Entscheidungsdatum
29.06.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W239 2185222-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.12.2019 und am 10.01.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheids ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte als unbegleiteter Minderjähriger im österreichischen Bundesgebiet am 22.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.07.2015 gab der Beschwerdeführer zu seiner Person an, er sei minderjährig, ledig, stamme aus Mogadishu in Somalia, gehöre zur Volksgruppe der Sheikhal (Stamm: XXXX ; Clan: Looboge) und bekenne sich zum Islam sunnitischer Richtung. Im Jahr 2009 habe er mit seiner Familie, nämlich seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seinen zwei Schwestern, seine Heimat verlassen und sei im Familienverband nach Äthiopien gereist. Dort seien sie in einem Flüchtlingslager untergebracht gewesen, bis er im Mai 2015 Äthiopien in Richtung Europa verlassen habe; es folgten genaue Angaben zu seiner Fluchtroute. Die Ausreise von Äthiopien nach Europa sei von seinen Eltern finanziert worden.
Als Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor: „Ich habe Somalia als Kind verlassen. Äthiopien verließ ich, weil ich als Kind immer diskriminiert wurde und ich keine Zukunft in Äthiopien habe. Sonst habe ich keinen Fluchtgrund.“
Mit Beschluss des zuständigen Pflegschaftsgerichts vom 18.12.2015 wurde die Obsorge für den damals minderjährigen Beschwerdeführer auf den Jugendwohlfahrtsträger übertragen.
2. In weiterer Folge fand am 30.10.2017 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt.
Zu Beginn wiederholte der Beschwerdeführer zusammengefasst, dass er aus Mogadishu stamme, der Volksgruppe der Sheikhal (Stamm: XXXX ; Clan: Looboge) angehöre und in Somalia drei Jahre in die Schule gegangen sei. Im Dezember 2009 sei er mit der Familie von Somalia nach Äthiopien gereist, wo er bis Mai 2015 geblieben sei. In Äthiopien sei er nicht in der Schule gewesen, sondern habe als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. In Österreich habe er nunmehr seinen Pflichtschulabschluss gemacht. Wo sich seine Eltern und Geschwister derzeit aufhalten würden, wisse der Beschwerdeführer nicht. Der Vater habe in Äthiopien ebenfalls als Hilfsarbeiter gearbeitet, und zwar in der Landwirtschaft und auf Baustellen. Die Familie habe in Somalia ein Grundstück mit einem Haus gehabt. Zuletzt habe ihm der Vater in Äthiopien gesagt, dass er das Grundstück in Somalia verkaufen wolle; ob er das wirklich gemacht habe, wisse der Beschwerdeführer nicht. Sonstige Angehörige in Somalia gebe es nicht.
Die Ausreise des Beschwerdeführers von Äthiopien nach Europa habe ein Freund des Vaters des Beschwerdeführers organisiert. Mit diesem Freund habe der Beschwerdeführer zusammen in Äthiopien gelebt. Er habe etwa zehn Monate bei diesem Freund gewohnt und der Freund habe ihm helfen wollen. Der Beschwerdeführer habe in Äthiopien keinen Ausweis gehabt und sei deshalb von der Polizei geschlagen und für vier Monate ins Gefängnis gesteckt worden. Die Familie des Beschwerdeführers habe zu diesem Zeitpunkt keine Unterstützung gehabt und sich entschlossen, wieder zurück nach Somalia zu gehen, um das Grundstück zu verkaufen. Damals sei der Beschwerdeführer 14 Jahre alt gewesen; wenn er mit seiner Familie zurück nach Somalia gegangen wäre, hätten ihn die Milizen der Al Shabaab mitgenommen.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe eine Koranschule besucht. Als er gemeinsam mit drei weiteren Mitschülern mit der Schule fertig geworden sei, habe ein Lehrer, der für die Al Shabaab gesprochen habe, zu ihnen gesagt, sie müssten nächste Woche zur Al Shabaab fahren. Sie hätten das niemandem erzählen dürfen, denn man hätte sie sonst umgebracht. Sie hätten keine Wahl gehabt. Der Beschwerdeführer habe dies aber dennoch seinem Vater erzählt; der habe gemeint, dass sie sich nicht gegen die Al Shabaab wehren könnten, da sie ansonsten umgebracht werden würden. Aus diesem Grund habe sein Vater für sie als Familie beschlossen, Somalia zu verlassen. Sie seien nach Äthiopien gegangen.
Nachgefragt, ob er in Bezug auf Äthiopien auch Fluchtgründe habe, gab der Beschwerdeführer an, er sei in Äthiopien ein Ausländer ohne Ausweis gewesen. Er sei geschlagen und anschließend ins Gefängnis gebracht worden. In Äthiopien habe man vermutet, er gehöre der Al Shabaab an. Aus diesen Gründen habe er Äthiopien verlassen. Aufgefordert, konkretere Angaben zu machen und seine Fluchtgründe detailreich und genau, chronologisch und mit möglichst genauen Zeitangaben zu schildern, antwortete der Beschwerdeführer, er sei - wie er bereits gesagt habe - in Äthiopien im Gefängnis gewesen, er habe weder in Somalia noch in Äthiopien Sicherheit gehabt, habe dort gearbeitet, und wenn er seinen Lohn bekommen habe, sei er beraubt worden. Er habe eines Tages den Auftrag bekommen, zu putzen, und habe diese Gelegenheit nutzen und flüchten wollen; er sei aber bei seiner Flucht durch einen Zaun verletzt worden. Nochmals aufgefordert, konkretere Angaben zu machen, gab er an, es sei genau, wie er bereits gesagt habe; er sei in Äthiopien ein Ausländer gewesen, der keine Rechte gehabt habe, und er sei auch von der Polizei beraubt worden. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Der Beschwerdeführer zeigte dem Einvernehmenden eine kleine Narbe auf seiner Handfläche sowie an seinem Fußgelenk.
Zur Frage, ob er aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung verfolgt worden sei, erklärte der Beschwerdeführer, in Somalia nicht, aber in Äthiopien schon, weil er aus einem anderen Land gekommen sei; man habe vermutet, dass er der Al Shabaab angehöre. Nachgefragt, wieso die Menschen aus Äthiopien das gedacht hätten, erklärte er, das seien Vorurteile, die auf seine somalische Herkunft und auf die Tatsache zurückzuführen seien, dass er ein junger Mann sei, der den Koran praktiziere und fünf Mal am Tag bete.
