TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/22 W239 2190361-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.06.2020
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Entscheidungsdatum

22.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W239 2190361-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.07.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheids ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 08.03.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 09.03.2016 gab der Beschwerdeführer zu seiner Person an, er sei ledig, stamme aus Kismayo in Somalia, gehöre zur Volksgruppe der Madhibaan und bekenne sich zum Islam sunnitischer Richtung. Seine Eltern, seine Schwester und seine drei Brüder seien alle in Somalia; als letzte Wohnsitzadresse nannte der Beschwerdeführer das Dorf Goob-Weyn in der Provinz Jubada-Hoose (Lower Juba). Im Dezember 2015 habe er seine Heimat verlassen; es folgten genaue Angaben zu seiner Fluchtroute.

Als Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor: „Weil die Terrorgruppe Al Shabaab zu mir kam und mich aufforderte, für sie zu kämpfen. Ich bat sie, mir eine Bedenkzeit zu geben. Sie riefen mich öfter an und kamen auch zu mir nach Hause. Ich war aber nicht zuhause, deshalb sagten sie meinem Vater, wenn ich nicht für sie kämpfe, werden sie mich töten. In Somalia gibt es keine richtige Regierung, welche mich schützen könnte. Deshalb verließ ich Somalia.“ Nachgefragt, ob er weitere Fluchtgründe habe, gab er an: „Ja, ich gehöre auch einem Minderheitenstamm an, welcher von den größeren Stämmen verfolgt wird. Das sind alle meine Fluchtgründe.“ Im Falle einer Rückkehr nach Somalia befürchte er, getötet zu werden.

2. In weiterer Folge fand am 29.01.2018 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt.

Zu Beginn wiederholte der Beschwerdeführer zusammengefasst, dass er aus Goob-Weyn in der Provinz Jubada-Hoose (Lower Juba) stamme, dort von 1999 bis 2007 die Grundschule besucht habe, danach im selben Ort von 2009 bis 2015 auf verschiedenen Baustellen gearbeitet habe und er den Heimatort im Dezember 2015 verlassen habe. Seine Angehörigen seien zuletzt in Somalia wohnhaft gewesen, aber er habe den Kontakt zu ihnen verloren, seit er Somalia verlassen habe. Der Beschwerdeführer gehöre zum Clan der Madhibaan und sei deshalb auch diskriminiert worden. Konkret habe er die Schule zwar besuchen können, habe dort aber keine Prüfungen ablegen können, und er sei von den anderen Schülern immer beschuldigt worden, wenn irgendetwas passiert sei.

Über Aufforderung, seine Fluchtgründe zu schildern, gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei von vier Männern der Terrorgruppe Al Shabaab aufgesucht und aufgefordert worden, sich dieser Gruppe anzuschließen und für diese auch zu kämpfen. Man habe ihn zwangsweise auf eine Farm gebracht, um ihn zu rekrutieren, habe ihn jedoch wieder freigelassen, nachdem er zugesagt habe, als Spion für die Terrorgruppe tätig sein zu können. Man habe ihm gesagt, dass man ihn bei Bedarf zuhause aufsuchen und ihn holen werde. Drei Tage später hätten ihn die Männer der Al Shabaab zuhause aufgesucht. Sie hätten auch seinen Vater sowie seinen Bruder rekrutieren wollen und seien wieder gegangen. Am folgenden Tag habe sich der Beschwerdeführer bei seinem Nachbarn versteckt; einen Tag später seien die Männer der Al Shabaab erneut gekommen und hätten seinen Vater geschlagen. Dieser habe den Beschwerdeführer danach angerufen, ihm von diesem Vorfall berichtet und ihm auch erzählt, dass der Bruder des Beschwerdeführers einen Mann der Volksgruppe der Ogaden getötet habe. Der Vater habe dem Beschwerdeführer gesagt, dass er nicht mehr zurück nach Hause kommen solle; auch der Vater selbst und der Bruder würden das Heimatdorf verlassen. Daraufhin sei der Beschwerdeführer nach Kenia gereist.

Nachgefragt, was die Männer der Al Shabaab von seinem Vater und seinem Bruder gewollt hätten, gab der Beschwerdeführer an, man habe beide rekrutieren wollen. Mehr habe ihm sein Vater nicht erzählt. Nachgefragt, ob ihn folglich sein Vater angerufen habe, nachdem ihn die Männer der Al Shabaab wieder verlassen hätten, erklärte er, nein, sein Vater habe ihn in der Früh angerufen, die Männer der Al Shabaab seien in der folgenden Nacht zu ihm gekommen. Die Männer der Al Shabaab seien zwei Mal bei ihnen zuhause gewesen; beim ersten Mal sei der Beschwerdeführer auch zuhause gewesen.

Nachgefragt, wann sein Bruder den Mann der Ogaden getötet habe, gab er Folgendes an: Am Tag des „ersten“ Vorfalles [Anm.: als ihn die Männer der Al Shabaab zuhause aufgesucht hätten] habe er bei seinem Nachbarn übernachtet; am nächsten Abend habe sein Bruder besagten Mann getötet und nachts seien die Männer der Al Shabaab gekommen. Am darauffolgenden Morgen habe ihn sein Vater angerufen, woraufhin er die Stadt verlassen habe.

Wenn der Beschwerdeführer und der Vater sowie der Bruder nicht mit den Al Shabaab zusammenarbeiten würden, werde man sie umbringen; das habe die Terrorgruppe dem Vater mitgeteilt. Der Beschwerdeführer wisse nicht, was sein Vater darauf geantwortet habe. Er wisse auch nicht, wo sein Vater geschlagen worden sei; der Vater habe ihm nichts erzählt. Der Bruder sei nicht geschlagen worden. Zur Frage, warum sein Vater von der Terrorgruppe nicht mitgenommen worden sei, erklärte der Beschwerdeführer, es würden nur junge Leute mitgenommen. Sein Bruder habe deshalb nicht mitgenommen werden können, weil er zum Zeitpunkt dieses zweiten Vorfalls nicht anwesend gewesen sei. Wo der Bruder gewesen sei, wisse der Beschwerdeführer nicht. Nachgefragt, warum er nicht schon früher das Dorf verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, er habe vorher keine Probleme gehabt. Auch der Vater habe zuvor keine Probleme gehabt. Auch hätten ihn die Männer der Al Shabaab zuvor nie angerufen.

Der Beschwerdeführer habe nach diesen drei Vorfällen gleich das Land verlassen, weil es nicht sicher sei; die Al Shabaab seien überall in Somalia, auch sein Bruder habe Probleme gehabt, weshalb man ihn habe rekrutieren wollen. Die Frage, ob der Vater ihm dies gesagt habe, verneinte der Beschwerdeführer explizit. Nachgefragt, wie er sonst darauf komme, gab er plötzlich an, sein Vater habe es ihm gesagt. Nachgefragt, warum sein Bruder besagten Mann von den Ogaden getötet habe, antwortete er, er wisse nicht, warum.

