TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/29 W117 2217233-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.06.2020
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Entscheidungsdatum

29.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §21 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W117 2217233-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Andreas DRUCKENTHANER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung –Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.03.2019, Zl. 1118576200/160825794, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 9, 46 und 55 Abs. 1 bis 3 FPG idgF als unbegründet abgewiesen sowie gemäß § 21 Abs. 5 BFA-VG festgestellt, dass die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zum Zeitpunkt der Erlassung rechtmäßig waren.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der am 06.06.2019 freiwillig in die Russische Föderation zurückgekehrte Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe moslemischen Glaubens, stellte am 13.06.2016 nach illegaler Einreise von Polen kommend den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Dabei legte er einen russischen Inlandsreisepass vor.

Anlässlich seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 13.06.2016 gab er als Fluchtgrund an, dass sein Onkel einen Verkehrsunfall versursacht habe, bei dem drei Personen ums Leben gekommen seien. Deren Verwandte wollten sich beim Beschwerdeführer dafür rächen, seinen Onkel hätten sie bereits getötet. Aus demselben Grund sei bereits sein Bruder nach Österreich geflüchtet, zwei Cousins befänden sich ebenfalls in der EU. Die Personen, welche ihn umbringen wollten, würden mit der Behörde zusammenarbeiten; vom Staat selbst habe er mit keinen Sanktionen zu rechnen. Weiters gab er an, dass sein Vater bereits 2014 verstorben sei und im Herkunftsstaat noch seine Mutter und fünf Schwestern leben würden.

Anlässlich seiner Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 03.10.2016 brachte der Beschwerdeführer vor, sich wegen Problemen mit seiner Lunge und der Wirbelsäule in ärztlicher Behandlung zu befinden. Er sei von seinem in Österreich aufhältigen Bruder absolut abhängig, da ihn dieser zu allen Terminen begleite. Außerdem beziehe er die staatliche Grundversorgung. Er lebe in keiner familienähnlichen Beziehung. Sein Reisepass befinde sich in Polen. Dorthin könne er wegen der schlechteren medizinischen Behandlung und dem Aufenthalt von Verwandten der verfeindeten Familie nicht reisen, er würde sich dort nicht sicher fühlen, außerdem habe er zu seinem seit 2005 in Österreich lebenden Bruder kommen wollen. Er begehre den Selbsteintritt Österreichs wegen des Abhängigkeitsverhältnisses zu seinem Bruder.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 07.11.2016 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 18/1/c der Verordnung (EU) Nr. 604/2103 des Europäischen Parlaments und des Rates Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass gemäß § 61 Abs. 2 FPG seine Abschiebung nach Polen zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.01.2017, GZ. W 165 2140806-1/7E, gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG Folge gegeben, das Verfahren zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.

Dem älteren Bruder des Beschwerdeführers wurde davor mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 22.01.2008, Zl. 261575-2-XIX/62/2007, Asyl gewährt, weil es als glaubhaft erachtet wurde, dass er im ersten Tschetschenienkrieg Widerstandskämpfer unterstützte sowie dass ihm im Fall der Rückkehr wegen eines von seinem Onkel 2004 verursachten Verkehrsunfalles Blutrache drohe. Sowohl der Onkel als auch dessen Sohn seien bereits getötet worden. Da der Tod eines Jugendlichen bisher noch nicht gerächt worden sei, sei weitere Blutrache zu befürchten. Seine Eltern und fünf Schwestern würden noch im Herkunftsstaat leben, sein jüngerer Bruder (der damals 21-jährige Beschwerdeführer) hätte aus Angst vor der Blutrache Tschetschenien mittlerweile verlassen und halte sich in Inguschetien auf.