Im Falle einer Rückkehr nach Somalia befürchte der Beschwerdeführer, keinen Tag zu überleben. Seine Frisur, seine Kleidung seien verwestlicht und er passe nicht mehr in das somalische Bild. „Die“ würden ihn umbringen, in dem Glauben, dass er die Religion oder die Kultur verändern wolle. Er habe einige Videos auf YouTube; darin gehe es grundsätzlich um Integration, Bildung, Asylrechte und das Leben hier in Österreich.
Nach Äthiopien könne der Beschwerdeführer deshalb nicht zurückkehren, weil das Leben dort zukunftslos sei. Er habe dort ein unwürdiges Leben geführt, das ihn psychisch und physisch belastet habe. Er wolle noch mehr aus seinem Leben machen, deswegen stehe es außer Frage, dass er zurück nach Äthiopien gehe. Außerdem habe ihn die Sache mit dem Gefängnis sehr belastet und er wisse, dass er dort wieder landen würde.
Abschließend machte der Beschwerdeführer über Nachfrage seiner Vertretung noch nähere Angaben zu seinem Gefängnisaufenthalt in Äthiopien und erstattete außerdem ein Vorbringen hinsichtlich seines Alltags und seinen Integrationsbemühungen in Österreich.
Der Beschwerdeführer legte zur Integration folgende Unterlagen vor:
- Medizinische Unterlagen aus dem Jahr 2016
- Sozialpädagogischer Bericht, Zeitraum: 15.12.2015 bis 07.09.2017
- Sozialpädagogischer Kurzbericht vom 27.10.2017
- Kursbesuchsbestätigung „Deutsch als Zweitsprache“ (A2.1) vom 27.07.2016
- Kursbesuchsbestätigung „Deutsch als Zweitsprache“ (B1.1) vom 29.09.2017
- Stundenplan „das Jugendcollege“, Zeitraum: 24.04.2017 bis 30.06.2017
- Abschlussbericht „das Jugendcollege“, Zeitraum: 05.09.2016 bis 01.09.2017
- Bericht zur schulischen Entwicklung im Schuljahr 2015/2016
- Schulbesuchsbestätigung, außerordentlicher Schüler, 30.09.2015-29.01.2016
- Schulbesuchsbestätigung, außerordentlicher Schüler, 08.02.2016-01.07.2016
- Schulbesuchsbestätigung für das Schuljahr 2017/2018 vom 15.09.2017
- Antrag auf Kostenübernahme für Bildungsleistungen vom 12.09.2017
- Teilnahmebestätigung „Graffiti Workshop“ vom 13.11.2016
- Teilnahmezertifikat „Einführung in die Informatik“ vom 25.01.2017
- Teilnahmebestätigung „Traditionen in Österreich“ vom 22.04.2017
- Bestätigung der erfolgreichen Teilnahme am Programm „Peer MentorInnen - Für jugendliche Geflüchtete“, Zeitraum: April bis Juni 2017
- Teilnahmebestätigung „Ute Bock Cup 2017“ (Fußball) vom 28.05.2017
- Bestätigung der Vereinsteilnahme im „AS District West“ (Fußball) vom 20.10.2017
- Unterstützungsschreiben einer Mitarbeiterin der XXXX vom 23.10.2017
- Unterstützungsschreiben eines Lehrers des Beschwerdeführers vom 24.10.2017
- Unterstützungsschreiben einer Lehrerin des Beschwerdeführers vom 25.10.2017
- Mitarbeit als Darsteller bei Dreharbeiten zum Filmprojekt für Infovideos für Geflüchtete, Zertifikat samt Werkvertrag und Honorarnote, alles Oktober 2017
- Schreiben zum Betriebspraktikum (20.11.2017-24.11.2017)
- Diverse Unterlagen zur Teilnahme am „Peace Camp 2017“
3. Am 08.11.2017 langte beim BFA eine schriftliche Stellungnahme ein, in der unter Zugrundlegung von entsprechenden Berichten vorgebracht wurde, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers Asylrelevanz aufweise, und zwar einerseits, weil der Beschwerdeführer Angehöriger einer Minderheit sei, und andererseits, weil ihm Verfolgung durch radikal-islamische Gruppierungen drohe. Als Person, die aus Europa nach Somalia zurückkehre, werde dem Beschwerdeführer seitens der Al Shabaab eine (den in Somalia vorherrschenden Normen ablehnende) religiöse bzw. politische Gesinnung unterstellt. Hinsichtlich einer möglichen Gewährung von subsidiärem Schutz wurde zusammengefasst vorgebracht, dass es in Somalia weiterhin zu terroristischen Attentaten mit unzähligen zivilen Opfern komme und die allgemeine Sicherheitslage instabil sei. Der Beschwerdeführer habe in Mogadishu weder ein familiäres noch ein soziales Netzwerk, das ihn unterstützen könnte, sodass eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative gegenständlich nicht in Frage komme.
4. Mit Bescheid des BFA vom 23.11.2017, zugestellt am 05.12.2017, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde festgestellt, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen werde und die Abschiebung nach Somalia gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.), wobei die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine zugleich bevollmächtigte Vertretung am 21.12.2017 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
In der Beschwerde wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer sei erst vor kurzem volljährig geworden. Seinen Herkunftsstaat Somalia und den damaligen Wohnort XXXX nördlich von Mogadishu habe er bereits als Kind im Alter von etwa zehn Jahren verlassen. Im Anschluss habe er bis zu seiner Ausreise illegal in Äthiopien gelebt; in Somalia sei er seit seiner Ausreise als Kind nie wieder gewesen. Die Familie des Beschwerdeführers habe in Äthiopien unter widrigsten Bedingungen gelebt und sei vorübergehend nach Somalia zurückgekehrt, um ein Grundstück zu verkaufen und sich die Weiterreise in ein sichereres Land finanzieren zu können. Seither habe der Beschwerdeführer den Kontakt zu seiner Familie verloren und wisse nicht, wo sich diese aufhalte. Es sei jedoch aufgrund deren Vorhaben davon auszugehen, dass die Familienmitglieder das Grundstück verkauft hätten, um Somalia (wieder) verlassen zu können. Im ehemaligen Wohnort XXXX nördlich von Mogadishu befinde sich jedenfalls niemand mehr.
Als Kind habe der Beschwerdeführer mit seiner Familie Somalia verlassen, weil er nach Abschluss der Koranschule von den Al Shabaab hätte ausgebildet werden sollen. Ab einem Alter von etwa 14 Jahren hätte er dann für die gemeinsame Miliz in den Kampf ziehen sollen. Aus diesem Grund habe der Beschwerdeführer auch kurzfristig nicht mit seiner Familie nach Somalia zurückkehren können.