Nachgefragt, ob er von den Al Shabaab auch aufgefordert worden sei, für diese zu kämpfen, erklärte der Beschwerdeführer, „beides“. „Kämpfen“ und „spionieren“ sei für ihn das Gleiche.

Der Beschwerdeführer werde deshalb in ganz Somalia verfolgt, weil „sie“ ihn suchen und töten wollten. Auch die Familie des von seinem Bruder getöteten Ogaden würde ihn töten wollen, sollte sein Bruder nicht greifbar sein. Weder der Beschwerdeführer noch sein Vater hätten sich an die Polizei oder den Dorfältesten gewandt. Vom Heimatdorf aus gesehen die nächste Polizeidienststelle liege in Kismayo. Nachgefragt, warum er diese nicht aufgesucht habe, stehe doch Kismayo unter staatlichem Schutz, gab der Beschwerdeführer an, er wisse nicht, warum er dies nicht getan habe.

Dem Beschwerdeführer wurde die Möglichkeit eingeräumt, in die vom BFA zur Beurteilung seines Falles herangezogenen allgemeinen Länderfeststellungen samt den darin enthaltenen Quellen Einsicht und gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer verzichtete auf eine vollständige Übersetzung; mit Hilfe des Dolmetschers wurden daher die Feststellungen auszugsweise mit dem Beschwerdeführer erörtert. Danach gab der Beschwerdeführer lediglich an, er wolle nichts über Somalia wissen.

Einer Überprüfung seiner Angaben im Heimatland stimmte der Beschwerdeführer zu. Die Frage, ob ihm im Falle der Rückkehr in die Heimat Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohe, verneinte der Beschwerdeführer explizit. Abschließend wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, Ausführungen hinsichtlich seines Alltags und etwaiger Integrationsbemühungen in Österreich zu tätigen und darzulegen, ob bzw. inwiefern es Gründe gebe, die gegen eine Ausweisung aus Österreich sprächen.

Der Beschwerdeführer legte folgende Unterlagen vor:

-        Bestätigung bzw. Unterstützungserklärung der Grundversorgungseinrichtung vom 25.01.2018

-        Deutschkursbesuchsbestätigung (Maßnahmen zum Spracherwerb im Rahmen der Grundversorgung) vom 15.12.2017

-        Bestätigung der Teilnahme am Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds vom 06.12.2017

3. Mit Bescheid des BFA vom 20.02.2018, zugestellt am 22.02.2018, wurde der Antragdes Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde festgestellt, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen werde (Spruchpunkt IV.) und die Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.), wobei die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine zugleich bevollmächtigte Vertretung am 20.03.2018 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

In der Beschwerde wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer sei somalischer Staatsangehöriger, Angehöriger des Clans der Migdan (Madhibaan) und sunnitischer Muslim; er habe sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen bzw. könne aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung nicht dorthin zurückkehren. Der Beschwerdeführer sei in seinem Heimatland von Männern der Al Shabaab bedroht und aufgefordert worden, mit diesen zu kämpfen. Nur dadurch, dass der Beschwerdeführer ihnen prinzipiell zugesagt habe und noch um eine kurze Bedenkfrist gebeten habe, bis sie ihn abholen würden, habe er entkommen und sich der unmittelbar drohenden Zwangsrekrutierung entziehen können. Als die Männer der Al Shabaab drei Tage später zum Haus des Beschwerdeführers gekommen seien, habe er sich versteckt, um nicht mit den Männern mitgehen zu müssen. Am nächsten Tag seien die Männer wiedergekommen und der Beschwerdeführer habe sich dieses Mal bei seinem Nachbarn versteckt. Die Männer der Al Shabaab hätten dann auch den Bruder des Beschwerdeführers rekrutieren wollen. Da sie die beiden Brüder jedoch nicht gefunden hätten, sei der Vater geschlagen worden. Nach diesem Vorfall habe der Vater den Beschwerdeführer angerufen und ihm gesagt, es sei zu gefährlich für ihn, zurückzukommen. Auch der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers hätten das Land verlassen müssen. Im Falle einer Rückkehr drohe dem Beschwerdeführer nunmehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus diesem Grund Verfolgung durch die landesweit agierenden und stark vernetzten Al Shabaab. Aufgrund seines Auslandsaufenthaltes in Europa und der dort erfolgten Asylantragstellung würde ihm überdies Spionage vorgeworfen werden und ihm deshalb ebenfalls mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch die Al Shabaab drohen. Zudem drohe dem Beschwerdeführer Verfolgung durch den Clan der Ogaden, da sein Bruder einen Angehörigen dieses Clans umgebracht habe und sich diese nun an der Familie des Beschwerdeführers rächen wollten.

Der somalische Staat sei nicht in der Lage bzw. nicht willens, dem Beschwerdeführer Schutz vor genannter Verfolgung zu bieten und sei an dieser Stelle bereits hervorzuheben, dass sich der Machteinfluss der Al Shabaab in den letzten Monaten deutlich verstärkt habe, wie auch durch aktuelle Länderberichte und Judikatur bestätigt werde.

Die belangte Behörde habe den Grundsatz der amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs sowie den in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierten Anforderungen an das Ermittlungsverfahren nicht genügt und das Verfahren dadurch mit Mangelhaftigkeit belastet. Ebenso sei die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung mangelhaft, da sie eine - wie vom Verwaltungsgerichthof in ständiger Rechtsprechung geforderte - ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Koexistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei letzteres eine Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten verlange, unterlassen habe. Die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung sei auch deshalb mangelhaft, weil sie sich fast ausschließlich auf Widersprüche zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme stütze, dies jedoch der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zuwiderlaufe, wonach Asylwerber im Zuge der Erstbefragung gar nicht näher zu ihren Fluchtgründen befragt werden dürften und folglich Asylbehörden nicht berechtigt seien, ihre Entscheidung vorrangig auf Widersprüche im Fluchtvorbringen bei der Erstbefragung und bei der Einvernahme zu stützen. Darüber hinaus müsse auch der psychische und physische Zustand des Asylwerbers während der Erstbefragung berücksichtigt werden.

Die belangte Behörde habe ihre Länderberichte nur sehr selektiv ausgewertet, wenn sie in weiterer Folge verneine, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsland eine Gefahr drohe, und zu dem Ergebnis komme, dass eine Rückkehr daher jedenfalls möglich sei. Zudem habe die belangte Behörde die gebotene Auseinandersetzung mit der Situation des Clanes der Migdan (Madhibaan) sowie der Gefahr der Blutrache unter den Clans unterlassen.

