesverwaltungsgericht zu W153 2122476 mit Erkenntnis vom 26.04.2016 abgewiesen.

Die Überstellungsfrist mit Bulgarien lief am 03.05.2017 ab. Noch zuvor (etwa im April 2016) begab sich der BF wieder in die Türkei.

Am 08.05.2017 stellte der BF neuerlich vor dem Polizeianhaltezentrum Innsbruck einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte vor, er sei im Sommer 2015 von Syrien legal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in den Irak gereist, wo er sich ca. 16 Tage aufgehalten habe. Von dort sei er in die Türkei geflogen, wo er zwei Jahre gelebt habe. Es sei dann mit einem Pkw per Schlepper nach Österreich gereist, wo ein Asylverfahren negativ abgeschlossen worden sei. Er sei daher wieder in die Türkei gefahren, wo er sich von April 2016 bis August 2017 aufgehalten habe.

Als Fluchtgrund gab der BF an, in Syrien herrsche Krieg und er habe Angst um sein Leben. Auf die Frage, was er bei einer Rückkehr in die Heimat befürchte, gab er an, Angst um sein Leben zu haben.

Im August 2017 langten mehrere Ersuchen des nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreters des BF um dringende Bearbeitung des Asylverfahrens ein. Die Ehefrau des BF, die sich nach wie vor in Qamishli aufhalte, sei bei Kampfhandlungen am Fuß schwer verletzt worden. Sie erhalte in Syrien keine ausreichende medizinische Versorgung. Um der Ehefrau die Gelegenheit einer Familienzusammenführung zu ermöglichen, werde um beschleunigte Bearbeitung ersucht. Vorgelegt wurde ein Foto, das (lediglich) einen eingebundenen und offenbar verletzten Fuß zeigt.

Am 28.08.2018 wurde der BF vom BFA befragt. Betreffend seinen Fluchtgrund gab er an, zwei Monate vor seiner Ausreise seien zwei Polizisten zu ihm nach Hause gekommen und hätten gesagt, er sei beim Militär gewesen und Panzerfahrer gewesen. Sie brauchten ihn nochmals beim Militär. Sie hätten ihm eine Frist von einem Monat gegeben. Er sei nicht gegangen und habe Angst gehabt, dass er entführt werde. Er sei in den Irak gegangen. Er habe nicht kämpfen wollen, niemandem wehtun oder selbst getötet werden wollen. Weiters gab er an, sein Vater sei ein Politiker und von den syrischen Behörden gesucht worden. Alle Söhne seines Vaters seien ebenso verfolgt worden.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag in Bezug auf Asyl abgewiesen (Spruchpunkt I.), subsidiärer Schutz (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30.08.2019 (Spruchpunkt III.) erteilt. Begründend wurde ausgeführt, nicht festgestellt habe werden können, dass der BF im Herkunftsstaat einer staatlichen Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt gewesen sei und dass in seinem Fall eine Zwangsrekrutierung stattgefunden hätte. Ebensowenig habe festgestellt werden können, dass er auf der Flucht vor dem syrischen Militär sei.

Lediglich gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die Beschwerde des BF wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, dem BF den Status des Asylberechtigten zu gewähren. Auf den BF träfen 2 der UNHCR Risikoprofile zu, nämlich tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung zu stehen bzw einer Einberufung ins syrische Militär keine Folge geleistet zu haben.

Am 8.6.2020 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt, in der der BF als Partei vernommen wurde.

Mit Stellungnahme vom 15.6.2020 zum EASO Country Origin Report on Syria führte der BF zusammengefasst aus, dieser bestätige, dass es insbesondere in der Region um Hasaka nach wie vor zu offenen militärischen Schlachten komme und die syrische Armee weiterhin Angriffe gegen zivile Ziele und die Bevölkerung verübe.

Die Beschwerde ist im Ergebnis berechtigt:

Aufgrund des Akteninhalts im Zusammenhang mit den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung steht folgender Sachverhalt fest:

Zur hier relevanten Situation in Syrien:

Politische Lage:

Die syrische Verfassung sieht die Baath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten zur Regierung Assads entwickeln könnten. Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Baath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt. Es gibt weiterhin Landesteile, in denen die syrische Regierung effektiv keine Kontrolle ausübt. Diese werden entweder durch Teile der Opposition, kurdische Einheiten, ausländische Staaten oder auch durch terroristische Gruppierungen kontrolliert.

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte. Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position. Seit der Machtergreifung Assads haben weder Vater noch Sohn politische Opposition geduldet. Jegliche Versuche eine politische Alternative zu schaffen wurden sofort unterbunden, auch mit Gewalt. 2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Assad führten, wodurch dieser für weitere 7 Jahre im Amt bestätigt wurde. Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten. Sie wurde von der EU und den USA als undemokratisch kritisiert, die syrische Opposition sprach von einer „Farce“. Am 13. April 2016 fanden in Syrien Parlamentswahlen statt. Das Parlament wird im Vier-Jahres-Rhythmus gewählt, und so waren dies bereits die zweiten Parlamentswahlen, welche in Kriegszeiten stattfanden.

Die in Syrien regierende Baath-Partei gewann gemeinsam mit ihren Verbündeten unter dem Namen der Koalition der „Nationalen Einheit“ 200 der 250 Parlamentssitze. Die syrische Op-position bezeichnete auch diese Wahl, welche erneut nur in den von der Regierung kontrol-lierten Gebieten stattfand, als „Farce“. Die Vereinten Nationen gaben an, die Wahl nicht an-zuerkennen. Mitte September 2018 wurden in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zum ersten Mal seit 2011 wieder Kommunalwahlen abgehalten. Der Sieg von Assads Baath Partei galt als wenig überraschend. Geflohene und IDPs waren von der Wahl ausgeschlossen.