Im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 30.06.2017 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, an Wirbeltuberkulose zu leiden und eine Stützkorsage tragen zu müssen sowie Medikamente zu nehmen. Er habe dieses Leiden nach seiner Einreise ins Bundesgebiet bekommen. Seine Eltern und seine verheirateten Schwestern lebten im Herkunftsland. Sein Bruder lebe seit 2005 als anerkannter Flüchtling in Österreich. Der Beschwerdeführer habe bis 2011 im Heimatdorf im Elternhaus gelebt, danach bis 2013 in Sotschi und anschließend bis 2016 in Abchasien, ehe er nach Österreich gereist sei. Zum Fluchtgrund führte er aus, keine Probleme mit den Behörden gehabt zu haben. Er habe Probleme mit Behördenorganen wegen einer Blutrache. Sein Onkel väterlicherseits sei 2004 an einen Autounfall beteiligt gewesen. Der Bruder des Beschwerdeführers habe deswegen schon das Land verlassen, zwei Cousins seien auch aus Tschetschenien geflüchtet und die Söhne eines anderen Onkels seien auch anderswo. Er selbst sei deswegen nach Sotschi gegangen und dann weiter nach Abchasien. Dann sei er hierhergekommen. Der Onkel sei bereits verstorben, 2006 wegen Stress und hohem Blutdruck. Die Gegner kenne er nicht persönlich, er wisse nur, dass sie aus dem Heimatdorf Kadyrovs kämen. Er habe gehört, dass sie Uniformen getragen hätten und schließe daraus, dass sie mit diesem zusammenarbeiten würden. Damals sei er sehr jung gewesen (17!) und habe die Leute persönlich nicht gesehen. Bei dem Unfall 2004 seien 3 oder 4 Männer ums Leben gekommen, die genaue Zahl sei nicht wichtig. Blutrache gelte für alle. Befragt, ob jemand aus seiner Familie umgebracht worden sei, gab er an, dass alle rechtzeitig ausgereist seien. Er habe keinen Vater, gegen Frauen gebe es keine Blutrache. 2016 hätten Unbekannte bei Nachbarn nach dem Beschwerdeführer gesucht. Er habe nur zweimal davon erfahren, einmal 2013 in Sotschi und nochmals 2015 in Abchasien. Sein Bruder habe ihm geraten, nach Österreich zu kommen. Im Fall der Rückkehr befürchte er umgebracht zu werden.

Nach den vorgelegten Befunden vom Juni 2017 wurde beim Beschwerdeführer „TBC linker Oberlappen ED 8/2016, spezifische Spondylodiszitis TH8/TH9 mit paravertebraler Einschmelzung, D-Hypovitaminose, antituberkulotische Therapie Rifoldin plus INH seit 8/2016 Etibi und Pyrafat 8-11/2016“ diagnostiziert und eine medikamentöse Behandlung bestätigt.

