Entscheidungsdatum
01.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2138799-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Julia Kolda, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2016, Zahl 1072062801-150610901, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.06.2020 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde am 03.06.2015 am Hauptbahnhof in 1100 Wien gemeinsam mit einem Landsmann mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am folgenden Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX (auch XXXX ), Akhunzadgan (auch Akhound Zadagan), Distrikt Chaparhar (auch Chaprehar), Provinz Nangarhar, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe sieben Jahre die Grundschule in Peshawar (Pakistan) besucht. Seine Familie (Mutter, Bruder, zwei Schwestern) lebe noch zu Hause, sein Vater sei verstorben.
Er sei in Pakistan geboren und habe mit seiner Familie bis zum Jahr 2010 in Peshawar gelebt. Dann sei seine Familie nach Afghanistan zurückgekehrt, wo er bis zu seiner Ausreise vor ca. einem Monat gelebt habe. Er sei über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Österreich gebracht worden. Die schlepperunterstützte Reise habe sein Onkel mütterlicherseits organisiert und 7.000 US-Dollar bezahlt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass ein Führer der Taliban in ihrer Region namens XXXX seine Schwester XXXX heiraten habe wollen. Der BF sei dagegen gewesen und habe vor sechs Monaten seine Schwester mit einem anderen Mann verheiratet. Aus Rache habe XXXX seinen Vater getötet und den BF beschuldigt, gegen die Taliban zu spionieren. Aus Angst um sein Leben sei er geflüchtet.
1.3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Steiermark am 05.07.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben und legte Belege zu seiner Identität (Tazkira – afghanisches Personaldokument), zu seinem Fluchtvorbringen (Schreiben von Dorfältesten in XXXX ) sowie zu seiner Integration (Deutschkursteilnahmebestätigungen, Empfehlungsschreiben) vor.
Der BF gab zu seinen Lebensumständen befragt an, er habe in Pakistan nach der Schulzeit vier Jahre lang sowie ab 2010 auch in Jalalabad (Nangarhar, Afghanistan) in einem Fliesengeschäft gearbeitet. Er beantwortete Fragen detailliert. Seine Familie lebe aufgrund vieler Probleme mittlerweile bei einem Onkel in Kabul. Zum Unterhalt habe er auch ein Grundstück verkaufen müssen.
Zu seinem Fluchtvorbringen befragt gab der BF an (Auszug aus der Niederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[...] VP [Verfahrenspartei]: Ein Herr namens XXXX , der Mitglied der Taliban ist, wollte meine Schwester heiraten, obwohl er schon 45 Jahre alt und auch schon verheiratet war. Er lebte im Nachbarhaus. Es war der 8. Monat im Jahre 2014, als er sein Vorhaben zum ersten Mal über seine Frauen verkündete, und im Dezember wurde der Druck größer, und er sagte zu meinem Vater, dass er darauf bestünde, sonst würde er meinen Vater umbringen. Meine Schwester wollte das nicht. Sie sagte, sie würde sich umbringen. Meine Schwester hat im Februar 2015 einen anderen Mann geheiratet, welcher unser Bekannter war, den ich vorher vermittelte.
LA [Leiter der Amtshandlung]: Haben Sie persönlich die Drohungen gehört, oder wurde Ihnen das erzählt?
VP: Mein Vater hat mir davon erzählt, und auch das ganze Dorf wusste darüber Bescheid.
LA: Erzählen Sie weiter.
VP: Am 05.02.2015 hat meine Schwester in Kabul bei meinem Onkel geheiratet. Zehn Tage später kehrten wir nachhause zurück. Meine Schwester zog zu ihrem Mann nach Jalalabad. Einige Dorfbewohner kamen zu uns und fragten nach meiner Schwester und ahnten, dass meine Schwester geheiratet hat, da sie nicht mehr bei uns wohnte. Am 11.12.1393 um ca. 15:00 Uhr sind XXXX und seine Leute zu meinem Vater gegangen und fingen an zu streiten. Es sind danach Schüsse gefallen, und mein Vater wurde dadurch getötet. Ich war nicht vor Ort, da ich arbeitete. Meine Mutter hat mich angerufen und hat mir davon erzählt. Ich war wie gelähmt und konnte eine Stunde lang nichts tun. Ich ging danach zu meinem Chef, der in Jalalabad im Bezirk Majburabad wohnte, und blieb bis zum nächsten Tag dort. Am nächsten Tag fand das Begräbnis statt, dem ich nicht beiwohnte. Meine Familie kam danach zu meiner Tante in Jalalabad. Ich ging ebenfalls dort hin und blieb eine Nacht dort. Mein Onkel sagte zu mir, dass ich mit ihm nach Kabul gehen solle, und er würde danach meine Ausreise finanzieren. Er sagte, dass ich mich nicht mehr frei bewegen könne und nicht sicher wäre. In Kabul hielt ich mich noch ein Monat und zehn Tage auf. In dieser Zeit gab es keine weiteren Vorkommnisse. Ich durfte nicht rausgehen. Von Kabul aus fuhr ich dann nach Nimroz mittels Schlepper, teils mit Fahrzeug, teils zu Fuß. Wir waren ca. elf Personen.