Mit russischer und iranischer Unterstützung hat die syrische Regierung mittlerweile wieder große Landesteile von bewaffneten oppositionellen Gruppierungen zurückerobert. Trotz der großen Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, weiter fort. Die Provinz Idlib im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei wird derzeit noch von diversen Rebellengruppierungen kontrolliert. Im Norden bzw. Nordosten Syriens gibt es Gebiete, welche unter kurdischer Kontrolle stehen.

Die Partei der Demokratischen Union (PYD) ist die politisch und militärisch stärkste Kraft der syrischen Kurden. Sie gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiter-partei Kurdistans (PKK). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen „Rojava“ bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte. Afrin im Nordwesten Syriens ist territorial nicht mit den beiden anderen Kantonen Jazira und Kobane verbunden und steht seit März 2018 unter türkischer Besatzung.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 4. September 2019, S. 8ff.)

Folter und unmenschliche Behandlung

Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet. Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen werden. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzte Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche De-monstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad künst-lich für Feindschaft und Konkurrenz zwischen ihnen.

Um die Loyalität zu sichern wurde einzelnen Behörden bzw. Beamten die Kontrolle über alle Bereiche des Staatswesens in einem bestimmten Gebiet überlassen, was für diese eine enorme Geldquelle darstellt. NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen. Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung soll hierbei auch auf Personen abzielen, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden. Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungs-feindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren. Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod der Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese Bedingungen waren so durchgängig, dass die UN Commission of Inquiry zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik.

Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Mi-litärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte De-monstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Ein-richtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin tausende Personen ohne An-klage und ohne Kontakt zur Außenwelt fest. Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken. In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen. Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder um sie im Zuge eines „Freilassungsabkommens“ auszutauschen.

Seit Sommer 2018 werden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt - wurde, wenn auch unter Angabe wenig glaubwürdiger amtlich festgestellter natürlicher To-desursachen (Herzinfarkt, etc.).

Berichte von ehemaligen Insassen sowie Menschenrechtsorganisationen benennen als häu-figste Todesursachen Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötung. Die syrische Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien. Mit Stand Dezember 2018 ist der Verbleib von 100.000 syrischen Gefangenen noch immer unbekannt. Laut Menschenrechtsgruppen und den Vereinten Nationen sind wahrscheinlich Tausende, wenn nicht Zehntausende davon um-gekommen. Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von Inhaftierten beschuldigt. Opfer sind vor allem (vermutete) regierungstreue Perso-nen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen.

Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen

Die syrische Regierung hat schon vor dem Ausbruch des aktuellen Konflikts abweichende po-litische Meinungen nicht bzw. nur in sehr begrenztem Umfang geduldet. Auf die im März 2011 aufkommenden Protestbewegungen der Opposition und die sich anschließenden bewaffneten Aufstände reagierte die Regierung Berichten zufolge mit massiver Unterdrückung und Gewalt. Bei der Frage, wo die politische Opposition beginnt, wendet die Regierung laut Berichten sehr weite Kriterien an: Kritik, Widerstand oder schon unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung in jeglicher Form – so auch friedliche Proteste, die organisiert oder spontan im Rahmen einer politischen Partei oder auf individueller Ebene virtuell im Internet oder auf der Straße kundgetan wurden – führten Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen. Es wurde berichtet, dass zahlreiche Mitglieder oppositioneller Parteien, Teilnehmer von Protesten gegen die Regierung, Aktivisten, Wehrdienstentzieher und Deserteure, bestimmte Berufsgruppen (z.B. Journalisten und Bürgerjournalisten, Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, Ärzte, Hochschuldozenten) und andere Personen, denen regierungsfeindliche Haltungen zugeschrieben wurden, durch Vergeltungsmaßnahmen in Form von Reiseverboten, Enteignungen, Zerstörung ihres Privateigentums, Zwangsvertreibungen, willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft, Folter und sonstigen Formen der Misshandlung sowie summarischen und extra-legalen Hinrichtungen bestraft wurden. Die tatsächlich oder vermeintlich oppositionellen Ansichten einer Person werden Berichten zufolge häufig auch Personen in ihrem Umfeld, wie Familienmitgliedern, Nachbarn und Kollegen zugeschrieben. Seit 2011 wird in zahlreichen Berichten von weitverbreiteten und systematischen willkürlichen Festnahmen und dem Verschwindenlassen von Männern und männlichen Jugendlichen berichtet, wovon insbesondere, jedoch nicht ausschließlich, sunnitische Araber aus Gebieten betroffen sind, die derzeit oder früher von oppositionellen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden bzw. wurden. Berichten zufolge werden sie aufgrund ihrer vermeintlichen Teilnahme an Kämpfen gegen die Regierung, ihrer vermeintlichen Unterstützung bewaffneter Gruppen oder ganz allgemein wegen ihrer vermeintlich oppositionellen Ansichten ins Visier genommen. Die Festnahmen beruhen laut Meldungen oft allein darauf, dass ein Mann oder Junge aus einem Gebiet stammt, das mit der Opposition in Verbindung gebracht wird. Die weitverbreiteten Festnahmen finden Berichten zufolge vor allem an Kontrollstellen, bei Razzien in wiedereroberten Gebieten und bei Evakuierungen statt, jedoch auch an öffentlichen Orten (einschließlich Krankenhäusern, Behörden, Flughäfen und Grenzübergängen). Bei Männern, die sich dem Wehrdienst entzogen haben oder desertiert sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Oppositionelle wahrgenommen und verhaftet, zwangsrekrutiert und schwer misshandelt werden. Wie aus Berichten hervorgeht, meiden deshalb syrische Männer im wehrfähigen Alter ? so auch männliche Jugendliche ? Kontrollstellen der Regierung, da sie befürchten, misshandelt und getötet zu werden oder unter Zwang zu verschwinden.