Zusammenfassend wurde dazu vorgebracht, die Angehörigen der Volksgruppe der Migdan (Madhibaan) würden als minderwertig gelten, seien ständiger Diskriminierung ausgesetzt und es sei deren soziale und ökonomische Mobilität überaus eingeschränkt. Als Rückkehrer aus Europa sei der Beschwerdeführer besonders gefährdet, wie auch aus den aktualisierten Länderinformationen des BFA hinsichtlich der hohen, starken Machtposition der Al Shabaab deutlich hervorgehe; die Terrorgruppe verfüge über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk mit Informanten in allen Landesteilen. Rückkehrer in Gebiete der Al Shabaab könnte vorgeworfen werden, als Spione zu dienen, vor allem dann, wenn diese aus dem Westen zurückkehren würden; dieser Personengruppe drohe außerdem Besteuerung und Zwangsrekrutierung.

Die aktuelle Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia sei prekär, weshalb dem Beschwerdeführer jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren sei, wie sich auch in anderen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht bereits gezeigt habe.

Hätte demnach die belangte Behörde die in der Beschwerde angeführten Berichte und Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts berücksichtigt und ihre eigenen Länderberichte nicht selektiv ausgewertet und eine mangelfreie Beweiswürdigung vorgenommen, hätte sie zum Schluss kommen müssen, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers in Einklang mit den aktuellen Länderberichten zu seinem Herkunftsstaat stehe und ihm im Falle einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe. Jedenfalls aber hätte die belangte Behörde aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage zur Feststellung gelangen müssen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK drohe.

Die belangte Behörde habe auch eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorgenommen: Dem Beschwerdeführer sei der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, da ihm im Herkunftsstaat aufgrund der verweigerten Zwangsrekrutierung und der damit einhergehenden oppositionellen Gesinnung Verfolgung durch die Al Shabaab drohe. Auch aufgrund seines Auslandsaufenthaltes in Europa und der dort erfolgten Asylantragstellung werde ihm eine pro-westliche und sohin feindliche politische Gesinnung unterstellt. Aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage sei eine Schutzunfähigkeit des somalischen Staates in Bezug auf den Schutz vor Verfolgungshandlungen nichtstaatlicher Akteure eindeutig zu bejahen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe ebenso wenig.

Für den Fall der Nichtzuerkennung des Asylstatus sei dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen: Aus den in der Beschwerde angeführten Länderberichten und den Aussagen des Beschwerdeführers gehe hervor, dass ihm aufgrund der im Herkunftsstaat gegebenen Umstände unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) drohe, weshalb eine Abschiebung nach Somalia unzulässig sei.

Weiters habe die belangte Behörde die Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG i.V.m. § 9 Abs. 1 BFA-VG unrichtig beurteilt: Die Erlassung einer solchen sei zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele nicht dringend geboten. Der Beschwerdeführer sei strafrechtlich unbescholten und gefährde durch seinen Aufenthalt in Österreich weder die öffentliche Ruhe oder Ordnung, noch die nationale Sicherheit oder das wirtschaftliche Wohl. Der Eingriff in das schützenswerte Privatleben des Beschwerdeführers sei als unverhältnismäßig zu qualifizieren und sohin auf Dauer unzulässig. Der Beschwerdeführer sei im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr um seine Integration bemüht; so besuche er einen Deutschkurs, spreche bereits gut Deutsch und habe auch schon viele Freunde gefunden. Auch ehrenamtlich habe er sich bereits betätigt. Die Rückkehrentscheidung hätte sohin für auf Dauer unzulässig erklärt werden müssen und die Behörde hätte dem Beschwerdeführer daher gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen gehabt.

Abschließend beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, da die belangte Behörde die Erhebung des maßgeblichen Sachverhaltes in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren unterlassen habe und eine mündliche Verhandlung zur ganzheitlichen Würdigung des individuellen Vorbingens des Beschwerdeführers unvermeidlich erscheine.

Der Beschwerde angeschlossen waren (abermals) folgende Unterlagen:

-        Bestätigung bzw. Unterstützungserklärung der Grundversorgungseinrichtung vom 25.01.2018 und vom 19.02.2018

-        Deutschkursbesuchsbestätigung (Maßnahmen zum Spracherwerb im Rahmen der Grundversorgung) vom 17.01.2017, vom 07.07.2017, vom 06.11.2017 und vom 15.12.2017

-        Bestätigung der Teilnahme am Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds vom 06.12.2017

5. Mit Beschwerdevorlage vom 22.03.2018, eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 26.03.2018, wurde die gegenständliche Bescheidbeschwerde samt Verfahrensakt vorgelegt.

6. Am 14.03.2019 langte eine Anfrage der Volksanwaltschaft vom 05.03.2019 hinsichtlich einer Beschwerde über die Verfahrensdauer ein.

7. Am 15.05.2019 bevollmächtigte der Beschwerdeführer den Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ) zur Vertretung im gegenständlichen Beschwerdeverfahren. Gleichzeitig gab die bisher bevollmächtigte Vertretung bekannt, dass sie die vom Beschwerdeführer erteilte Vollmacht zurücklege.

8. Per Fax vom 27.05.2019 wurden zwei ärztliche Entlassungsbriefe eines näher bezeichneten Landeskrankenhauses vom 26.04.2019 sowie vom 10.05.2019 vorgelegt, in denen Lungenerkrankungen diagnostiziert wurden; ersucht wurde um Berücksichtigung im Verfahren.

9. Am 15.07.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, wobei dem Beschwerdeführer zuerst Fragen zu seiner Person und Abstammung und danach zu seiner derzeitigen Situation in Österreich gestellt wurden. Hinsichtlich seiner Clanzugehörigkeit sprach der Beschwerdeführer davon, die Schule wegen des rassistischen Verhaltens seiner Mitschüler abgebrochen zu haben. Außerdem führte er einen Vorfall im August 2012 ins Treffen, bei dem er beleidigt und geschlagen worden sei. Betreffend die etwaige Möglichkeit, im Falle einer Rückkehr wieder bei seiner Familie in Goob-Weyn zu leben, erklärte der Beschwerdeführer zusammengefasst, dass er zurzeit nicht wisse, wo seine Familie sei. Sein Vater sei ein Landwirt gewesen, seine Mutter sei Hausfrau gewesen und die Geschwister hätten nicht gearbeitet. Die Familie habe ein Haus und ein Feld gehabt. Seit „dem Problem“ sei die Familie aber „auseinandergegangen“. Die Familie sei geflüchtet; der ältere Bruder sei alleine geflüchtet.

Anschließend wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, seine Fluchtgründe darzulegen; das Protokoll lautet auszugsweise wie folgt [Tippfehler wurden korrigiert]:

„Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte der Reihe nach abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, aus denen Sie Ihren Herkunftsstaat Somalia verlassen haben. Geben Sie bitte auch an, warum Sie denken, nicht mehr nach Somalia zurückkehren zu können (Fluchtgründe). Versuchen Sie, die Gründe so zu schildern, dass sie für eine außenstehende Person (also für die Richterin) nachvollziehbar sind. Sie haben dafür nun ausreichend Zeit. Ihre freie Erzählung ist für mich sehr wichtig.