LA: Warum sollten gerade Sie verfolgt worden sein? Bisher gab es noch keine persönliche Bedrohung.
VP: Mein Leben war deshalb bedroht, weil ich gegen diese Ehe etwas unternommen habe. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich etwas gegen XXXX unternommen.
LA: Warum Sind Sie nicht nach Kabul gegangen? Die Stadt hat über vier Millionen Einwohner, und es besteht dort keine Meldepflicht. Man würde Sie dort nicht finden. Auch ist Ihre Familie dort.
VP: XXXX hätte mich überall finden können. Er ist sehr mächtig, außerdem wussten die Dorfbewohner, wo ich war. Ich habe in meinem Heimatdorf auch einen Besitz, und ich musste über kurz oder lang dort[hin] zurückkehren.
LA: Glauben Sie, dass man Sie dort überhaupt finden könnte? Auch lebt Ihre Familie dort und hat keine Probleme mit den Taliban.
VP: Ich hätte es psychisch in Kabul nicht ausgehalten. Dort wohnen auch Leute aus meinem Dorf, die auch meinen Onkel kennen.
LA: Warum trachtet dieser XXXX nicht nach dem Leben des Ehemannes Ihrer Schwester. Er hätte doch den gleichen Grund, den Mann Ihrer Schwester zu töten. Ihre Schwester wäre danach wieder frei?
VP: Er und meine Schwester bekommen seit meinem Verlassen Drohanrufe.
LA: Aber sie leben nach wie vor dort.
VP: Sie fühlen sich sicher, weil der Bruder des Mannes meiner Schwester für die Regierung arbeitet.
LA: Aber es werden doch auch Verwandte von Regierungsleuten von den Taliban bedroht?
VP: Sie sind sicher dort.
LA: Warum sind Sie nicht dorthin gegangen, um in Sicherheit zu leben?
VP: Ich hätte es dort psychisch nicht ausgehalten, außerdem habe ich dort gearbeitet, und alle kannten mich.
LA: Haben Sie oder Ihre Mutter sich an die Polizei oder den Dorfältesten gewandt?
VP: Ich bin zweimal zum Bürgermeister von Chaprehar gegangen, um ihn um Unterstützung zu bitten, aber er hat nichts gemacht. Es war wegen dieser Zwangsverheiratung. Die Polizei hätte nach dem Tod meines Vaters nichts machen können.
LA: Wie haben Sie das Schreiben vom Dorfältesten bekommen?
VP: Meine Mutter hat mir das Schreiben besorgt. Sie ist extra dorthin gefahren.
LA: Warum sind Sie nicht im Iran geblieben? Dort wären Sie vor den Taliban bereits sicher gewesen, und es gäbe auch keinen Grund weiterzureisen.
VP: Im Iran sind schlechte Bedingungen für Flüchtlinge. Man kann sich dort nicht weiterbilden und arbeiten.
LA: Warum haben Sie nicht in Serbien oder Bulgarien um Asyl angesucht?
VP: Die Reise war durchgeplant, und ich kannte mich nicht aus. Ich wusste nicht, wo Europa liegt. Wir wurden von den Schleppern hier in Österreich ausgesetzt. Ich wollte ursprünglich nach Deutschland.
Sie haben bei der Erstbefragung angegeben, dass Sie nach dem Tod Ihres Vaters beschuldigt worden sind, gegen die Taliban zu spionieren. Das haben Sie heute nicht erzählt. Wie können Sie mir das erklären?
VP: Ich wurde im Dorf als Spion bezeichnet.
LA: Woher wissen Sie dass, Sie waren ja nicht mehr zuhause.
VP: Ich habe es von meiner Mutter erfahren.
LA: Haben Sie alle Fluchtgründe genannt?
VP: Meine Schwester kann mich nicht mehr besuchen, das ist sehr schwer für mich.
LA: Woher wissen Sie, dass XXXX zu den Taliban gehört?
VP: Unser Dorf wird von den Taliban beherrscht, und XXXX ist der Anführer.
LA: Wann hatten Sie das erste Mal Kontakt zu den Taliban?
VP: Es war XXXX unser Nachbar, das war 2010, als wir wieder dorthin gezogen sind. Damals hatte er nicht so viel Macht, und wir haben auch zusammen in der Moschee gebetet.
LA: Wie verstehen Sie Nachbar, Zaun an Zaun oder weiter weg?