Berichten ist zu entnehmen, dass die Regierung im Allgemeinen weiterhin Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen oder in Gebieten wohnen, in denen es zu Protesten der Bevölkerung kam und/oder in denen bewaffnete oppositionelle Gruppen in Erscheinung treten oder (zu-mindest zeitweise) die Kontrolle übernommen haben, mit der bewaffneten Opposition in Ver-bindung bringt. Dies ist Berichten zufolge Teil einer umfassenden Politik, die Zivilpersonen aufgrund ihrer Verbindungen ins Visier nimmt, wenn sich die Betroffenen in einem Gebiet aufhalten oder aus einem Gebiet stammen, das als regierungsfeindlich angesehen wird und/o-der dem Lager der bewaffneten Opposition zugerechnet wird. Es wurde gemeldet, dass Zivilpersonen in diesen Gebieten zahlreichen Bestrafungen unterzogen wurden. Dies beinhaltet Massenverhaftungen, Folter, sexuelle Gewalt insbesondere der Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe, extra-legale Hinrichtungen durch die Streitkräfte der Regierung und regierungsnahe Gruppen im Rahmen von Bodenoffensiven, Hausdurchsuchungen und an Kontrollstellen sowie umfassenden Artilleriebeschuss und Luftangriffe.

Es wurde gemeldet, dass die Regierung zahlreiche Gebiete, die unter der Kontrolle bewaffneter oppositioneller Gruppen stehen, belagert hat und auf diese Weise Zivilpersonen von der Grundversorgung – z. B. von Lebensmitteln und medizinischer Versorgung – abgeschnitten hat. Personen, die Nahrungsmittel oder andere Grundversorgungsgüter in belagerte Gebiete transportierten oder versuchten, aus einem belagerten Gebiet zu fliehen, wurden Berichten zufolge schikaniert, festgenommen, inhaftiert, gefoltert und getötet. Die Belagerungstaktik der Regierung in Gebieten, die von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrolliert werden, zielt Berichten zufolge darauf ab, die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten zu bestrafen, die Unterstützung der bewaffneten Regierungsgegner in der Bevölkerung zu unterminieren und Zivilisten und Kämpfer zum Aufgeben zu zwingen.

Laut Berichten sind die Regierungstruppen im Rahmen lokaler Waffenstillstandsvereinbarun-gen zunehmend dazu übergegangen, die Zivilbevölkerung aus belagerten, von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten zu evakuieren, nachdem sie diese Gebiete zuvor über lange Zeiträume belagert und bombardiert haben. Im Rahmen von lokalen Waf-fenstillstandsvereinbarungen in Barza, Tishreen, Qabun und den „Vier Städten“ (Madaya und Zabadani in der Provinz Damaskus-Umgebung und Fu’ah und Kefraya in der Provinz Idlib) hat die unabhängige internationale Untersuchungskommission dokumentiert, wie regierungs-nahe Truppen von einzelnen Personen, die sich ergeben hatten, verlangt haben, sich einem Versöhnungsverfahren zu unterziehen und der Regierung Treue zu geloben, damit sie in den betreffenden Gebieten bleiben können, während oppositionelle Einzelpersonen und Kämpfer von diesem Verfahren ausgeschlossen wurden und im Rahmen von organisierten Evakuierun-gen aus den Gebieten deportiert wurden.

Laut der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission werden solche Evakuie-rungen von der Regierung strategisch eingesetzt, um Bevölkerungstransfers auf der Grundlage politischer Loyalitäten zu erzwingen und die (vermeintlichen) Anhänger der Opposition in ein Gebiet im Nordosten des Landes zu verbannen. Die Untersuchungskommission stellt fest, dass die Evakuierungen in einigen Fällen mit Zwangsvertreibungen von Zivilpersonen gleichzusetzen sind. In Gebieten, die die Regierung von bewaffneten oppositionellen Gruppen zurückerobert hat, hat sie Berichten zufolge zahlreiche Personen verhaftet, insbesondere Männer und Jungen über zwölf Jahren, von denen sie vermutete, dass sie die oppositionellen Gruppen unterstützen oder mit ihnen sympathisieren.

(UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. aktualisierte Fassung, Stand: November 2017, Punkt III. A. 1.)

Ethnische und religiöse Minderheiten:

In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss. Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit, was demographische Daten betrifft. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74% der Bevölkerung stellen, wobei diese sich unter anderem aus arabischen, kurdischen, tscherkessischen, tschetschenischen und turkmenischen Bevölkerungsanteilen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und Zwölfer Schiiten machen zusammen 13% aus, die Drusen 3%. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verblei-benden 10%. …

Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt von Seiten der Regierung gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl interkonfessionelle Elemente als auch Elemente ohne interkonfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionellengruppen, welche die Vormachtstellung der Regierung bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeige sie interkonfessionelle Auswirkungen.