Am 03.08.2018 wurden für den Beschwerdeführer ärztliche Befunde vom Mai und Juni 2018 vorgelegt, wonach beim Beschwerdeführer zuletzt „akuter Thoraxschmerz im Bereich des 3.Rippenbogens, St.p. Dekompression dorsale Spondylodese Th8/9 4.5.2018 bei spezifischer Spondylitis bei bekannter Knochen-TBC, pulmonale TBC linker Oberlappen“ diagnostiziert wurde. Dem Befund ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer am 06.06.2018 operiert wurde. Als weitere Maßnahmen wurden eine TBC-Therapie 4-fach Kombination für 2 Monate und danach für 7 Monate 2-fach Kombination sowie eine Kontrolle in 4 Wochen empfohlen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 06.03.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 13.06.2016 hinsichtlich Asyl (Spruchpunkt I.) und subsidiären Schutz (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgestellt, dass der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Fluchtgrund nicht glaubhaft sei und eine Gefährdung oder Verfolgung des Beschwerdeführers nicht habe festgestellt werden können. Er verfüge über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, womit er über Unterstützungs- und Unterkunftsmöglichkeiten verfüge. Er sei arbeitsfähig und die medizinische Behandlung seiner Erkrankung sei im Herkunftsstaat gewährleistet. Er sei illegal nach Österreich eingereist und familiäre oder soziale Kontakte, die eine Bindung an Österreich darstellen würden, seien nicht feststellbar gewesen. Er beziehe staatliche Grundversorgung und gehe keiner Arbeit nach. Seinen Aufenthalt regle er auf asylrechtlicher Basis. Er besuche keinen Deutschkurs, eine Integration sei nicht feststellbar gewesen. Er verfüge über Verwandte im Herkunftsstaat. Beweiswürdigend wurde zu seinen Fluchtgründen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seinen Angaben anlässlich der Antragstellung im Rahmen der Einvernahme (beim Bundesamt) nichts hinzufügen habe wollen, offenbar um sich nicht festzulegen. Auch die extrem vage Schilderung seiner Fluchtgründe sei zur Glaubhaftmachung völlig ungeeignet gewesen. Er habe von sich aus weder Details vorgebracht, noch habe er Ausführungen gemacht, die von einer Erzählung sprechen ließen, welche sich auf wahre Begebenheiten beziehe. Dass er nicht einmal die Namen der Verfolger habe nennen können, sei Grund genug, sein Vorbringen nicht als glaubhaft zu erachten, insbesondere weil er aufgefordert worden sei, seine Fluchtgründe konkret und detailreich zu schildern. Zudem habe er zum Tod des Onkels völlig widersprüchliche Angaben gemacht, indem er zunächst dessen Ermordung und später beim Bundesamt vorgebracht habe, dass er an Stress und hohem Blutdruck verstorben sei. Auch habe er versucht, eine Bedrohung durch tschetschenische Behörden darzustellen, sei jedoch nicht in der Lage gewesen, einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu seiner angeblichen Bedrohung schlüssig darzulegen. Auch bei dieser Behauptung seien nur Fragmente eines Sachverhaltes vorgebracht worden und er habe offenbar bewusst Details vermieden, um keine Widersprüche zu erzeugen. Aus seinem lustlosen Verhalten bei der Findung des maßgeblichen Sachverhaltes ergebe sich eindeutig, dass er sich lediglich der Eckpfeiler einer erfundenen Geschichte bediene und während der Einvernahme versuche, diese weiter zu konstruieren. Auch die Aussage seines Bruders beim Bundesasylamt sei sehr oberflächlich und vage gewesen und auch er habe zur angeblichen Fluchtgeschichte nichts Genaueres angeben können bzw. wollen. Die in zweiter Instanz erfolgte Zuerkennung von Asyl an seinen Bruder begründe keinen Fluchtgrund für den Beschwerdeführer. Rechtlich wurde ausgeführt, dass sein Vorbringen über Bedrohungen seitens der russischen Behörden aus den angeführten Gründen nicht als glaubhaft zu erachten gewesen seien. Sonstige Fluchtgründe habe er nicht vorgebracht und angegeben, keine Probleme mit staatlichen Behörden gehabt und sich nie in der Politik engagiert zu haben. Eine asylrelevante Verfolgung sei daher nicht glaubhaft. Auch auf Grund seiner persönlichen Merkmale habe nichts Anderes festgestellt werden können (zu Spruchpunkt I.). Auch die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz seien nicht gegeben, da nach den Länderfeststellungen in der Russischen Föderation keine Situation vorliege, in der jeder Zurückkehrende der reellen Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgeliefert sei. Es sei davon auszugehen, dass sowohl die Grundversorgung als auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet seien. Er leide an Tuberkulose, jedoch nicht an einem lebensbedrohlichen Krankheitsbild, zumal er in jüngster Zeit keine weiteren Befunde mehr vorgelegt habe und auch alle erforderlichen Medikamente in der Russischen Föderation erhältlich seien. Die Behandlung der Tuberkulose und die notwendigen Medikamente seien in der Russischen Föderation/Tschetschenien vom Staat gedeckt. Um eine kostenlose Tuberkulosebehandlung zu erhalten, müsse der Patient in der örtlichen Tuberkuloseeinrichtung registriert sein. In größeren Städten (wie in Grosny) sei die Tuberkulosebehandlung besser zugänglich. In Tschetschenien lebende XDR-Tuberkulosepatienten könnten an irgendeine spezialisierte Tuberkuloseeinrichtung in der russischen Föderation überwiesen werden (zu Spruchpunkt II.). Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 seien nicht hervorgekommen (zu Spruchpunkt III.). In Österreich habe kein relevantes Familienleben festgestellt werden können. Er habe in Österreich Verwandte, jedoch bestehe kein gemeinsamer Haushalt und kein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen. Er gehe keiner Arbeit nach und spreche kaum Deutsch. Er habe auch keine sonstigen privaten Bindungen an Österreich und befinde sich erst seit kurzer Zeit hier. Er habe den Großteil seines Lebens in der Russischen Föderation verbracht. Ein Großteil seiner Angehörigen lebe noch in der Russischen Föderation. Nach Abwägung der persönlichen und öffentlichen Interessen stelle eine Rückkehrentscheidung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Privat- und Familienleben dar (zu Spruchpunkt IV.). Diese sei mangels Gründen gemäß § 50 FPG auch zulässig (Spruchpunkt V.). Mangels Gründen im Sinne des § 55 Abs. 1 bis 3 FPG sei die Frist für die freiwillige Ausreise zu Recht mit 2 Wochen festgelegt worden (zu Spruchpunkt VI.).