Der Beschwerdeführer sei in Österreich künstlerisch aktiv, u.a. drehe und veröffentliche er Kurzfilme (auf der Videoplattform YouTube) und mache Musik.
Die belangte Behörde habe den Grundsatz der amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs sowie den in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierten Anforderungen an das Ermittlungsverfahren nicht genügt und das Verfahren dadurch mit Mangelhaftigkeit belastet. Ebenso sei die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung mangelhaft, da sie eine - wie vom Verwaltungsgerichthof in ständiger Rechtsprechung geforderte - ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens des Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Koexistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei Letzteres eine Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten verlange, unterlassen habe.
Die belangte Behörde habe den Beschwerdeführer nicht zu seinen künstlerischen Aktivitäten befragt. Der Beschwerdeführer habe im Zuge seiner Einvernahme vor der belangten Behörde angegeben, dass er im Falle einer Rückkehr nach Somalia keinen Tag überleben würde, weil er „verwestlicht“ sei, etwa in Bezug auf seine Frisur, Kleidung etc., und nicht mehr ins somalische Bild passe. Man würde ihn in dem Glauben, er wolle die Religion oder Kultur in seinem Herkunftsstaat ändern, töten. Es gebe in diesem Zusammenhang auch einige selbsterstellte Videos auf der Videoplattform YouTube.
Im angefochtenen Bescheid würden insbesondere auch Feststellungen zur Situation alleinstehender Rückkehrer in Mogadishu fehlen, welche dem Clan der Sheikhal angehören und über keinerlei soziales Netzwerk und damit keine Schutzmechanismen an diesem Ort verfügen würden. Die belangte Behörde gehe unrichtigerweise pauschal davon aus, Angehörige des Clans der Sheikhal seien traditionell respektiert und würden von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Diese Feststellung sei nicht ausreichend und darüber hinaus oberflächlich. Selbst das Bundesverwaltungsgericht teile die Ansicht der belangten Behörde nicht. Angehörige von Minderheitenclans fänden sich weiterhin in einer benachteiligten Situation wieder und es würden ihnen Rechte vorenthalten, die das Existenzminimum beträfen.
Die von der belangten Behörde vorgenommenen Länderfeststellungen seien unvollständig und veraltet; in den Gegenden nördlich der Hauptstadt Mogadishu, wie eben auch in XXXX , sei die Sicherheitslage besonders prekär. Mindestens einmal im Monat komme es zu signifikanten Sprengstoffanschlägen; Al Shabaab würden eindeutig über eine Präsenz in der Stadt verfügen. Die aktuelle Hunger- und Dürrekrise in Somalia habe zwar Eingang in die Feststellungen der belangten Behörde gefunden, jedoch sei diese später in der rechtlichen Beurteilung begründungslos übergangen worden.
Die belangte Behörde habe das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen für unglaubwürdig befunden; dies aufgrund der Steigerung seines Vorbringens von der polizeilichen Erstbefragung bis zur niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA. Da der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Somalia (nach Äthiopien) in etwa zehn Jahre alt und zum Zeitpunkt der polizeilichen Erstbefragung erst 15 Jahre alt gewesen sei, er zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst habe und auch nicht habe wissen können, dass lediglich die Fluchtgründe in Bezug auf Somalia, und nicht in Bezug auf Äthiopien, asylrechtlich relevant seien, im Zuge der Erstbefragung keine Rückübersetzung des Protokolls erfolgt sei und während der Erstbefragung trotz der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers keine rechtliche Vertretung des Beschwerdeführers anwesend gewesen sei, hätte die belangte Behörde der ohnehin geringen Beweiskraft eines Beweisergebnisses auf Grundlage der Erstbefragung keine überhöhte Bedeutung beimessen dürfen, denn dies stelle, auch nach ständiger Judikatur des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofs, eine völlig unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung dar.
Auch die von der belangten Behörde angeführten vermeintlichen Widersprüche seien auf ebenjene unreflektierte Beweisergebnisverwertung zurückzuführen: Dass der Beschwerdeführer zunächst die Koranschule in Somalia und anschließend fünf Jahre lang eine inoffizielle Grundschule - inoffiziell, da der Beschwerdeführer illegal in Äthiopien aufhältig gewesen sei - besucht habe, stelle ebenso wenig einen Widerspruch dar wie die Tatsache, dass der Beschwerdeführer den Freund seines Vaters, der seine Ausreise aus Äthiopien finanziert habe, während der Erstbefragung in den Begriff „Familie“ miteingeschlossen habe.
Hätte die belangte Behörde die in der Beschwerde angeführten Berichte und Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts berücksichtigt, ihre eigenen Länderberichte ordnungsgemäß ausgewertet und eine mangelfreie Beweiswürdigung vorgenommen, hätte sie zum Schluss kommen müssen, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers glaubwürdig sei und in Einklang mit den aktuellen Länderberichten zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers stehe und ihm folglich im Falle einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe. Jedenfalls aber hätte die belangte Behörde aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage zur Feststellung gelangen müssen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 2 und Art. 3 EMRK drohe.
Die belangte Behörde habe auch eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorgenommen: Dem Beschwerdeführer sei der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, da ihm im Herkunftsstaat aufgrund der verweigerten Teilnahme an der Ausbildung durch die Al Shabaab und der damit einhergehenden oppositionellen Gesinnung Verfolgung durch die Terrorgruppe drohe. Auch aufgrund seines langen Auslandsaufenthaltes in Europa werde ihm eine pro-westliche und sohin feindliche politische Gesinnung, insbesondere Abfall vom islamischen Glauben, unterstellt werden. Aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage sei eine Schutzunfähigkeit des somalischen Staates in Bezug auf den Schutz vor Verfolgungshandlungen nichtstaatlicher Akteure zu bejahen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe entgegen der Auffassung der belangten Behörde nicht.
Für den Fall der Nichtzuerkennung des Asylstatus sei dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen: Aus den in der Beschwerde angeführten Länderberichten und den Aussagen des Beschwerdeführers, insbesondere den vorgebrachten Gefährdungsmomenten, nämlich seiner langen, mehr als zehn Jahre andauernden Abwesenheit aus Somalia und der Nichtkenntnis der Ortschaft, der Infrastruktur sowie der kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates sowie seiner Zugehörigkeit zur Minderheitenvolksgruppe der Sheikhal, seiner unislamischen künstlerischen Tätigkeit sowie seiner von islamistischen Fundamentalisten als „verwestlicht“ und „fremd“ empfundenen Identität, gehe hervor, dass ihm aufgrund der im Herkunftsstaat gegebenen Umstände unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) drohe, weshalb eine Abschiebung nach Somalia unzulässig sei.