So versucht die syrische Regierung konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, in-dem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt, während sie aber gleichzeitig auch radikale sunnitische Gruppen unter-stützt und Religionsgemeinschaften kontrolliert. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Islamisten und haben eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis. Dies gibt dem Vorgehen der Regierung gegen oppositionelle Gruppen auch ein konfessionelles Element. Der Einsatz von schiitischen Kämpfern, z.B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellt die Regierung die bewaffnete Opposition auch als religiös motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang setzt, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen.

Dies führte dazu, dass manche Führer religiöser Minderheitengruppen der Regierung Präsi-dent Assads ihre Unterstützung aussprechen, da sie diese als ihren Beschützer gegen gewalt-tätige sunnitisch-arabische Extremisten sehen. Die Minderheiten sind in ihrer Einstellung der syrischen Regierung gegenüber allerdings gespalten. Auch die Alawiten sind in ihrer Unter-stützung bzw. Ablehnung der syrischen Regierung nicht geeint.

Manche Mitglieder der Minderheiten sehen die Regierung als Beschützer, andere sehen einen Versuch der Regierung, die Minderheiten auszunutzen, um die eigene Legitimität zu stärken, indem zum Beispiel konfessionell motivierte Propaganda verbreitet, und so die Ängste der Minderheiten geschürt werden und deren empfundene Vulnerabilität vertieft wird. So werden Berichten zufolge auch alawitische oppositionelle Aktivisten Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. Alawitische Gemeinden und schiitische Minderheiten werden aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes außerdem zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen. Sunnitische Araber sehen viele der syrischen Christen, Alawiten und schiitischen Muslime aufgrund ihrer fehlenden Unterstützung oder Neutralität gegenüber der syrischen Revolution als mit der syrischen Regierung verbündet an.

In den unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) oder der Gruppierung Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS) stehenden Gebieten wurden Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten sowie auch Sunniten, die gegen deren strikte Auslegung des Islam verstießen, Zielscheibe von Tötung, Entführung, Verhaftung oder Misshandlung.

Christen wurden gezwungen eine Schutzsteuer zu zahlen, zu konvertieren oder liefen Gefahr getötet zu werden.

Wehrdienst:

Die syrischen Streitkräfte – Wehr- und Reservedienst

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von 18 oder 21 Monaten gesetzlich verpflichtend. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert.

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Been-digung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Be-rufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den ak-tiven Dienst einberufen werden. Vor dem Ausbruch des Konflikts bestand der Reservedienst im Allgemeinen nur aus mehreren Wochen oder Monaten Ausbildung zur Auffrischung der Fähigkeiten, und die Regierung berief Reservisten nur selten ein. Seit 2011 hat sich das jedoch geändert. Es liegen außerdem einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird. Männer können ihren Dienst-/Reservedienststatus bei der Militärbehörde überprüfen. Die meisten tun dies jedoch nur auf informellem Weg, um zu vermeiden, sofort rekrutiert zu werden.

Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Mi-litärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit, oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen.

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen. Aktuell ist ein „Herausfiltern“ von Militärdienst-pflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints weit verbreitet. In der Praxis wurde die Altersgrenze erhöht und auch Männer in ihren späten 40ern und frühen 50ern sind gezwungen Wehr-/Reservedienst zu leisten. Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als vom allgemeinen Gesetz. Den Experten zufolge würden jedoch jüngere Männer genauer überwacht, ältere könnten leichter der Rekrutierung entgehen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht. Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis 27 ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden, bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können. Ebenso wurden seit Ausbruch des Konflikts aktive Soldaten auch nach Erfüllung der Wehrpflicht nicht aus dem Wehrdienst entlassen.

Die Militärpolizei verhaftet in Gebieten unter der Kontrolle der Regierung junge Männer, die für den Wehrdienst gesucht werden. Nachdem die meisten fixen Sicherheitsbarrieren inner-halb der Städte aufgelöst wurden, patrouilliert nun die Militärpolizei durch die Straßen. Diese Patrouillen stoppen junge Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und durchsuchen Wohnungen von gesuchten Personen.

Es gab in der Vergangenheit Fälle, in denen Familienmitglieder von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren Vergeltungsmaßnahmen wie Unterdrucksetzung und Inhaftierung ausge-setzt waren. Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder ein Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert, den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden.

Zusatzinformationen zum Reservedienst:

Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges verlor die syrische Armee viele Männer aufgrund von Wehrdienstverweigerung, Desertion, Überlaufen und zahlreichen Todesfällen. Wehrdienst-verweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft, die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz, je nach den Umständen, mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft. Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen, sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab.

Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine straf-rechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.

Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt. Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt. Deserteure werden härter bestraft als Wehrdienstverweigerer. Deserteure riskieren, inhaftiert, gefoltert und getötet zu werden. Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z.B. Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet haben oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben. Seit Ausbruch des Syrienkonflikts werden syrische Armee-angehörige erschossen, gefoltert, geschlagen und inhaftiert, wenn sie Befehle nicht befolgen. In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des Wehrdienstes getroffen. Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt, sondern stattdessen bei der Polizei eingesetzt werden. Berichten zufolge wurden sol-he Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen. Auch in den „versöhnten Gebieten“ sind Männer im entsprechenden Alter also mit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht die Regierungseinheiten unterstützt.