In der dagegen vom bevollmächtigten Vertreter erhobenen vollumfänglichen Beschwerde wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen angegeben habe, er werde von Verwandten der bei einem durch einen von seinem Onkel verursachten Unfall ums Leben gekommenen drei Opfer bedroht. Der Onkel sei bereits getötet worden, der ältere Bruder sei bereits in Österreich und die Söhne des Onkels seien ebenfalls ausgereist. Der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt des Unfalles noch minderjährig gewesen. Er leide an Tuberkulose und werde von seinem seit 2005 als Asylberechtigter in Linz aufhältigen Bruder regelmäßig zu Arztterminen begleitet und auch regelmäßig mit Kleidung oder Geld unterstützt.

Dieser Bruder hätte von der Behörde als Zeuge geladen und einvernommen werden sollen, vor allem zur persönlichen Situation des Beschwerdeführers und einem etwaigen Abhängigkeitsverhältnis. Die Länderfeststellungen seien unvollständig und daher mangelhaft. Sie würden keinen Bezug zur konkreten Situation des Beschwerdeführers haben und auch nichts zur in Tschetschenien weit verbreiteten Blutrache beinhalten. Sodann wurde aus englischsprachigen Länderberichten zur Blutrache zitiert, wonach diese in Tschetschenien und Inguschetien allgemein verbreitet sei. Nach einem ebenfalls zitierten Bericht der Stuttgarter Zeitung aus 2013 könnten vor Blutrache aus Tschetschenien Geflohene an anderen Orten trotzdem nicht sicher sein. So habe ein Autofahrer, der 2001 in Grosny einen Unfall verursacht habe, bei welchem ein Mann getötet worden sei, und sei kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis verstorben. Daraufhin hätten die Brüder des Getötetem dem Sohn des Unfalllenkers Rache geschworen. Dieser sei nach Moskau gegangen, dort aber von den Verwandten des Opfers, welche bei der Polizei gearbeitet hätten, aufgespürt worden. Zurück in Tschetschenien sei er kurzzeitig verhaftet und geschlagen worden, er habe sich freikaufen müssen. Außerdem hätten nur unzureichende Informationen zur Behandlung und Therapie von TBC in Tschetschenien in den Bescheid Eingang gefunden. Die besonders gravierende Form der Erkrankung finde keinen Niederschlag in den Länderfeststellungen. Selbst aus den zur Situation der Rückkehrer getroffenen Feststellungen ergebe sich, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen, insbesondere, wenn sie sich gegen die gegenwärtigen Machthabe engagiert hätten. Außerdem würden im angefochtenen Bescheid ausführliche Berichte über die Lage von Personen fehlen, welche sich jahrelang in Europa aufgehalten hätten und nach Abschiebung der Beobachtung des tschetschenischen Machthabers ausgesetzt seien. Weiters wurde eine unschlüssige Beweiswürdigung gerügt. Außerdem seien die relevanten Auszüge aus der Einvernahme vom 30.06.2017 dem Bescheid nicht beigelegt worden und wegen der kurzen Frist eine Akteneinsichtnahme nicht möglich gewesen, weshalb sich die Beschwerde auf die Aussagen des Beschwerdeführers stütze. Der Beweiswürdigung sei ein Abgleich mit aktuellen Länderberichten nicht zu entnehmen, wodurch die tatsächlichen Gegebenheiten in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt würden, sodass die Behörde keine nachvollziehbaren Aussagen über die Plausibilität des Fluchtvorbringens bzw. dessen GFK-Relevanz habe treffen können. Sofern die Behörde Widersprüche zur Person des Beschwerdeführers, seinem Gesundheitszustand und dem Verhältnis zu seinem Bruder erblicke, sei anzumerken, dass sich