BF: Ich war auf dem Weg nach Hause, als vier Männer zu mir gekommen sind. Die Männer haben mich angehalten und aufgefordert, mitzugehen. Dort gab es einen kleinen Weg. Sie haben mich aufgefordert, mitzuarbeiten. Sie wollten, dass ich für sie ein Spion werde. Sie haben mir dann gedroht. Sie sagten mir, dass ich mich als Bauarbeiter im Dorf auskenne. Sie wollten Informationen von mir bekommen. Sie sagten, dass ich eine Minderheit bin, ich muss am Jihad teilnehmen und für die Religion kämpfen. Sie meinten, sie werden wegen dieser Probleme, die wir als Minderheit haben, kämpfen und sie beenden. Ich sagte, dass ich es mir überlegen werde und sie sind dann danach gegangen. Drei Tage später sind sie zu mir am Abend zum Haus gekommen. Sie haben mit meinem Vater gesprochen und sie wollten, dass mein Bruder und ich uns der Gruppe anschließen. Sie sagten meinem Vater, dass seine Kinder bei der Gruppe Mitglieder werden müssen. Sie sagten, sie werden uns töten, wenn wir das nicht tun. Wir müssen bereit sein, wenn sie uns brauchen, müssen wir erreichbar sein. Gleich am nächsten Tag in der Früh habe ich das Haus der Familie verlassen und bin zum Nachbarn gegangen. Am Nachmittag hat mein Bruder einen Ogaden getötet. Am Abend sind Al Shabaab nach Hause gekommen. Sie haben meinen Vater geschlagen. Ich war in dieser Zeit beim Nachbarn. Mein Vater hat mich dann in der Früh am nächsten Tag angerufen. Er erzählte mir, dass mein Bruder am Tag davor, am Nachmittag, einen Mann getötet hat und danach geflüchtet ist. Er sagte auch, dass Al Shabaab am Abend gekommen sind und ihn geschlagen und bedroht haben. Mein Vater sagte mir, dass ich flüchten muss. Al Shabaab sucht nach mir und andererseits hat mein Bruder einen Mann getötet und ist danach geflohen. So wie es in Somalia üblich ist, wenn der Täter nicht gefunden wird, wird der nächste männliche Angehörige gesucht und dafür getötet. Ich hatte das Problem mit Al Shabaab und mich deshalb versteckt. Es ist auch ein weiteres Problem dazugekommen. Unter Mehrheitsclans ist es dort so üblich, wenn jemand einen anderen tötet, wird der Täter getötet oder dieser Vorfall wird mit Geld geschlichtet. Wenn das nicht passiert, wird die nächste männliche Person aus Rache dafür getötet. Aber mit uns ist das anders. Sie akzeptieren keine Schlichtung durch Geld, weil sie meinen, wie konnte einer von uns es überhaupt wagen, jemanden vom Mehrheitsclan zu töten. Sie verachten uns.

R: Haben Sie jetzt alle Fluchtgründe genannt oder möchten Sie noch etwas ergänzen?

BF: Ich habe alles erzählt.

R: Können Sie die Vorfälle, die Sie mir heute geschildert haben, insgesamt zeitlich noch näher einordnen? Wie viel Zeit war da jeweils dazwischen?

BF: Im Dezember 2015.

R: Hat sich das alles binnen weniger Tage abgespielt oder in Wochen oder Monaten?

BF: Innerhalb einer Woche ist das Ganze passiert.

R: Wie oft hatten Sie selbst Kontakt zur Al Shabaab?

BF: Als sie zu mir auf der Straße gekommen sind und als sie zu uns nach Hause gekommen sind.

R: Wie oft sind sie nach Hause gekommen?

BF: Zwei Mal.

R: Wie oft waren Sie dabei?

BF: Ein Mal.

R: Wie viel Zeit war zwischen dem ersten und dem zweiten Besuch zuhause?

BF: Zuerst bin ich auf der Straße angehalten worden und drei Tage später sind sie zu uns nach Hause gekommen.

R wiederholt die Frage.

BF: Das war gleich am nächsten Abend.

R: Zwei Mal, an aufeinander folgenden Tagen, sind die Al Shabaab zu Ihnen nach Hause gekommen, stimmt das?

BF: Ja, richtig.

R: Haben Sie, abgesehen von dem Gespräch auf der Straße und zuhause, nochmals mit der Al Shabaab gesprochen?

BF: Nein.

R: Sind Sie jemals angerufen worden?

BF: Nein.

R: Wurden konkrete Forderungen an Sie gestellt? Was genau hätten Sie tun sollen?

BF: Sie wollten, dass ich ein Spion für sie werde. Sie wollten, dass ich ein Mitglied ihrer Gruppe werde.

R: Hätten Sie auch kämpfen sollen?

BF: Wenn man für sie ein Spion wird, ist man ein Mitglied. Wenn es nötig wird, muss man auch am Kampf teilnehmen. Ein Mitglied ist das Gleiche wie ein Kämpfer, es wird alles von einem verlangt.

R: Sie haben vor dem BFA angegeben, Sie seien von der Al Shabaab zu einer Farm mitgenommen worden. Heute haben Sie das nicht angegeben. Wollen Sie sich dazu äußern?

BF: Dieser Weg ist zwischen zwei Feldern. Das war ein kleiner Weg zwischen zwei Feldern.

R: Gibt es dort eine Farm?

BF: Das ist ein kleiner Weg zwischen zwei Feldern.

R: Wurden Sie jemals irgendwie festgehalten?

BF: Nein. Als sie mich angehalten haben, haben sie mich am Körper festgehalten.

R: Bei der Erstbefragung haben Sie angegeben, Sie hätten für die Al Shabaab kämpfen sollen; vor dem BFA haben Sie ausgesagt, Sie hätten als Spion arbeiten sollen. Für mich sind das zwei unterschiedliche Dinge. Wollen Sie dazu etwas sagen?

BF: Für mich ist es das Gleiche. Wenn man für sie ein Spion oder ein Mitglied wird, wenn der Bedarf besteht, muss man auch für sie kämpfen. Man bekommt auch eine Waffe und es wird befohlen, zu kämpfen.

R: In der Erstbefragung haben Sie angegeben: „Sie riefen mich öfters an und kamen auch zu mir nach Hause.“ Heute und auch beim BFA haben Sie gesagt, dass Sie niemals angerufen worden sind. Wollen Sie dazu noch etwas sagen?

BF: Nein, sie haben mich nicht angerufen. Sie sind ein Mal nach Hause gekommen und ein Mal wurde ich auf der Straße kurz angehalten, auf dem kleinen Weg.

R: Wurden andere Familienmitglieder auch von der Al Shabaab bedroht?

BF: Ja, mein Vater und mein Bruder, als wir im Haus waren.

R: War Ihr Bruder auch dabei?

BF: Ja, das erste Mal war er da.

R: Beim ersten Mal waren Sie, Ihr Vater, Ihr Bruder und die Al Shabaab bei Ihrem Haus, stimmt das?

BF: Ja.