Befreiung und Aufschub:

Der einzige Sohn einer Familie, Studenten oder Regierungsangestellte können vom Wehr-dienst befreit werden oder diesen aufschieben. Auch medizinische Gründe können Befreiung oder Aufschub bedingen. Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen und es ist unklar, wie die ent-sprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden. Es scheint, dass es schwieriger wird, einen Aufschub zu erlangen, je länger der Konflikt andauert. Das Risiko der Willkür ist immer gege-ben. Seit einer Änderung des Gesetzes über den verpflichtenden Wehrdienst im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich, zu-dem kann die Aufschiebung durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden. Unbestä-tigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den Wegfall von Aufschubgründen informiert ist, und diese auch digital überprüft werden. Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden, mittlerweile wird der Status der Studenten jedoch aktiv überprüft. Generell werden Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren. Einem Bericht zufolge gibt es nun in Bezug auf ein Studium als Befreiungsgrund auch Altersgrenzen für den Abschluss des Studiums. Ein weiterer Bericht gibt an, dass gelegentlich Studenten trotz einer Befreiung bei Checkpoints rekrutiert wurden.

Syrische Männer mit Wohnsitz und Aufenthaltserlaubnis im Ausland können sich gegen Zah-lung eines „Wehrersatzgeldes“ vom Wehrdienst befreien lassen. Laut Wehrpflichtgesetz Art. 46 von 2012 beträgt diese Zahlung je nach Wohnort zwischen 4.000 und 5.000 USD. Gemäß Gesetz Nr. 33 vom August 2014 müssen bei einem Auslandsaufenthalt von über vier Jahren 8.000 USD bezahlt werden. Für im Ausland geborene und weiterhin wohnhafte Syrer im wehrpflichtigen Alter beträgt diese Zahlung 2.500 USD. Es ist jedoch nicht bekannt, ob dies auch für syrische Männer gilt, die seit Beginn des Bürgerkriegs ins Ausland geflüchtet sind.

Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt, im Zuge des aktuellen Konfliktes – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden. Christliche und muslimische religiöse Führer können weiterhin vom Militärdienst befreit werden, wobei muslimische Führer dafür eine Abgabe bezahlen müssen. Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern der religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht und die Mitglieder der Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen. Von Staatsangestellten wird erwartet, dass sie dem Staat zur Verfügung stehen. Laut Legislativdekret Nr. 33 von 2014 wird das Dienstverhältnis von Staatsangestellten beendet, wenn sie sich der Einberufung zum Wehr- oder Reservedienst entziehen. Hierzu gab es Ende 2016 ein Dekret, welches jedoch nicht umfassend durchgesetzt wurde. Im November 2017 gab es eine erneute Direktive des Premierministers, der bereits eine nicht bekannte Anzahl von Entlassungen folgte.

Amnestien:

Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerern und Deserteuren eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffrei-heit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. So erließ die syrische Regierung im Oktober 2018 das Präsidialdekret Nr. 18/2018, welches De-serteuren und Wehrdienstverweigerern im In- und Ausland Straffreiheit gewähren soll, aus-genommen „Kriminelle“, sowie Personen, die auf Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben. Deserteure und Wehrdienstverweigerer in Syrien hatten laut Dekret vier Monate Zeit, sich bei den Behörden zu melden, jene im Ausland sechs Monate. Die Wehrpflicht ist jedoch laut Gesetz auch nach Inanspruchnahme der Amnestie noch abzuleisten. Diese Amnestie ist inzwischen ausgelaufen. Eine Verlängerung der Amnestie wurde immer wieder kolportiert, ist aber bisher nicht erfolgt. Zur Amnestie vom 17. Februar 2016 für Deserteure, Wehrdienstverweigerern und Reservisten gibt es keine Informationen darüber, wie viele Personen diese genutzt haben. In manchen Fällen wurden Personen aus der Haft entlassen, wobei die Regierung danach eine erneute Welle von Verhaftungen durchführte. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben diese Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert, sowie als bisher wirkungslos. Die Behörden haben viele Personen, die im Rahmen von früheren Amnestien freigelassen wurden oder Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterzeichnet hatten, später erneut inhaftiert.

Personen, die sich einem Schießbefehl widersetzten, desertierten oder einer geplanten De-sertion verdächtigt wurden, werden in der Regel nicht formell angeklagt. Stattdessen wurden sie entweder zum Zeitpunkt der Desertion umgehend hingerichtet oder willkürlich inhaftiert, in incommunicado Haft genommen, gefoltert und extralegal hingerichtet. Andere wurden nach einer Untersuchung zurück in ihre Einheit geschickt. Regierungskräfte griffen bei Verhaftungskampagnen in Gebieten, in denen ihrer Wahrnehmung nach die Opposition unterstützt wurde, gezielt Angehörige von Deserteuren heraus. Das Eigentum von Deserteuren wurde durch Plünderung und Brandstiftung zerstört. Die tatsächlich oder vermeintlich oppositionellen Ansichten einer Person werden häufig auch Personen in ihrem Umfeld, wie Familienmitgliedern, Nachbarn und Kollegen zugeschrieben.

Die Familienangehörigen (beispielsweise Ehegatten, Kinder, Geschwister, Eltern und auch entferntere Verwandte) von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Protestteilnehmern, Aktivisten, Mitgliedern von Oppositionsparteien oder bewaffneten oppositionellen Gruppen, Überläufern und Wehrdienstentziehern und anderen Personen wurden Berichten zufolge willkürlich verhaftet, in incommunicado Haft genommen, gefoltert und in sonstiger Weise ? einschließlich unter Anwendung sexueller Gewalt – misshandelt sowie auch willkürlich hingerichtet. Verläuft die Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die für einen Regierungsgegner gehalten wird, erfolglos, gehen die Sicherheitskräfte Berichten zufolge dazu über, die Familienangehörigen der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln.