der Beschwerdeführer derzeit in Behandlung befinde und Medikamente benötige. Vorgelegt wurden ärztliche Befunde von März bis September 2018. Der Beschwerdeführer sei von seinem Bruder abhängig. Dieser begleite ihn zu allen Arztterminen, übersetze für diesen und regle auch sonst seine Angelegenheiten hier in Österreich. Auch wohne der Beschwerdeführer ab und zu bei seinem Bruder und dessen Frau, wo er manchmal auf deren Kinder aufpasse. Es bestehe daher sowohl ein schützenswertes Familienleben als auch ein Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Bruder. In der Russischen Föderation habe er keine Familienangehörigen oder sonstigen sozialen Kontakte, welche ihn unterstützen könnten. Außerdem werde wegen der dem Beschwerdeführer vorgehaltenen Widersprüche zum Tod seines Onkels und Vaters auf die Judikatur des VfGH (27.06.2012, U 98/12) hingewiesen, wonach die Erstbefragung nicht der näheren Befragung zu den Fluchtgründen diene, weshalb Widersprüche zur Einvernahme seitens der Asylbehörden nicht vorrangig herangezogen werden dürften. Der Beschwerdeführer habe richtig erklärt, dass der Onkel von den Gegnern umgebracht worden sei, der Vater sei aus gesundheitlichen Gründen verstorben. Zum Vorhalt der Behörde, dass der Verkehrsunfall nicht ordnungsgemäß dargestellt worden sei, sei darauf zu verweisen, dass der Beschwerdeführer damals noch minderjährig gewesen sei, sodass er noch einige Zeit habe friedlich (dort) leben können. 2011 (Der Beschwerdeführer war damals 24 Jahre alt.) sei er dann nach Abchasien in Georgien ausgereist, wo er bis 2016 geblieben sei, ehe er nach Österreich zu seinem Bruder gefahren sei. Dieser sei ebenfalls wegen der Blutrache geflohen und sei darüber bereits entschieden worden. Mutter und Vater im Herkunftsstaat seien bereits verstorben und der Bruder in Österreich sei sein nächster Verwandter. Dem Beschwerdeführer drohe auf Grund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie in der Russischen Föderation Verfolgung. Nach dem Tod des Onkels seien dessen Söhne und sodann der Beschwerdeführer und sein Bruder bedroht gewesen. Dem Beschwerdeführer drohe damit asylrelevante Verfolgung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm nicht zur Verfügung, weil die russischen Behörden nach den getroffenen Länderfeststellungen bei Blutrache keine Unterstützung anbieten würden. Außerdem würde es dem Beschwerdeführer nach seiner langen Abwesenheit aus Tschetschenien sehr schwer fallen, wieder Fuß zu fassen. Nach Ausführungen zur Rückkehrentscheidung wurde ua. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Einem beigelegten Ambulanzbericht einer klinischen Abteilung für Orthopädie eines Krankenhauses vom 11.09.2018 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer an „Spondylodiszitis TH8/9“ leidet.

Dem am 26.04.2019 ua. vorgelegten Ambulanzbericht vom 04.04.2019 sind die Diagnosen „Z.n. dorsaler Spondylodesis TH8/9, tuberkulöse Spondylodiszitis TH8/9“ zu entnehmen sowie als Therapie „weiter Rifoldin + INH, Laborkontrolle im Monatsabstand fortsetzen, Hebebelastung von max. 10 kg. beibehalten, Verlaufskontrolle in 6 Monaten“.

Dem ebenfalls vorgelegten Antrag auf Rückkehrhilfe ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Kontakt mit seiner Mutter hat und weiters, dass er in Russland 6 Jahre als Maler in einer Möbelfabrik erwerbstätig war und nun nach seiner Operation ein kleines Unternehmen gründen wolle, wobei er von seinen Familienangehörigen unterstützt würde.