Weiters habe die belangte Behörde die Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung unrichtig beurteilt: Die Erlassung einer solchen gegen den Beschwerdeführer sei zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele nicht dringend geboten. Zudem sei der aktuellsten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zufolge Minderjährigen, die zum Herkunftsstaat nur mehr geringe Bindungen aufweisen würden und in Österreich einen ausreichenden Grad an Integration erreicht hätten, in der Regel der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen; dies sei insbesondere dann der Fall, wenn sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Ausbildungsmöglichkeiten wahrnehmen und sich mit dem sozialen, kulturellen Leben in Österreich vertraut machen würden. In einem solchen Fall könne auch nicht gesagt werden, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestaufenthaltsdauer jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen auszugehen sei. Zwar sei der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr minderjährig, allerdings sei zu berücksichtigen, dass er erst vor kurzem volljährig geworden sei und seinen Herkunftsstaat im Alter von etwa zehn Jahren verlassen habe. Da er dort weder über Angehörige noch über Freunde verfüge sowie inzwischen den sozialen und kulturellen Bezug zu Somalia verloren habe, seien seine Bindungen zu seinem Herkunftsstaat Somalia - im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs - äußerst gering.
Der Beschwerdeführer sei im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr um seine Integration in Österreich bemüht; so habe er im Schuljahr 2015/16 eine Berufsschule für Elektrotechnik und Mechatronik besucht, aktuell besuche er ein näher bezeichnetes Polytechnikum und arbeite am Filmprojekt „Asyl braucht Information“ XXXX mit, in welchem er auch interviewt worden sei. Er spreche bereits sehr gut Deutsch und beteilige sich häufig an Vereinsaktivitäten, die förderlich für seine Integration seien. Die Rückkehrentscheidung hätte sohin wegen sonstiger Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK für auf Dauer unzulässig erklärt werden müssen und die Behörde hätte dem Beschwerdeführer daher gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen einen Aufenthaltstitel zu erteilen gehabt.
Abschließend beantragte wurde gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Zusätzlich zu den bereits im Akt befindlichen Unterlagen zur Integration im Bundesgebiet legte der Beschwerdeführer mit der Beschwerde folgende (neue) Dokumente vor:
- Kursbesuchsbestätigung „Deutsch als Zweitsprache“ (B1.1+) vom 21.08.2017
- Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 12.09.2017
6. Mit Beschwerdevorlage vom 02.02.2018, eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 05.02.2018, wurde die gegenständliche Bescheidbeschwerde samt Verfahrensakt vorgelegt.
7. Per Fax vom 19.07.2018 und vom 05.12.2018 wurde Folgendes vorgelegt:
- Jahres- und Abschlusszeugnis, Schuljahr 2017/2018, vom 29.06.2018
- Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 22.03.2018
8. Am 03.12.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, welche allerdings aufgrund der eingangs hervorgekommenen Befangenheit der Dolmetscherin sodann vertagt werden musste.
Zur maßgeblichen Lage im Herkunftsstaat Somalia wurde zum Akt genommen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia (Stand: 17.09.2019)
- Analyse der Staatendokumentation, Somalia: Sheikhal, 19.09.2011
- FSNAU Food Security & Nutrition, Quarterly Brief, 29.04.2019
- FSNAU Somalia Food Security Outlook, June 2019 to January 2020
- OCHA, Humanitarian Bulletin, Somalia, 01.08.-31.08.2019
Der Beschwerdeführer legte folgende (neue) Dokumente vor:
- Teilnahmebestätigung „Werte- und Orientierungskurs des ÖIF“ vom 30.07.2019
- Kursbestätigung „Start Wien, Integration ab Tag 1“ vom 25.11.2019
- Anmeldebestätigung Deutschkurs (B1), Zeitraum: 26.09.2019 bis 19.12.2019
- Bestätigung der Vereinsteilnahme im „AS District West“ (Fußball) vom 21.11.2019
- Empfehlungsschreiben einer Betreuerin der früheren Unterkunft, einer Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, vom 21.11.2019
- Empfehlungsschreiben einer weiteren Betreuerin der früheren Unterkunft, einer Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, vom 30.11.2019
- Empfehlungsschreiben einer Familie, die der Beschwerdeführer als „besten Freund ihres Patenkindes“ kennen gelernt hat, vom 27.11.2019
- Empfehlungsschreiben einer weiteren Familie vom 28.11.2019
- Empfehlungsschreiben einer Mitarbeiterin des Vereins „Projekt Integrationshaus“ vom 02.12.2019
9. Am 10.01.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht die Fortsetzung der öffentlichen mündlichen Verhandlung statt, wobei dem Beschwerdeführer zuerst Fragen zu seiner Person und Abstammung und danach zu seiner derzeitigen Situation in Österreich gestellt wurden. Diesbezüglich erstattete er ein umfassendes Vorbringen zu seinen Integrationsbemühungen.
Zu seinen Familienangehörigen führte der Beschwerdeführer aus, dass seine Schwester ihn im August 2019 kontaktiert habe, um ihm mitzuteilen, dass die Familie (Eltern und Geschwister) in Kenia in einem Flüchtlingslager sei und dort unter schwierigen Bedingungen lebe. Sie hätten Anträge auf internationalen Schutz gestellt und würden versuchen, nach Kanada auszuwandern. Nach diesem einen Telefonat habe es keinen Kontakt mehr zur Familie gegeben. Im Falle einer Rückkehr nach Somalia könne ihn niemand unterstützen; er kenne niemanden und habe auch keinen Besitz dort.
Hinsichtlich seiner Clanzugehörigkeit gab der Beschwerdeführer über Nachfrage an, dass diese in seinem bisherigen Leben keine große Rolle gespielt habe. Er habe weder bezüglich der Clanzugehörigkeit noch bezüglich der Religionszugehörigkeit konkrete Probleme gehabt.
Anschließend wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, seine Fluchtgründe darzulegen; das Protokoll lautet auszugsweise wie folgt [Tippfehler wurden korrigiert]:
„Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
R: Für das Verfahren relevant sind Ihre Fluchtgründe in Bezug auf Somalia. - Nennen Sie jetzt bitte der Reihe nach abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, aus denen Sie Ihren Herkunftsstaat Somalia verlassen haben. Geben Sie bitte auch an, warum Sie denken, nicht mehr nach Somalia zurückkehren zu können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit. Ihre freie Erzählung ist mir sehr wichtig.