Dies geschieht entweder, um Vergeltung zu üben für die Aktivitäten bzw. den Loyalitätsbruch der gesuchten Person oder um Informationen über ihren Aufenthaltsort zu gewinnen und/o-der mit der Absicht, die betreffende Person dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. die gegen sie erhobenen Anschuldigungen zu gestehen. Wie aus Berichten hervorgeht, wurden weibliche Verwandte verhaftet und als „Tauschobjekte“ für Gefangenenaustausch mit regierungs-feindlichen bewaffneten Gruppen verwendet. Darüber hinaus liegen Berichte vor, dass sogar Nachbarn, Kollegen und Freunde verfolgt wurden.

(UNHCR-Bericht: Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien; Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien – „illegale Ausreise“ aus Syrien und verwandte Themen, Stand: Februar 2017, S. 12f. und S. 22ff.)

Rückkehr:

Im Juli 2018 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,5 Millionen Menschen. Die Zahl der Binnenvertriebenen belief sich im September 2018 auf insgesamt 6,2 Millionen Menschen. 2018 sind insgesamt etwa 1,2 bis 1,4 Millionen IDPs in Syrien zurückgekehrt. Mit März 2019 waren 5.681.093 Personen in den Nachbarländern Syriens und Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert. 2018 sind laut UNHCR insgesamt etwa 56.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt. Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind.

Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar und es herrschen weiterhin Zugangsbeschränkungen und Beschränkungen bei der Datenerhebung für UNHCR. Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig, und über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse.

Das Fehlen von vorhersehbarer und nachhaltiger physischer Sicherheit in Syrien ist der Hauptfaktor, der die Rückkehrvorhaben von Flüchtlingen negativ beeinflusst. Weiters werden das Fehlen einer adäquaten Unterkunft oder Wohnung oder fehlende Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu sichern als wesentliche Hindernisse für die Rückkehr genannt. Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wird der Wunsch nach Familienzusammenführung genannt. Rückkehrüber-legungen von syrischen Männern werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst. Es ist schwierig Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer, oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern. Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sind. Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle wie einem Checkpoint von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Checkpoint-Personals oder praktische Probleme, wie die Namens-gleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter, riskieren.

Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffe der Regierung verbreitet haben sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen, kann den Verdacht des Kontrollpersonals wecken. Es wird regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der Anti-Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird. Diese Berichte erscheinen laut deutschem Auswärtigen Amt glaubwürdig, können im Einzelfall aber nicht verifiziert werden.

Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exilpolitische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten. Es gibt Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in Deutschland lebende Verwandte ausüben. Die syrische Regierung hat Interesse an politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle von exilpolitischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen. Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der Bevölkerung zu institutionalisieren.

Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über alle Personen, die nach Syrien zurück-kehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch wurden Informationen dieser Art be-nutzt, um Personen, die aus jedwedem Grund als Bedrohung für die Regierung gesehen wer-den, zu erpressen oder zu verhaften. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen ge-genüber Personen, die nach Syrien zurückgekehrt waren. Hunderte syrische Flüchtlinge wur-den nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört – inklusive Geflüchteten, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrten, IDPs aus Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, und Personen, die in durch die Regierung wiedereroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung geschlossen haben. Sie wurden gezwungen Aussagen über Familienmitglieder zu machen und in manchen Fällen wurden sie gefoltert. Daten der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass 14% von mehr als 17.000 befragten IDP- und Flüchtlingshaushalten, die im Jahr 2018 zurückgekehrt sind, während ihrer Rückkehr angehalten oder verhaftet wurden, 4% davon für über 24 Stunden. In der Gruppe der (ins Ausland) Geflüchteten wurden 19% verhaftet. Diese Zahlen beziehen sich spezifisch auf den Heimweg und nicht auf die Zeit nach der Rückkehr. Syrische Flüchtlinge benötigen für die Heimreise üblicherweise die Zustimmung der Regierung und die Bereitschaft vollständige Angaben über ihr Verhältnis zur Opposition zu machen. In vielen Fällen hält die Regierung die im Rahmen der „Versöhnungsabkommen“ vereinbarten Garantien nicht ein, und Rückkehrer sind Belästigungen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden oder auch Inhaftierung und Folter ausgesetzt, mit dem Ziel Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten.

Laut UNHCR ist unter den in Syrien herrschenden Bedingungen eine freiwillige Rückkehr in Sicherheit und Würde derzeit nicht möglich und UNHCR fördert oder unterstützt die Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien weiterhin nicht.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 4. September 2019, S. 85 ff.)

Der BF entstammt einer kurdischen Familie in der Provinz Hasaka. Er verbrachte sein Leben bis zu seiner Ausreise aus Syrien im September 2015 – mit Ausnahme der etwa 2-jährigen Zeit seines Wehrdienstes nahe Damaskus - in der türkisch-syrischen Grenzstadt Al Qamishli. Er besuchte neun Jahre lang die Grundschule und erlangte keine Berufsausbildung. Er war unter nicht näher erklärbaren Umständen in Qamishli als Kraftfahrer und Textilhändler am Markt beruflich tätig. Er ist verheiratet mit XXXX , geboren XXXX und Vater der beiden Kinder XXXX (etwa zehn Jahre) und XXXX (etwa sechs Jahre). Die Mutter des BF sowie dessen Familie lebt nach wie vor im Elternhaus in Qamishli. Etwa bis zur Ausreise des BF im September 2015 lebte dort auch der Vater des BF, XXXX .