Der Beschwerdeführer ist nach der Mitteilung von IOM vom 11.06.2019 im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr am 06.06.2019 in die Russische Föderation zurückgekehrt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation sowie Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe moslemischen Glaubens, stellte am 13.06.2016 nach illegaler Einreise den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 07.11.2016 wurde der Antrag wegen der Zuständigkeit Polens zur Prüfung seines Asylantrages gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesen und die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers angeordnet. Dier dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.01.2017, GZ. W165 2140806-1/7E, Folge gegeben, das Verfahren zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.

Seinem älteren Bruder wurde davor mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 22.01.2008, Zl. 261575-2-XIX/62/2007, Asyl gewährt, weil als glaubhaft angenommen wurde, dass er im ersten Tschetschenienkrieg Widerstandskämpfer unterstützte und dass ihm im Fall der Rückkehr wegen eines von seinem Onkel 2004 verursachten Verkehrsunfalles Blutrache drohe. Darin wurde festgestellt, dass sowohl der Onkel als auch dessen Sohn bereits getötet worden seien. Da der Tod eines Jugendlichen bisher noch nicht gerächt worden sei, befürchte er weitere Blutrache. Seine Eltern und seine fünf Schwestern würden noch im Herkunftsstaat leben und sein jüngerer Bruder (der damals 21-jährige Beschwerdeführer) habe aus Angst vor der Blutrache Tschetschenien bereits verlassen und halte sich in Inguschetien auf.

Der Beschwerdeführer hielt sich im Jahr 2008 bereits in Inguschetien, danach bis 2013 in Sotschi und anschließend in Abchasien auf, ehe er 2016 via Polen illegal ins österreichische Bundesgebiet einreiste.

Es ist nicht glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Blutrache droht, weil sein Onkel väterlicherseits 2004 in einen Unfall verwickelt war, bei dem drei Personen getötet wurden, nachdem der Onkel und dessen Sohn bereits deswegen getötet wurden. Es ist ferner nicht glaubhaft, dass sein Bruder deswegen Tschetschenien 2005 verlassen hat, ebenso wie zwei Cousins, während der Vater des Beschwerdeführers dort noch bis 2014 gelebt haben soll.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen oder wegen des Bestehens einer sonstigen Gefährdungslage verlassen hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in eine GFK-relevante Verfolgungssituation oder sonstige Gefährdungslage geraten würde.

Beim Beschwerdeführer wurde anlässlich seines Asylantrages eine Lungen- und eine Knochen-TBC festgestellt, welche anschließend im Bundesgebiet behandelt wurde. Er leidet aktuell an keiner akut lebensbedrohlichen Erkrankung.

Im Herkunftsstaat leben noch die Mutter und die fünf verheirateten Schwestern des Beschwerdeführers sowie weitere Verwandte. Er war im Herkunftsstaat bereits erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten. Er bezog laufend staatliche Grundversorgung und ging im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nach. Er wurde im Bundesgebiet von seinem asylberechtigten Bruder zu Terminen begleitet und mit Kleidung und Geld unterstützt. Ein gemeinsamer Haushalt lag jedoch nicht vor. Sonstige soziale Kontakte wurden nicht vorgebracht. Er ist nicht Mitglied in einem Verein oder in einer sonstigen Organisation im Bundesgebiet gewesen und hat auch keine Deutschkenntnisse erworben. Der Beschwerdeführer beherrscht Tschetschenisch als Muttersprache und spricht auch Russisch. Er hat seine Schulausbildung in der Russischen Föderation absolviert, war dort bereits erwerbstätig und den Großteil seines bisherigen Lebens dort verbracht.

Der Beschwerdeführer ist am 06.06.2019 unter Gewährung von Rückkehrhilfe in die Russische Föderation ausgereist.

Zur Situation im Herkunftsstaat:

1.Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederationnode/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

- CIA Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GKS – Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

- BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.1. Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der ISSprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des ISKalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

- DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.2. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

3.Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

3.1. Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). SchariaGerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter un

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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