R: Können Sie diese konkrete Situation, den ersten Besuch der Al Shabaab, noch genauer beschreiben?

BF: Sie waren vermummt, es war am Abend, als sie gekommen sind. Sie haben mit meinem Vater gesprochen. Sie sagten, dass seine Kinder am Jihad teilnehmen müssen und sich ihrer Gruppe anschließen müssen, sonst werden sie uns töten.

R: Was hat Ihr Vater daraufhin gesagt?

BF: Er hat nur „Ja“ gesagt. Er hatte Angst und konnte nichts Anderes sagen. Sie sagten uns, wenn wir gebraucht werden, müssen wir erreichbar sein.

R: Wollte die Al Shabaab auch Ihren Vater rekrutieren?

BF: Nein, sie wollten nur meinen Bruder und mich. Al Shabaab rekrutieren meistens die jungen Leute.

R: Sie haben vor dem BFA gesagt, dass Ihr Vater auch rekrutiert werden sollte. Was sagen Sie dazu?

BF: Sie wollten, dass mein Vater uns zu den Al Shabaab schickt, weil er der Vater ist und für uns verantwortlich ist.

R: Warum sind Sie von der Al Shabaab nicht gleich mitgenommen worden?

BF: Al Shabaab sind so, dass sie nicht gleich jemanden mitnehmen, sondern, wenn sie jemanden brauchen, werden sie diesen anrufen. Wenn Bedarf ist, muss man zu ihnen gehen und den Auftrag für sie erfüllen.

R: Nach diesem Gespräch zuhause, wie sind Sie verblieben? Wurden Nummern ausgetauscht? Wie soll ich mir das vorstellen?

BF: Sie sagten, wir müssen erreichbar sein, im Haus auffindbar sein oder in der Stadt Goob-Weyn sein. Sie haben die Info über die Stadt gehabt.

R: Bei dem ersten Gespräch auf der Straße, wie sind Sie damals mit der Al Shabaab verblieben?

BF: Sie sagten mir, dass ich ihrer Gruppe beitreten muss, und ich sagte, dass ich es mir überlegen werde.

R: Verstehe ich das richtig, dass die Al Shabaab Sie als Mitglied wollte und Sie gesagt haben, Sie denken noch darüber nach, und dann sind alle wieder friedlich auseinandergegangen?

BF: Sie sagten, dass ich erreichbar sein muss, wenn Bedarf besteht.

R: Ab welchem Zeitpunkt haben Sie sich über diese Situation Sorgen gemacht?

BF: Als sie das erste Mal zu uns nach Hause gekommen sind und uns bedroht haben. Sie haben gesagt, sie werden uns töten, wenn wir nicht Mitglieder bei ihnen werden.

R: Von der Stimmung des Gesprächs her, würden Sie sagen, dass das Gespräch auf der Straße anders war als das Gespräch zuhause?

BF: Auch auf der Straße war das so eine Art der Bedrohung, aber zuhause war es schlimmer.

R: Sie haben erwähnt, dass Ihr Bruder einen Mann des Stamms der Ogaden getötet hat; was konkret wissen Sie darüber?

BF: Ich weiß nicht viel über diesen Vorfall. Mein Vater hat mich angerufen und erzählt, dass mein Bruder jemanden getötet hat und geflüchtet ist. Wenn er nicht gefunden wird, wird ein Angehöriger des Getöteten nach mir suchen und mich töten. Ich solle flüchten.

R: Hat Ihr Bruder auch ein Handy gehabt?

BF: Nein.

R: Woher weiß Ihr Vater von diesem Mord?

BF: Ich weiß es eigentlich nicht, aber unser Ort ist ein kleines Dorf. Wenn etwas passiert ist, erfährt man es gleich und es wird schnell verbreitet.

R: War der Mord in Ihrem Dorf Goob-Weyn?

BF: Ja.

R: Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Bruder?

BF: Ja, früher schon.

R: Haben Sie nicht versucht, Ihren Bruder zu kontaktieren, um von ihm Informationen zu bekommen?

BF: Ich habe daran gedacht, aber ich wusste nicht, wie ich das tun soll. Ich habe seine Kontaktdaten nicht und sein Aufenthaltsort ist mir nicht bekannt. Man kann jemanden kontaktieren, wenn man weiß, wo er sich befindet.

R: Es erscheint mir nicht sehr naheliegend, dass ein Familienmitglied einfach so verschwindet und niemand etwas über seinen Aufenthaltsort weiß. Das erscheint mir nicht plausibel.

BF: Ich habe doch daran gedacht, aber ich wusste nicht, wie ich anfangen soll. Ich wusste nicht, wie ich das tun soll, meinen Bruder zu finden.

R: In der Erstbefragung war von einem Ogaden-Mord keine Rede. Wollen Sie dazu etwas sagen?

BF: Als ich damals den Asylantrag gestellt habe, wurde ich hingesetzt und nach meinen Fluchtgründen befragt. Ich sagte, dass ich mehrere Fluchtgründe habe, und man sagte mir, dass ich einen Punkt erzählen soll, und dass ich später die Gelegenheit bekomme, mehr zu erzählen. Deshalb habe ich nur über eine Sache erzählt.

R: Können Sie sich vorstellen, warum Ihr Bruder jemanden umbringt? Gab es eine Feindschaft davor? Warum sollte es überhaupt zu so einem Vorfall kommen?

BF: Er hatte keine Feindschaft, ich glaube, er hat sich gewehrt und wollte sich selbst verteidigen.

R: Gab es viele Ogaden in Ihrem Dorf Goob-Weyn?

BF: Es gibt schon welche, aber nicht viele. In Kismayo gibt es mehr. Die Ogaden leben in Kismayo.

R: Sie haben gesagt, Sie hätten sich bei einem Nachbarn versteckt. Wie lange waren Sie dort? Zu welcher Tages- bzw. Uhrzeit sind Sie dort angekommen und wann sind Sie wieder abgereist?

BF: In der Früh habe ich das Haus verlassen und bin gleich dort angekommen. Einen Tag und eine Nacht habe ich dort verbracht und gleich am nächsten Tag bin ich weggegangen.

R: Was haben Sie während der Zeit bei Ihrem Nachbarn dort gemacht?

BF: Ich war nur im Haus, ich habe nichts gemacht.

R: Haben Sie irgendetwas vorbereitet?

BF: Ich wollte flüchten, ich wusste, dass Al Shabaab zu uns kommen werden.

R: Deswegen nochmal meine Frage: Was haben Sie diesen Tag bei Ihrem Nachbarn gemacht?

BF: Ich habe an eine Flucht gedacht. Ich habe dann meine Sache vorbereitet, ich wollte flüchten.

R: Was meinen Sie mit „Ich habe meine Sache vorbereitet.“?

BF: Eine Tasche mit meiner Kleidung habe ich vorbereitet.

R: Wo wollten Sie hin?

BF: Ich wollte Richtung Kenia gehen.