BF: Ich habe Somalia aus Angst vor Al Shabaab verlassen. Mein Lehrer wollte, dass ich mich Al Shabaab anschließe und am Dschihad teilnehme. Ich habe in Somalia die Koranschule besucht. Drei weitere Mitschüler und ich wurden vom Lehrer gerufen. Wir waren kurz vorm Abschließen des Korans. Er sagte uns, dass wir zu ihm kommen sollen. Es war in der Pause. Er sagte uns, wir sollen uns vorbereiten, nächste Woche wird er uns zu Al Shabaab bringen. Wir werden unsere Religion besser lernen. Wenn wir 14 Jahre alt werden, werden wir Al Shabaab beitreten. Er sagte uns, er wird uns schlachten bzw. umbringen, wenn wir jemandem davon erzählen oder uns weigern. Ich habe meinem Vater davon erzählt. Mein Vater sagte, wenn er das ablehnt, wird Al Shabaab ihn für einen Gegner der Religion halten, und zulassen möchte er das auch nicht. Deshalb bin ich aus Somalia geflüchtet. Ich habe das meinem Vater erzählt. Die anderen Mitschüler haben dasselbe getan. Ihre Väter haben das der Polizei mitgeteilt und die Polizei hat die Koranschule dann angegriffen. Mein Freund bzw. Mitschüler hat mir gesagt, dass sie eine Anzeige bei der Polizei gemacht haben. Deshalb bin ich aus Somalia geflüchtet und deshalb ist meine Familie mit mir mitgekommen. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich Probleme mit Al Shabaab bekommen, weil sie damals die Kontrolle über weite Teile Somalias hatten. Dann hätten sie mich umgebracht, weil ich ihre Befehle abgelehnt habe und meinen Lehrer verraten habe.
R: Haben Sie jetzt alle Fluchtgründe genannt oder möchten Sie noch etwas ergänzen?
BF: Nein, das war der Grund, weshalb ich aus Somalia geflüchtet bin.
R: Bei der Erstbefragung haben Sie das alles mit keinem Wort erwähnt.
BF: Ich wurde danach nicht gefragt und außerdem ist es mir schlecht gegangen. Mir war schwindlig, da ich eine lange Zeit unterwegs war. Es war eine schwere Fluchtroute.
R: Sie haben jetzt von der Polizei in Somalia geredet. Können Sie genauer ausführen, wer wo eine Anzeige erstattet hat?
BF: Ein Vater von den anderen drei Mitschülern hat die Anzeige bei der Polizei erstattet. Der Vater von einem Freund von mir ist das. So hat der Mitschüler es mir erzählt und mehr weiß ich nicht.
R: Das ist jetzt das erste Mal, dass Sie von der Polizei in Somalia reden. Beim BFA haben Sie das nicht gesagt.
BF: Das BFA hat mich nicht gefragt, sie haben nicht gesagt, dass ich detailliert erzählen soll. Ich wurde nicht so wie heute gefragt.
R: Hatten Sie selber jemals persönlichen Kontakt zu Mitgliedern der Al Shabaab?
BF: Mein Lehrer war ein Al Shabaab, aber mit weiteren Al Shabaab Mitgliedern hatte ich keinen Kontakt.
R: Sie haben gesagt, die Polizei hat die Koranschule angegriffen. Was meinen Sie damit?
BF: Sie haben nach dem Lehrer gesucht.
R: Was ist dann passiert?
BF: Der Freund sagte mir, sie haben den Lehrer nicht gefunden.
R: Können Sie mir zu der ganzen Geschichte noch irgendwelche Details sagen? War das an einem Tag oder an mehreren Tagen? Was waren das für Gespräche? Können Sie mir das so schildern, dass ich mir das besser vorstellen kann?
BF: An das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern. Unser Lehrer hat uns eines Tages in die Koranschule gerufen, dass wir zu ihm kommen sollen. Er sagte uns, dass wir zu ihm kommen sollen, während der Pause, ich und die drei Mitschüler. Er hat uns gesagt, dass wir uns der Al Shabaab Gruppe anschließen sollen und wir werden am Dschihad teilnehmen. Ich habe am selben Tag meinem Vater davon erzählt. Und mein Freund hat es seinem Vater erzählt. Mein Vater konnte aus Angst vor Al Shabaab die Polizei nicht verständigen. Am nächsten Tag hat die Polizei die Koranschule angegriffen. Sie haben den Lehrer nicht gefunden. Anscheinend ist der Lehrer geflüchtet und zu den Al Shabaab gegangen. Zwei bis drei Tage später haben wir dann Somalia verlassen, soweit ich mich erinnern kann, war es so.
R: Sind Sie am nächsten Tag ganz normal wieder in die Schule gegangen?
BF: Nein. Ich bin hingegangen, aber es war geschlossen. Danach ging ich nicht mehr hin.
R: Woher wissen Sie dann überhaupt die Sache mit der Polizei?
BF: Mein Freund hat mir davon erzählt.
R: Können Sie mir chronologisch erzählen, wie das abgelaufen ist (Gespräch mit Lehrer, Gespräch mit Vater, Gespräch mit Freund). Gibt es dazu noch weitere Details?
BF: Ich möchte nur die Wahrheit sagen, ich möchte nicht lügen. Es ist so, wie ich es erzählt habe. Ich möchte nicht lügen und nichts dazu erfinden.
R: Müssen Sie auch nicht. Wenn Sie nichts mehr wissen, dann sagen Sie mir das bitte.
BF: Ich weiß nichts mehr.
R: Können Sie sich erinnern, wann konkret der Entschluss gefasst wurde, Somalia zu verlassen und nach Äthiopien zu gehen?
BF: Zwei bis drei Tage nach dem Vorfall sagte mein Vater, dass wir nach Äthiopien gehen.
R: Können Sie sich erinnern, was in den zwei bis drei Tagen noch passiert ist? Können Sie sich da an Ihren Alltag noch erinnern? Waren Sie im Haus oder draußen?
BF: Soweit ich mich erinnern kann, war ich zuhause und habe das Haus nicht verlassen. Es gab keinen Ort, wohin ich sonst gehen konnte.
R: Können Sie sich erinnern, wie Sie sich damals gefühlt haben? Was ist in Ihnen vorgegangen?
BF: Ich hatte große Ängste. Es war sehr schrecklich für mich, weil Al Shabaab sind auch Muslime, aber sie glauben an andere Dinge.
R: Können Sie sich an die Reaktion der Eltern irgendwie erinnern?