Nicht festgestellt werden konnte, dass der Vater des BF, XXXX , exponiert politisch tätig war bzw ist und in diesem Zusammenhang seine Familie gefährdet ist. Die Brüder XXXX (geboren XXXX ) und XXXX (geboren XXXX ) stellten bereits 2011 und 2014 in Österreich Asylanträge und sind, sowie die Schwester des BF XXXX , in Österreich aufenthaltsberechtigt. Lediglich der Bruder XXXX (geboren ca. XXXX ) verblieb in Qamishli.

Der BF absolvierte von 2003 bis 2005, somit Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges, seinen Wehrdienst in der syrischen Armee in Quatana, nahe Damaskus. Er war dort als Panzerfahrer eingesetzt und nicht an Kriegshandlungen beteiligt.

Nicht festgestellt werden konnte, dass eine Rekrutierung des BF im Sommer 2015 etwa zwei Monate vor seiner Ausreise derart stattfand, dass zivile Polizisten das Haus des BF in Qamishli aufsuchten und dem Bruder ausrichteten, der BF möge sich binnen Frist bei seiner ehemaligen Einheit melden, um zu kämpfen. Nicht festgestellt werden konnte weiters, dass der BF 2015 Syrien wegen einer möglichen Gefährdung im Zusammenhang mit einer politisch exponierten Stellung seines Vaters verließ.

Im Falle einer Rückkehr besteht für den 35-jährigen BF die Gefahr, (neuerlich) zum Militärdienst einberufen zu werden.

Der BF ist in Österreich unbescholten.

Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zu den biografischen Eckdaten beruhen auf den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben des BF.

Es war zwar glaubwürdig, dass der BF seine militärische Grundausbildung in der Dauer von zwei Jahren 2005 als Panzerfahrer in der Nähe von Damaskus absolviert hat. Seine diesbezüglichen Angaben vor dem BFA sind einerseits konkret und beziehen sich auf einen offenbar in Syrien in Gebrauch stehenden Panzertyp russischen Fabrikats. Auch die diesbezüglichen Angaben im Rahmen der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht waren detailreich und plausibel (Anzahl der Besatzungsmitglieder, deren Aufgaben, Art des Steuerelements).

Demgegenüber waren aber die Angaben des BF im Laufe des Verfahrens hinsichtlich seiner Einberufung so divergent und unkonkret, dass diesbezüglich eine Negativfeststellung zu ergehen hatte:

Erstmals erscheint dieser Fluchtgrund explizit im Rahmen der Befragung vor dem BFA am 28.08.2018, Seite 12: Dort gab der BF an, zwei Monate vor seiner Ausreise seien zwei zivile Polizisten zu ihnen nach Hause gekommen und hätten gesagt, er sei bereits beim Militär gewesen, Panzerfahrer und sie brauchten ihn nochmals beim Militär, er solle kämpfen. Sie hätten ihm einen Monat Frist gegeben. Er sei aus Angst, dass er entführt werde, nicht dorthin gegangen und in den Irak gegangen. Er habe niemanden bekämpfen wollen. In weiterer Folge gab der BF an, nach der Einberufung sei er noch etwa eineinhalb Monate Zuhause gewesen, weil er gedacht habe, dass sie nicht kommen würden. Sie seien aber gekommen, er sei nicht zu Hause gewesen. Über Frage, ob er innerhalb der eineinhalb Monate von den Behörden nochmals aufgesucht worden sei, gab der BF an, sie hätten mit seinem Bruder gesprochen. Sie hätten diesem Bescheid gesagt, dass er zum Militärdienst gehen müsse.

Obwohl es sich hiebei offenbar um den wesentlichen behaupteten Fluchtgrund handelt, ist der Erstbefragung vom 21.09.2015 (erste Einreise nach Österreich) kein Hinweis darauf zu entnehmen. Als Fluchtgrund gibt der BF dort allein an, sein Vater sei politisch aktiv, weshalb die Familie verfolgt werde. Auch der Befragung vom 28.01.2016 (die allerdings den Fluchtgründen nicht gewidmet war) sind keine Hinweise auf eine derartige Problematik zu entnehmen. Auch im Rahmen der zweiten Erstbefragung am 08.05.2017 scheint kein Hinweis auf eine Rekrutierung als Fluchtgrund auf. Der BF verwies lediglich darauf, dass in Syrien Krieg herrsche und er Angst um sein Leben gehabt habe.

Der Beschwerde selbst sind keine näheren Umstände betreffend die behauptete Wehrdienstverweigerung zu entnehmen, lediglich der Umstand, der BF gehöre einer Risikogruppe im Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerung an.

Vor dem Verwaltungsgericht wurde der BF ausführlich zu diesem behaupteten Fluchtgrund befragt. Seine Angaben vor dem Verwaltungsgericht sind so zu verstehen, dass er durch seinen von seiner Einberufung erfahren habe, dieser habe einen Befehl unterschrieben. Der BF selbst habe diesbezüglich nichts Schriftliches erhalten. Er habe eine Stellungsfrist von zwei Wochen erhalten und sei etwa drei Monate danach ausgereist.