R: Wie weit war dieser Nachbar entfernt von Ihrem eigenen Elternhaus?

BF: Es lagen fünf Häuser zwischen dem Elternhaus und dem Haus des Nachbarn.

R: Wann konkret haben Sie den Entschluss gefasst, Somalia zu verlassen?

BF: Am 10. Dezember 2015.

R: Wann haben Sie Somalia tatsächlich verlassen?

BF: Am selben Tag habe ich Goob-Weyn verlassen. Dann war ich in Dhoobley und bin weiter nach Kenia gereist.

R: Wie haben Sie Ihre Ausreise organisiert und finanziert?

BF: Ich bin einfach gegangen. Dort gibt es Autos, die Gemüse transportieren. Ich bin mit einem LKW mitgefahren. Mein Onkel hat mir in Nairobi geholfen. Mein Onkel hat das Geld bezahlt.

R: Wie haben Sie Ihren Onkel kontaktiert?

BF: Telefonisch, ich hatte Kontakt zu ihm, als ich in meinem Heimatland war.

R: Haben Sie mit Ihrem Onkel über Ihre Ausreise gesprochen, als Sie noch in Somalia waren oder als Sie bereits in Kenia waren?

BF: Erst in Kenia hat er mir geholfen. Davor habe ich die Reise selbst organisiert. Ich habe ihn davor normal kontaktiert, aber wegen der Reise erst in Kenia.

R: Wann haben Sie Ihren Vater zuletzt gesehen?

BF: In der Früh, am Tag, als ich das Haus der Eltern verlassen habe und zum Haus des Nachbarn gegangen bin.

R: Haben Sie sich verabschiedet? War da schon klar, dass Sie das Land verlassen werden?

BF: Nein, ich habe mich nicht von ihm verabschiedet. Wir haben am Abend darüber gesprochen und er sagte, dass er eine Lösung finden wird. In der Früh haben wir uns dann zuletzt gesehen. Am Nachmittag habe ich mit ihm telefoniert und ihm erzählt, dass ich beim Nachbarn bin.

R: Sie geben an, dass Sie am Abend mit Ihrem Vater gesprochen haben und er nach einer Lösung finden würde. Von welchem Abend sprechen wir?

BF: Am Abend, nachdem die Al Shabaab gegangen sind. Gleich, nachdem Al Shabaab gegangen sind. Am nächsten Tag habe ich das Haus verlassen.

R: Welche Lösung könnte Ihr Vater gemeint haben?

BF: Ich glaube, er meinte „flüchten“. Es gibt keine andere Möglichkeit als zu flüchten. Sich vor Al Shabaab zu verstecken, ist nicht möglich.

R: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat Somalia zurückkehren müssten?

BF: Die Al Shabaab ist noch immer dort, sie werden mich töten. Die Angehörigen des Opfers, den mein Bruder getötet hat, sind auch dort. Sie suchen auch nach mir.

R: Wissen Sie darüber Bescheid, ob bzw. inwiefern Ihr Heimatort derzeit von Dürre oder Flut betroffen ist?

BF: Er war betroffen, aber nicht so schwer. Von der Dürre war er nicht so betroffen, aber von der Flut schon, weil es dort einen Fluss gibt.

R: Woher haben Sie diese Informationen?

BF: Ich meine damit damals, als ich noch dort war. Jetzt weiß ich es nicht.“

Im Zuge der Verhandlung wurden folgende Dokumente vorgelegt:

-        ambulanter Arztbrief eines Landeskrankenhauses vom 08.06.2019

-        Bestätigung über die Teilnahme an einem „Jugendcollege“ vom 25.06.2019

10. Mit Parteiengehör vom 04.12.2019 wurden dem Beschwerdeführer seitens des Bundesverwaltungsgerichts folgende Unterlagen übermittelt und ihm Gelegenheit gegeben, schriftlich binnen zwei Wochen dazu Stellung zu nehmen.

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia (Stand: 17.09.2019)

-        FSNAU Food Security & Nutrition, Quarterly Brief, 29.04.2019

-        FSNAU Somalia Food Security Outlook, June 2019 to January 2020

-        OCHA, Humanitarian Bulletin, Somalia, 01.08.-31.08.2019

Gleichzeitig wurde er ersucht, allfällige Neuerungen in Bezug auf seine Integrationsbemühungen in Österreich bekanntzugeben bzw. entsprechende Beweismittel/Unterlagen dazu vorzulegen. Von diesen Möglichkeiten machte der Beschwerdeführer keinen Gebrauch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, wurde im Dorf Goob-Weyn in der Provinz Jubada-Hoose (Lower Juba) in Somalia geboren und lebte dort bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern. Sein Vater ist Landwirt und war für die Versorgung der Familie zuständig, seine Mutter ist Hausfrau, die Geschwister waren zuletzt nicht berufstätig; die Familie besitzt ein Haus und ein Feld in Goob-Weyn.

Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos, gehört der Volksgruppe bzw. dem Clan der Madhibaan (Migdan) an und bekennt sich zum Islam sunnitischer Richtung. Er besuchte in Goob-Weyn acht Jahre lang die Grundschule und bestritt dort danach seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten in der Baubranche.

Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsstaat im Dezember 2015 und reiste spätestens am 08.03.2016 ins Bundesgebiet ein. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr läuft, in seinem Herkunftsstaat von der Al Shabaab aufgrund seiner politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Mitteleuropa nach Somalia zurückgekehrten Personen verfolgt zu werden. Ebenso wenig läuft er Gefahr, aufgrund eines angeblich von seinem Bruder an einem Mann der Ogaden verübten Mordes persönlich verfolgt zu werden. Auch aufgrund seiner Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit droht ihm keine Verfolgungsgefahr.

Ob der Beschwerdeführer noch Kontakt zu seinen Angehörigen in Goob-Weyn hat, kann nicht festgestellt werden. Eine finanzielle Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine Angehörigen ist bei einer Rückkehr nach Somalia nicht zu erwarten. Bei einer Rückkehr nach Somalia und einer Ansiedlung außerhalb seines Heimatortes, beispielsweise in der Stadt Mogadishu, läuft der Beschwerdeführer Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Lage in Somalia stützen sich (auszugsweise) auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung: 17.09.2019):

„(…)

2. Politische Lage

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 4.3.2019, S.5), aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (NLMBZ 3.2019, S.7). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2018, S.4).

Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2018, S.5). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten (AA 5.3.2019b). Das Land hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs.78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Der Aufbau von Strukturen auf Bezirksebene geht hingegen nur langsam voran (UNSC 15.5.2019, Abs.50).

Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 4.3.2019, S.4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 5.6.2019b, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2018, S.33).