BF: Mein Vater sagte, wenn er das ablehnt, wird er getötet und ich auch. Die ganze Familie würde vernichtet werden, weil Al Shabaab dann meint, dass wir ungläubig seien. Wenn er zustimmt, wird es heißen, dass ich am Dschihad teilnehme. Das wollte mein Vater nicht.
R: In diesen zwei bis drei Tagen haben sich die Eltern auf eine Ausreise vorbereitet? Ist da irgendwas geschehen?
BF: Ich kann mich erinnern, dass wir am Vormittag unsere Sachen eingepackt haben und am Abend mein Vater gesagt hat, dass wir jetzt gleich losmüssen.
R: Können Sie sich sonst noch an irgendwas erinnern?
BF: Wir alle hatten Angst. Damals hatten die Leute Angst in Mogadischu. Wir sind kurz gegangen, haben eine Pause gemacht und sind dann weitergegangen bis wir zum Auto gekommen sind.
R: Wo war dieses Auto?
BF: Wir sind ca. drei Stunden zu Fuß gegangen bis wir zum Auto gekommen sind, das mein Vater für unsere Reise organisiert hat.
R: Und mit diesem Auto sind Sie wohin gefahren?
BF: Das Auto ist ca. einen Tag und eine Nacht gefahren. Dann sind wir umgestiegen in ein anderes Auto. Das andere Auto ist durch das Land und an Dörfern vorbeigefahren, nicht an der Hauptstraße, bis wir nach Äthiopien gekommen sind.
R: Wann haben Sie Somalia tatsächlich verlassen?
BF: Im Jahr 2009.
R: Am Anfang, am Ende oder in der Mitte?
BF: Ich glaube, im Dezember.
R: Wollen Sie mir zu Somalia noch irgendetwas sagen?
BF: Nein.
R: Können Sie Ihren Aufenthalt in Äthiopien kurz beschreiben?
BF: Wir haben es schwer in Äthiopien gehabt. Manchmal hatten wir was zu essen, manchmal nicht. Es war schwer mit der medizinischen Versorgung. Wenn man krank geworden ist, hat man keine Behandlung erhalten. Wir haben keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Einige Leute haben mich auf der Straße angehalten und haben Geld verlangt, als ich die Moschee verlassen habe. Sie sagten, entweder gebe ich ihnen Geld oder sie werden behaupten, dass ich ein Al Shabaab Mitglied bin, damit mich die Regierung verfolgt. Am Ende habe ich den Leuten kein Geld gegeben. So wurde mir vorgeworfen, dass ich ein Al Shabaab Mitglied bin und ich wurde deshalb ins Gefängnis gesteckt. Im Gefängnis gab es auch andere Mitgefangene, wir waren in einer kleinen Zelle eingesperrt. Es mussten ca. 45 Gefangene in einer Zelle bleiben und wir mussten im Gefängnis arbeiten. Einmal bin ich im Gefängnis krank geworden, wegen des schlechten Essens. Eines Tages, als ich gerade den Boden gereinigt habe, habe ich an die Flucht gedacht. Ich habe mich am Stacheldraht verletzt. Ich habe mich auf der Hand und am Bein verletzt.
R: Wie sind Sie aus dem Gefängnis herausgekommen?
BF: Bei diesem Versuch ist die Flucht gescheitert. Ich wurde aus dem Gefängnis entlassen. Mein Vater, sein Freund und einige Nachbarn haben für mich verhandelt. So wurde ich freigelassen.
R: Wann genau haben Sie Äthiopien verlassen?
BF: Im fünften Monat 2015.
R: Wann waren Sie ungefähr im Gefängnis?
BF: Vom dritten Monat ungefähr bis zum sechsten oder siebten Monat 2014. Ich war ca. vier Monate im Gefängnis.
R: Als Sie aus dem Gefängnis herausgekommen sind, waren Ihre Eltern noch in Äthiopien oder schon in Somalia?
BF: In Äthiopien. So ca. zwei Wochen danach ist dann die Familie nach Somalia gegangen.
R: Wann haben Sie Ihre Eltern zuletzt gesehen?
BF: Im Juli oder August 2014.
R: Was war der Plan Ihrer Familie (Eltern und Geschwister) damals? Wurde über die Zukunft gesprochen?
BF: Sie sagten mir, sie gehen nach Somalia, um das Haus und das Grundstück zu verkaufen; damit sie ein neues Leben beginnen können, ein besseres als das, was sie in Somalia oder Äthiopien hatten.
R: Wissen Sie, war der Plan dann wieder zurückzukommen nach Äthiopien oder was war der Plan der Familie mit dem Geld?
BF: Dass sie nach Äthiopien zurückkommen und dann, dass wir alle weggehen aus Äthiopien. Aus Äthiopien kann man weiterreisen.
R: Warum sind Sie nicht bei der Familie geblieben?
BF: Mein Vater sagte, dass ich in Äthiopien bleiben soll, weil ich 14 Jahre alt war, und er meinte, dass ich in Somalia von Al Shabaab verschleppt werde und ich müsste dann am Dschihad teilnehmen.
R: Wie haben Sie Ihre Ausreise nach Europa organisiert und finanziert?
BF: Der Freund meines Vaters hat die Reise organisiert. Es war sein Ratschlag. Er sagte mir, dass die Familie gegangen ist, dass ich keinen Kontakt mehr habe. Er sagte, er habe etwas Geld für mich. Er hat vorgeschlagen, dass wir gemeinsam aus Äthiopien ausreisen. Er sagte, dass es in Schweden viele Somalier gäbe, und dass wir dort hingehen könnten.
R: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat Somalia zurückkehren müssten?
BF: Ich habe Somalia verlassen. Ich bin vor Al Shabaab geflüchtet. Ich bin seit langer Zeit weg. Ich habe hier ein neues Leben begonnen und ich habe hier Videoausschnitte gemacht, mit Europäern habe ich das gemacht. Die sind auch in den Videos zu sehen. Als Rückkehrer von Europa werde ich als schlecht angesehen und man wird meinen, dass ich meine Religion und meine Tradition verlernt habe und erst wieder lernen muss.
R: Was ist der Inhalt von diesen Videos, von denen Sie reden?
BF: Es handelt sich um Lieder, kurze Szenen. Ich habe auch andere Videoausschnitte auf Somalisch und Deutsch hergestellt. Ich habe XXXX ein Informationsvideo für andere Somalier gedreht. Der Inhalt waren die Rechte und Pflichten von Asylwerbern. Es gibt auch ein Video, wo ich singe.
R: Was singen Sie da?
BF: Somalische und arabische Lieder singe ich.