Selbst unter Berücksichtigung dessen, dass zwischen der Vernehmung vom 28.08.2018 und der Befragung vom 08.06.2020 beinahe zwei Jahre vergangen sind und der Vorfall selbst fünf Jahre zurückliegen soll, sind die Divergenzen zu groß, um von einer Glaubwürdigkeit auszugehen: Den Angaben vor dem BFA ist insgesamt zu entnehmen, dass es eine Verständigung und einen Durchsetzungsversuch gegeben haben soll (dort Seiten 12 und 14). Vor Gericht ist lediglich von einer Verständigung die Rede. Vor dem BFA gab der BF an, nach zwei Monaten ausgereist zu sein, vor Gericht gab er an, nach drei Monaten ausgereist zu sein. Dass der BF aufgrund der Verständigung bereits zu einem Freund gegangen wäre, ist der Vernehmung vor dem BFA nicht zu entnehmen (BVwG S 7). Über Vorhalt vor Gericht, weshalb der etwa 33-jährige Bruder Brin nicht einberufen worden sei, gab der BF an, über dem Alter von 30 Jahren dürfe man nicht zum Militär bestellt werden. Dies steht im Gegensatz zu den Länderfeststellungen des LIB, wonach Reservisten bis 42 Jahre einberufen werden könnten. Trotz diesbezüglicher Gelegenheit nahm der BF auch weder vor dem BFA noch vor Gericht Bezug auf seine Situation als Familienvater im Zusammenhang mit der neuerlichen Einberufung. Auf Grund all dieser Umstände im Zusammenhalt mit der Tatsache, dass die neuerliche Rekrutierung in beiden Erstbefragungen nicht erwähnt wurde, kommt diesem Vorbringen derartig geringe Glaubwürdigkeit zu, dass diesbezüglich Negativfeststellungen zu treffen waren.

Entsprechendes gilt für die behauptete politische Exponierung des Vaters und die dadurch gegebene Gefährdung des BF:

Eine diesbezügliche Gefährdung behauptete der BF zwar bereits in seiner Erstbefragung am 21.09.2015 ("Mein Vater ist politisch aktiv... Wir werden daher verfolgt. Mein Vater und meine Familie haben sich versteckt."). Vor dem BFA gab er an, sein Vater sei Politiker gewesen und von den syrischen Behörden gesucht worden. Alle seine Söhne seien ebenso verfolgt gewesen. Auf den Widerspruch angesprochen, er solle für das syrische Militär in den Krieg ziehen, auf der anderen Seite sei er wegen seines Vaters verfolgt, gab der BF an, die Geschichte sei schon lange her. Ausdrücklich gab er zuletzt vor dem BFA an, sein Vater sei Parteivorsitzender gewesen, als der BF noch nicht geboren gewesen sei. Auch der Bruder XXXX schilderte sowohl bei der Erstbefragung 2014 als auch vor dem BFA 2014, der Vater sei in der Politik engagiert gewesen. 2014 gab dieser an, sein Vater sei der Vorsitzende dieser kurdischen Partei. Während der BF im Rahmen der Erstbefragung und vor dem BFA angab, sein Vater und seine Familie habe sich versteckt und sei gesucht worden, verneinte er dies vor Gericht ausdrücklich (BVwG Seite 8). Nicht klar ist es, inwiefern der Vater verfolgt worden sein soll, wenn der BF vor Gericht angibt, dieser habe bis zu seiner Ausreise 2015 im elterlichen Haus gewohnt, in dem ja auch der Rekrutierungsversuch erfolgt worden sein soll. Berechtigt ist die Frage, inwiefern einerseits der Vater als exponierte Persönlichkeit Anlass zur Verfolgung der gesamten Familie gegeben haben sollte, andererseits der BF als dessen Sohn aber neuerlich zum Militär rekrutiert worden sein sollte. Da der BF ausdrücklich vor dem BFA seine Angaben, die Vorsitzendeneigenschaft seines Vaters beziehe sich auf einen Zeitraum lediglich vor seiner Geburt, relativierte, insbesondere vor Gericht aber keine Angaben mehr machte, die auf eine aktuelle Verfolgung des Vaters und somit auch von dessen Familienangehörigen schließen ließen (ein Bruder des BF lebte weiter in Qamishli) hat auch betreffend die diesbezügliche Behauptung einer Verfolgung des BF als Sohn eines politischen Vaters eine Negativfeststellung zu ergehen. Der Behauptung in der Beschwerde, der Vater des BF werde von der Regierung gesucht und halte sich versteckt, sind die diesbezüglich entgegenstehen ausdrücklichen Ausführungen des BF entgegenzusetzen. Die Ausführung des BF, sein Vater sei vor dem Regime geflüchtet (BVwG Seite 8) ist gänzlich allgemein gehalten und in keinerlei konkreten Zusammenhang durch den BF dargestellt.

Die Feststellung, ungeachtet nicht festgestellter konkreter Einberufung bestehe die Gefahr einer (neuerlichen) Einberufung zum Reservedienst, beruht auf den Feststellungen zur Situation in Syrien, wonach es realistischerweise auch 2015 bis aktuell zu neuerlichen Rekrutierungen von syrischen Männern kommen kann, die bereits ihren Wehrdienst geleistet haben. Danach verhaftet die Militärpolizei in Gebieten unter der Kontrolle der Regierung junge Männer, die für den Wehrdienst gesucht werden. Dies erfolgt bis zum Erreichen des 42. Lebensjahrs. Nach dem LIB wird auch die Altersgrenze für den Reservedienst insbesondere dann erhöht, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (zum Beispiel Ärzte, Panzerfahrer etc.), was auf den BF hinsichtich seiner militärischen Qualifikation zutrifft und somit die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung tendenziell .

Rechtlich folgt:

Gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Gemäß Abs 2 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Heimatstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

Gemäß Abs 3 ist der Antrag abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht oder ein Asylausschlussgrund gesetzt wurde.

Gemäß § 2 Abs 1 Z 11 und 12 ist Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art 9 Statusrichtlinie, Verfolgungsgrund ein in Art 10 Statusrichtlinie genannter Grund.

Nach Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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