Die Herausforderungen sind dabei außergewöhnlich groß, staatliche Institutionen müssen von Grund auf neu errichtet werden. Zusätzlich wird der Wiederaufbau durch die Rebellion von al Shabaab, durch wiederkehrende Dürren und humanitäre Katastrophen gehemmt. Außerdem sind Teile der staatlichen Elite mehr mit der Verteilung von Macht und Geld beschäftigt, als mit dem Aufbau staatlicher Institutionen (BS 2018, S.33). In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen „indirekten Staat“, in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (BS 2018, S.23). Zudem ist die Bundesregierung finanziell von Katar abhängig, das regelmäßig außerhalb des regulären Budgets Geldmittel zur Verfügung stellt (SEMG 9.11.2018, S.30).

Somalia ist keine Wahldemokratie, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2018, S.13f). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 13.3.2019, S.23; vgl. FH 5.6.2019b, A1) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 4.3.2019, S.5f). Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 geplant (AA 5.3.2019b). Angesichts der bestehenden Probleme bleibt aber abzuwarten, ob diese Wahlen wirklich stattfinden werden (NLMBZ 3.2019, S.9). Bei den Vorbereitungen dafür wurden bisher nur wenige Fortschritte gemacht (FH 5.6.2019b, A3).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 13.3.2019, S.23), und es gibt diesbezüglich Konflikte mit den Bundesstaaten (NLMBZ 3.2019, S.7).

Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Ende 2016 / Anfang 2017 besetzt (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt. Zuvor waren Abgeordnete unmittelbar durch einzelne Clanälteste bestimmt worden (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b). Das Unterhaus wurde nach Clan-Zugehörigkeit besetzt, das Oberhaus nach Zugehörigkeit zu Bundesstaaten. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2018, S.14/19). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2018, S.22). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b; BS 2018, S.22).

Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 13.3.2019, S.26; vgl. BS 2018, S.13f). Die 4.5-Formel hat zwar politischen Fortschritt gewährleistet, ist aber zugleich Ursprung von Ressentiments (SRSG 13.9.2018, S.2).

Die Präsidentschaftswahl fand am 8.2.2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed „Farmaajo“ zum Präsidenten (AA 4.3.2019, S.6; vgl. BS 2018, S.14; USDOS 13.3.2019, S.1). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1). Im März 2017 bestätigte das Parlament Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 5.3.2019b; vgl. BS 2018, S.14). Die aktuelle Regierung agiert wie eine Regierung der nationalen Einheit. Sie wurde so zusammengesetzt, dass alle relevanten Clans und Gruppen sich in ihr wiederfinden (AA 4.3.2019, S.10).

Gemäß einer Quelle üben aber salafistische Netzwerke zunehmend Einfluss auf die Regierung aus (NLMBZ, S.8f). Nach anderen Angaben kann von Salafismus keine Rede sein, vielmehr sind der Präsident und seine Entourage Moslembrüder bzw. deren Ideologie sehr nahestehend (ME 27.6.2019). Wieder eine andere Quelle berichtet, dass die politische Basis des Präsidenten eine nationalistische ist (ICG 12.7.2019, S.10). Gleichzeitig unterwandert al Shabaab das System, indem sie Wahldelegierte zur Kooperation zwingt (Mohamed 17.8.2019).

Das Konzept einer politischen Opposition ist nur schwach ausgeprägt, die Regeln der Politik sind abgestumpft. Misstrauensanträge, Amtsenthebungsverfahren und Wahlen werden zur Bereicherung und zum politischen Machtausbau missbraucht (SRSG 13.9.2018, S.4). Generell sind die Beziehungen zwischen Bundesregierung und Parlament problematisch. Außerdem kam es 2018 zu einer großen Zahl an Personaländerungen, so wurde etwa der Bürgermeister von Mogadischu, zahlreiche Minister und der Chief Justice ersetzt (NLMBZ, S.8f).

Gegen Ende 2018 war vom Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Farmaajo eingeleitet worden. Dieses Verfahren wurde jedoch Mitte Dezember 2018 aus formalen Gründen für ungültig erklärt bzw. zurückgezogen (VOA 20.12.2018; vgl. FH 5.6.2019b, A1; UNSC 15.5.2019, Abs.3). Auch zwischen Ober- und Unterhaus ist es zu politischen Auseinandersetzungen gekommen (AMISOM 15.1.2019a; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.3). Diese wurden im Juli 2019 vorläufig beigelegt (UNSC 15.8.2019, Abs.3).

Ein nationaler Versöhnungsprozess ist in Gang gesetzt worden. Dieser wird international unterstützt (UNSC 21.12.2018, S.6).

Föderalisierung: Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet (AA 5.3.2019b; vgl. USDOS 13.3.2019, S.1; BS 2018, S.4f/12). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 5.3.2019b; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.22). Mit der Gründung der Bundesstaaten und einem relativ demokratisch erfolgten Machtwechsel konnten wichtige Weichen in Richtung Demokratisierung, legitimer Staatsgewalt und Föderalismus gestellt werden (AA 4.3.2019, S.4). Beim Prozess der Föderalisierung gab es in den letzten Jahren signifikante Fortschritte (BS 2018, S.3). Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (USDOS 13.3.2019, S.1; vgl. BS 2018, S.15).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S.55f).

Wichtige Detailfragen zur föderalen Staatsordnung sind weiterhin ungeklärt, z.B. die Einnahmenverteilung zwischen Bund und Bundesstaaten; die jeweiligen Zuständigkeiten im Sicherheitsbereich; oder die Umsetzung der für 2020 geplanten Wahlen (AA 5.3.2019b; vgl. NLMBZ 3.2019, S.7) – und die gesamte Frage der Machtverteilung zwischen Bund und Bundesstaaten (UNSC 15.5.2019, Abs.25; vgl. UNSC 21.12.2018, S.5).

Die Bundesregierung tut sich schwer, in den Bundesstaaten Macht und Einfluss geltend zu machen (NLMBZ 3.2019, S.7). Außerdem kommt es in den Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten immer wieder zu (politischen) Spannungen (AA 5.3.2019b; vgl. NLMBZ 3.2019, S.7), die manchmal auch in Gewalt eskalierten (BS 2018, S.4).

Zusätzlich haben die Bundesstaaten abseits des Nationalen Sicherheitsrates 2017 einen Kooperationsrat der Bundesstaaten (CIC) geschaffen, welcher unter Ausschluss der Bundesregierung arbeitet (SEMG 9.11.2018, S.5; vgl. AA 5.3.2019b). Während andere Mitglieder des CIC den Dialog mit der Bundesregierung verweigerten (AMISOM 12.10.2018), hat der Präsident von HirShabelle, Mohamed Abdi Waare, diesen zwischenzeitlich gesucht (AMISOM 12.10.2018; vgl. UNSC 21.12.2018, S.1). Der CIC hat bereits zweimal die Kooperation mit der Bundesregierung suspendiert (SEMG 9.11.2018, S.31f), so etwa im September 2018. Im Oktober 2018 haben alle Bundesstaaten außer HirShabelle angekündigt, gemeinsame Sicherheitskräfte aufzustellen (UNSC 21.12.2018, S.1). Generell herrscht zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten ein besorgniserregendes Maß an Misstrauen (SRSG 13.9.2018, S.3). Dadurch wird auch die Lösung von Schlüsselfragen zu Politik und Sicherheit behindert (UNSC 15.5.2019, Abs.2; vgl. SRSG 3.1.2019, S.2).