R: Worum geht es in diesen Liedern? Handelt es sich um traditionelle Lieder?
BF: Es sind Hip-Hop und Rap-Lieder, über Liebe und andere Themen.
R: Informieren Sie sich von Österreich aus über die Situation in Somalia?
BF: Ja, ich informiere mich über die Medien. Ich bekomme mit, wenn ein Anschlag in Somalia passiert.
R: Wissen Sie darüber Bescheid, wie die Lebensumstände in Ihrem Heimatbezirk in Somalia ( XXXX ) derzeit sind?
BF: Die Lage in Mogadischu ist instabil. Mal gibt es einen Anschlag, mal nicht.
R: Wollen Sie noch irgendetwas sagen, was für Sie wichtig erscheint?
BF Was zum Beispiel?
R erklärt die Frage.
BF: Nein, ich habe alles gesagt.
R gibt der BFV die Möglichkeit, zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV: Wer sollte denn ein Problem mit den Videos haben?
BF: Al Shabaab wird damit Probleme haben.
BFV: Wieso?
BF: Wenn sie die Inhalte dieser Videos sehen, nackte Leute, also wenig angezogene Frauen und solche Sachen.
BFV: Woher sollte Al Shabaab überhaupt von diesen Videos wissen?
BF: Auf YouTube ist das zu sehen.
BFV: Ist das ein öffentlicher Kanal auf YouTube?
BF: Ja, es ist ein öffentlicher Kanal. Es ist öffentlich einzusehen.
BFV: Ist es auch ganz klar Ihnen zuzuordnen, dass Sie mit den Videos etwas zu tun haben?
BF: Es ist unter meinem Namen hergestellt, ich bin auf YouTube zu sehen. Ich habe gesungen.
BFV: Keine weiteren Fragen.
R: Wenn ich Ihren Namen google, finde ich dann die Videos?
BF: Ja, mein Name und den Namen des Teams.
R: Was ist der Name des Teams?
BF: […]
R: Warum glauben Sie, dass irgendjemand danach suchen sollte in Somalia?
BF: Ja, wenn Al Shabaab auf jemanden fokussiert sind, werden sie das finden. Sie haben auch Spione.
R: Besteht die Möglichkeit, die Videos zu löschen?
BF: Selbst, wenn ich das lösche, andere haben das verbreitet.
R: Wie meinen Sie mit „verbreitet“?
BF: Sie haben sich das heruntergeladen und auf ihre YouTube-Seiten gestellt. Mein Freund, der Sänger, für den ich Texte schreibe, hat einmal ein Lied über Al Shabaab gesungen. Es war damals, als ich noch in Äthiopien war. Er hat versucht, das zu löschen, aber er konnte das nicht, weil die anderen das heruntergeladen hatten.“
Im Zuge der Verhandlung wurde eine schriftliche Stellungnahme zu den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingebrachten Länderfeststellungen abgegeben.
Im Wesentlichen wurden die in der Beschwerde vom 21.12.2017 zu allen Spruchpunkten vorgebrachten Beschwerdegründe wiederholt und zur Sicherheitslage zudem ausgeführt, dass sich im Jahr 2019 keine Verbesserungen ergeben hätten; insbesondere in den IPD-Lagern (Lager für sog. „Internally Displaced People“) und in den informellen Siedlungen Mogadishus könne die Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht garantiert werden. Der jüngste Anschlag der Al Shabaab vom 28.12.2019 habe über 90 Menschen das Leben gekostet und zeige, dass die Terrorgruppe weiterhin fähig sei, große Anschläge in der Hauptstadt durchzuführen, und die somalischen Sicherheitskräfte derzeit nicht über die notwendigen Ressourcen verfügen würden, um effektive Sicherheiten garantieren zu können.
Zur Versorgungslage wurde zudem ausgeführt, der Beschwerdeführer gehöre keinem Mehrheitsclan an und verfüge aus diesem Grund auch in Mogadishu nicht über die gleichen Vernetzungen und Zugänge zu Jobs und Versorgung wie Angehörige der Mehrheitsclans; ohnehin geriete der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr aufgrund des fehlenden familiären Netzwerks in seinem Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Lage. Im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative müsse - auch wenn das aktuelle Länderinformationsblatt zu Somalia davon spreche, dass keine Informationen vorlägen, nach denen es „allen jungen Männer im arbeitsfähigen Alter an einer Existenzgrundlage mangeln würde“ - vom BFA bzw. dem Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall dargelegt werden, warum der Aufbau einer Existenz zugemutet werden könne, wobei der Maßstab hierfür hoch anzulegen sei. Wenn aufgrund des Länderinformationsblatts nicht davon ausgegangen werden könne, dass sämtliche gesunden, jungen Männer im arbeitsfähigen Alter eine Existenzgrundlage vorfinden würden, müsse konkret dargelegt werden, weshalb eine Neuansiedlung im Herkunftsstaat gerade dem Beschwerdeführer zugemutet werden könne.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, wurde im Bezirk XXXX im Norden der Stadt Mogadishu geboren, verbrachte dort seine Kindheit und reiste im Jahr 2009 im Alter von etwa zehn Jahren gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern nach Äthiopien. Seine Familie reiste etwa im Juni/Juli 2014 - ohne den Beschwerdeführer - aus Äthiopien aus, hielt sich vorübergehend in Somalia auf, um dort ihr Grundstück zu verkaufen, und lebt aktuell in einem Flüchtlingslager in Kenia.
Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos, gehört der Volksgruppe bzw. dem Clan der Sheikhal, Subclan Looboge (auch: Lobogi), Subsubclan XXXX , an und bekennt sich zum Islam sunnitischer Richtung. Er besuchte in Somalia drei Jahre eine Koranschule, wo er auch Lesen, Schreiben, Arabisch und Mathematik lernte, und in Äthiopien etwa zwei bis drei Jahren ebenfalls eine Koranschule. Seinen Lebensunterhalt bestritt er in Äthiopien durch Gelegenheitsarbeiten.
Nach der Ausreise der Familie aus Äthiopien verblieb der Beschwerdeführer dort vorerst noch etwa zehn weitere Monate bei einem Freund des Vaters, im Mai 2015 verließ auch er Äthiopien und reiste spätestens am 20.07.2015 als damals unbegleitete Minderjähriger ins Bundesgebiet ein. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr läuft, in seinem Herkunftsstaat von der Al Shabaab aufgrund seiner politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Mitteleuropa nach Somalia zurückgekehrten Personen verfolgt zu werden. Auch aufgrund seiner Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit droht ihm keine Verfolgungsgefahr.