Bei dieser Auseinandersetzung kommt u.a. die Krise am Golf zu tragen: In Somalia wird eine Art Stellvertreterkrieg ausgetragen, bei welchem die unterschiedlichen Interessen und Einflüsse speziell von Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) eine Rolle spielen. Dies hat die schon bestehenden Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten weiter verschärft, erstere ist in zunehmende Isolation geraten (SEMG 9.11.2018, S.4/30; vgl. ICG 12.7.2019, S.9; FH 5.6.2019b, C1). Diese Entwicklung hat zur Destabilisierung Somalias beigetragen (NLMBZ 3.2019, S.10). Allerdings gibt es zumindest Anzeichen für eine Verbesserung der Situation (UNSC 15.5.2019, Abs.80). So hat sich Präsident Farmaajo für die Verschlechterung der Beziehungen zu den Bundesstaaten öffentlich entschuldigt (ICG 12.7.2019, S.9). Die Bundesregierung versucht insbesondere HirShabelle und Galmudug in ihr Lager zu ziehen (BMLV 3.9.2019). Trotzdem bleiben die Spannungen bestehen (UNSC 15.8.2019, Abs.2).

1) Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba): Jubaland wurde im Jahr 2013 gebildet, damals wurde auch Ahmed Mohamed Islam „Madobe“ zum Präsidenten gewählt (USDOS 13.3.2019, S.24). Bis Anfang August hatten sich für die Neuwahl des Präsidenten neun Kandidaten registrieren lassen (UNSC 15.8.2019, Abs.6). Am 22.8.2019 wurde dann Ahmed Madobe als Präsident bestätigt. Die Wahl war allerdings umstritten: Da die Bundesregierung mehr Kontrolle gewinnen möchte, hat sie erklärt, die Wahl nicht anzuerkennen und den Wahlkandidaten der Opposition, Abdirashif Mohamad Hidig, zu unterstützen (BAMF 26.8.2019, S.6). Der Verwaltung von Jubaland ist es gelungen, zumindest in Kismayo eine Verwaltung zu etablieren. Dadurch, dass die Ogadeni auch mit anderen Clans kooperieren und diese in Strukturen einbinden, wurde die Machtbalance verbessert (BFA 8.2017, S.57ff). Diese Inkorporation funktioniert auch weiterhin, die Verwaltung in Kismayo hat sich weiter gefestigt. Außerdem konnten durch die Kooperation mit Teilen der Marehan auch die nicht der al Shabaab zuneigenden Gebiete von Gedo gefestigt werden (ME 27.6.2019).

2) South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle): Der SWS wurde in den Jahren 2014/2015 etabliert, Sharif Hassan Sheikh Adam zum ersten Präsidenten gewählt (USDOS 13.3.2019, S.24). Im Dezember 2018 wurde im SWS neu gewählt (AA 5.3.2019b). In der Folge ist im Jänner 2019 mit Abdulaziz Hassan Mohamed „Lafta Gareen“ ein neuer Präsident angelobt worden (AMISOM 17.1.2019a; vgl. UNSC 27.12.2018; UNSC 15.5.2019, Abs.4). Zuvor war es zu Anschuldigungen gegen die Bundesregierung gekommen, sich in den Wahlkampf eingemischt zu haben. Ein Kandidat – der ehemalige stv. Kommandant der al Shabaab, Mukhtar Robow – war verhaftet worden, was zu gewaltsamen Demonstrationen geführt hat (SRSG 3.1.2019, S.2f; vgl. UNSC 21.12.2018, S.2). Beim Aufbau der Verwaltung konnten Fortschritte erzielt werden (BMLV 3.9.2019).

3) HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle): HirShabelle wurde 2016 etabliert. Zum Präsidenten wurde Ali Abdullahi Osoble gewählt. Anführer der Hawadle hatten eine Teilnahme verweigert (USDOS 13.3.2019, S.24f). Im Oktober 2017 wurde Mohamed Abdi Waare zum neuen Präsidenten, nachdem sein Vorgänger des Amtes enthoben worden war (UNSOM, 24.10.2017). Nach politischen Spannungen haben sich die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative verbessert (UNSC 15.5.2019, Abs.8). Die im Zuge der Bildung des Bundesstaates neu aufgeflammten Clankonflikte sind gegenwärtig weitgehend abgeflaut (ME 27.6.2019). Dazu beigetragen haben Bemühungen des Premierministers und Katars, wobei letzteres Investitionen in Aussicht gestellt hat. Man ist auf die Hawadle zugegangen. Die Clans – v.a. in Middle Shabelle – haben daraufhin ihre Proteste gegen die Regionalverwaltung reduziert. Unklar ist, ob diese neue Haltung Bestand haben wird. In Belet Weyne hingegen treffen Vertreter von HirShabelle nach wie vor auf unverminderte Ablehnung (BMLV 3.9.2019). Sowohl in den von HirShabelle in Middle Shabelle kontrollierten Gebieten wie auch in Belet Weyne ist eine Verbesserung der Verwaltung zu verzeichnen (BMLV 3.9.2019).

4) Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug): Im Jahr 2015 wurde die Regionalversammlung von Galmudug vereidigt. Sie wählte Abdikarim Hussein Guled zum ersten Präsidenten. Dieser trat im Feber 2017 zurück. Unter dem neuen Präsidenten Ahmed Duale Gelle „Haaf“ wurden Friedensgespräche mit der Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) initiiert. Die Gruppe kontrolliert Teile von Galgaduud (USDOS 13.3.2019, S.24). Ende 2017 wurde mit der ASWJ ein Abkommen zur Machtteilung abgeschlossen (UNSC 15.5.2019, Abs.7; vgl. AMISOM 5.7.2019). Ab September 2018 wuchsen die politischen Spannungen. Im Oktober 2018 wurde in Cadaado ein Gegenpräsident gewählt, während Ahmed „Haaf“ weiterhin von Dhusamareb aus regiert (UNSC 21.12.2018, S.2). In der Folge kam es zu Diskussionen und Spannungen über das Datum der nächsten Wahlen. Im März 2019 hat die NISA sogar die Kontrolle über das Gelände des Präsidentensitzes übernommen (UNSC 15.5.2019, Abs.7). Während Haaf das Abkommen mit der ASWJ für nichtig erklärt hat, hat diese mit der Bundesregierung eine Einigung erzielt (UNSC 15.8.2019, Abs.5). Galmudug wird von Hawiye/Habr Gedir/Sa'ad dominiert (EASO 2.2016, S.17).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (Deutschland) (4.3.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia

-        AA - Auswärtiges Amt (Deutschland) (5.3.2019b): Somalia – Innenpolitik, URL, Zugriff 10.4.2019

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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