Ob der Beschwerdeführer aktuell noch Kontakt zu seinen Angehörigen hat, die mittlerweile in Kenia in einem Flüchtlingscamp leben, kann nicht festgestellt werden. Eine finanzielle Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine Angehörigen ist bei einer Rückkehr nach Somalia nicht zu erwarten. Bei einer Rückkehr nach Somalia und einer Ansiedlung in seinem Heimatort Mogadishu - ebenso wie bei einer Ansiedlung außerhalb seines Heimatortes - läuft der Beschwerdeführer Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage in Somalia stützen sich (auszugsweise) auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung: 17.09.2019):
„(…)
2. Politische Lage
Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 4.3.2019, S.5), aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (NLMBZ 3.2019, S.7). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2018, S.4).
Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2018, S.5). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten (AA 5.3.2019b). Das Land hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs.78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Der Aufbau von Strukturen auf Bezirksebene geht hingegen nur langsam voran (UNSC 15.5.2019, Abs.50).
Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 4.3.2019, S.4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 5.6.2019b, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2018, S.33).
Die Herausforderungen sind dabei außergewöhnlich groß, staatliche Institutionen müssen von Grund auf neu errichtet werden. Zusätzlich wird der Wiederaufbau durch die Rebellion von al Shabaab, durch wiederkehrende Dürren und humanitäre Katastrophen gehemmt. Außerdem sind Teile der staatlichen Elite mehr mit der Verteilung von Macht und Geld beschäftigt, als mit dem Aufbau staatlicher Institutionen (BS 2018, S.33). In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen „indirekten Staat“, in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (BS 2018, S.23). Zudem ist die Bundesregierung finanziell von Katar abhängig, das regelmäßig außerhalb des regulären Budgets Geldmittel zur Verfügung stellt (SEMG 9.11.2018, S.30).
Somalia ist keine Wahldemokratie, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2018, S.13f). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 13.3.2019, S.23; vgl. FH 5.6.2019b, A1) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 4.3.2019, S.5f). Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 geplant (AA 5.3.2019b). Angesichts der bestehenden Probleme bleibt aber abzuwarten, ob diese Wahlen wirklich stattfinden werden (NLMBZ 3.2019, S.9). Bei den Vorbereitungen dafür wurden bisher nur wenige Fortschritte gemacht (FH 5.6.2019b, A3).
Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 13.3.2019, S.23), und es gibt diesbezüglich Konflikte mit den Bundesstaaten (NLMBZ 3.2019, S.7).
Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Ende 2016 / Anfang 2017 besetzt (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt. Zuvor waren Abgeordnete unmittelbar durch einzelne Clanälteste bestimmt worden (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b). Das Unterhaus wurde nach Clan-Zugehörigkeit besetzt, das Oberhaus nach Zugehörigkeit zu Bundesstaaten. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1/23). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2018, S.14/19). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2018, S.22). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 4.3.2019, S.6; vgl. AA 5.3.2019b; BS 2018, S.22).
Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 13.3.2019, S.26; vgl. BS 2018, S.13f). Die 4.5-Formel hat zwar politischen Fortschritt gewährleistet, ist aber zugleich Ursprung von Ressentiments (SRSG 13.9.2018, S.2).
Die Präsidentschaftswahl fand am 8.2.2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed „Farmaajo“ zum Präsidenten (AA 4.3.2019, S.6; vgl. BS 2018, S.14; USDOS 13.3.2019, S.1). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 13.3.2019, S.1). Im März 2017 bestätigte das Parlament Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 5.3.2019b; vgl. BS 2018, S.14). Die aktuelle Regierung agiert wie eine Regierung der nationalen Einheit. Sie wurde so zusammengesetzt, dass alle relevanten Clans und Gruppen sich in ihr wiederfinden (AA 4.3.2019, S.10).
Gemäß einer Quelle üben aber salafistische Netzwerke zunehmend Einfluss auf die Regierung aus (NLMBZ, S.8f). Nach anderen Angaben kann von Salafismus keine Rede sein, vielmehr sind der Präsident und seine Entourage Moslembrüder bzw. deren Ideologie sehr nahestehend (ME 27.6.2019). Wieder eine andere Quelle berichtet, dass die politische Basis des Präsidenten eine nationalistische ist (ICG 12.7.2019, S.10). Gleichzeitig unterwandert al Shabaab das System, indem sie Wahldelegierte zur Kooperation zwingt (Mohamed 17.8.2019).
Das Konzept einer politischen Opposition ist nur schwach ausgeprägt, die Regeln der Politik sind abgestumpft. Misstrauensanträge, Amtsenthebungsverfahren und Wahlen werden zur Bereicherung und zum politischen Machtausbau missbraucht (SRSG 13.9.2018, S.4). Generell sind die Beziehungen zwischen Bundesregierung und Parlament problematisch. Außerdem kam es 2018 zu einer großen Zahl an Personaländerungen, so wurde etwa der Bürgermeister von Mogadischu, zahlreiche Minister und der Chief Justice ersetzt (NLMBZ, S.8f).
Gegen Ende 2018 war vom Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Farmaajo eingeleitet worden. Dieses Verfahren wurde jedoch Mitte Dezember 2018 aus formalen Gründen für ungültig erklärt bzw. zurückgezogen (VOA 20.12.2018; vgl. FH 5.6.2019b, A1; UNSC 15.5.2019, Abs.3). Auch zwischen Ober- und Unterhaus ist es zu politischen Auseinandersetzungen gekommen (AMISOM 15.1.2019a; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.3). Diese wurden im Juli 2019 vorläufig beigelegt (UNSC 15.8.2019, Abs.3).
Ein nationaler Versöhnungsprozess ist in Gang gesetzt worden. Dieser wird international unterstützt (UNSC 21.12.2018, S.6).
Föderalisierung: Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet (AA 5.3.2019b; vgl. USDOS 13.3.2019, S.1; BS 2018, S.4f/12). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 5.3.2019b; vgl. UNSC 15.5.2019, Abs.22). Mit der Gründung der Bundesstaaten und einem relativ demokratisch erfolgten Machtwechsel konnten wichtige Weichen in Richtung Demokratisierung, legitimer Staatsgewalt und Föderalismus gestellt werden (AA 4.3.2019, S.4). Beim Prozess der Föderalisierung gab es in den letzten Jahren signifikante Fortschritte (BS 2018, S.3). Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (USDOS 13.3.2019, S.1; vgl. BS 2018, S.15).
Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S.55f).
Wichtige Detailfragen zur föderalen Staatsordnung sind weiterhin ungeklärt, z.B. die Einnahmenverteilung zwischen Bun