VP: Ca. drei Minuten Fußweg von unserem Haus weg. [...]“
1.4. Das BFA veranlasste die Übersetzung der beiden vorgelegten Schriftstücke aus Afghanistan (Tazkira, Schreiben der Dorältesten). Bei letzterem handelt es sich um ein Schreiben der Mutter des BF und eine Antwort der Dorfältesten sowie der Sicherheitsbehörden, worin sie den Angriff auf das Haus des BF und den Tod seines Vaters bestätigen.
1.5. Mit Bescheid vom 04.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 03.06.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG).
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Der BF habe eine aktuelle asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht, und wurde dies im Wesentlichen damit begründet, dass er keine persönliche Bedrohung oder Verfolgung angegeben habe und sein Vorbringen auch mehrere Widersprüche enthalten hätte. Angenommen werde, dass er spätestens im Iran in Sicherheit gewesen wäre und nach Österreich gereist sei, um hier ein besseres Leben zu führen.
1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigten anwaltlichen Vertreters vom 20.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen des BF im Verfahren kurz zusammengefasst wiederholt und moniert, dass der BF seine begründete Furcht vor Verfolgung aus Rache – wegen Sippenhaftung für seinen Vater – nachvollziehbar dargelegt und glaubhaft gemacht habe. Die von der belangten Behörde angeführten vermeintlichen Widersprüche erschienen konstruiert und nicht zutreffend. Der BF sei vor dieser Verfolgung in seinem Herkunftsstaat nirgends sicher und er verfüge auch nicht über ein tragfähiges familiäres Netzwerk.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
1.7. Mit Eingabe seines damaligen Vertreters vom 16.04.2019 legte der BF weitere Belege zu seinem Fluchtvorbringen sowie – zahlreich – zu seiner Integration vor.
Bei dem Beleg bezüglich seines Fluchtgrundes handelte es sich um eine Anfrage des Kommissariates der Sicherheitspolizei des 8. Bezirks der Stadt Kabul vom 12.02.2019 und eine Anfragebeantwortung des Notfallkrankenhauses (samt Übersetzung), wonach XXXX [Anmerkung: ein Cousin des BF] bei einer Kriminaltat in der Nacht eine Schusswunde an der linken Hand, Bruch der Zeige- und Mittelfinger der linken Hand und Verletzung des linken Bauchbereiches erlitten habe und operiert worden und am 14.02.2019 wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden sei, sowie um die Tazkira seines Cousins (samt Übersetzung).
Diese Eingabe samt Beilagen wurde seitens des BVwG auch dem BFA übermittelt.
1.8. Das BVwG führte am 05.06.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF im Beisein seiner nunmehrigen anwaltlichen Vertreterin sowie zweier Vertrauenspersonen persönlich erschien.
Dabei bestätigte der BF seine bisher im Verfahren gemachten Angaben. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er ergänzend an (Auszug aus der Niederschrift):
„[...] BF: Im Jahr 2019 haben sich zwei Vorfälle zugetragen. Bei einem Vorfall am 12.02.2019 wurde mein Cousin, der Sohn des Bruders meines Vaters, von den Taliban angeschossen. Am 21.06.2019 ist mein Bruder von den Taliban erschossen worden. Das waren dieselben Taliban, von denen mein Vater auch getötet wurde. Der Anführer der Talibangruppe heißt XXXX .
RI [Richter]: Das BFA hat geschrieben, dass nur der Vater, aber nicht Sie bedroht worden seien?
BF: Wir wurden beide bedroht. Ich war absolut dagegen, dass meine Schwester Frau des genannten Mannes wird. Wir hatten ein gutes Verhältnis miteinander, ich und meine Schwester. Die Hochzeit meiner Schwester habe ich organisiert bzw. habe ich dafür gesorgt, dass meine Schwester ihren Ehemann geheiratet hat, deshalb wurde mir vorgeworfen, dass ich daran schuld sei. Ich hatte Angst um meine Schwester, dass sie möglicherweise zwangsverheiratet werden könnte oder eines Nachts von den Taliban abgeholt werden könnte. Ich habe alles persönlich mit der Schwester besprochen, sie hat gesagt, sie bringe sich um. Mein Vater wollte das zwar auch nicht, aber er war auf mich böse, da meine Vorgangsweise den kulturellen Sitten widersprach, sie ohne Zustimmung des Onkels und ohne Verlobung zu verheiraten. Diese Schwester lebt seit 2018 mit ihrem Mann in Peshawar, nachdem ihr Schwager bei einem Anschlag beide Beine verloren hatte.
RI: Das BFA sagt, dass Sie nicht bedroht worden wären. Was sagen Sie dazu?
BF: Das ganze Dorf wusste, dass ich dagegen war. Ich war der älteste Sohn der Familie. Außer meiner Mutter gibt mir meine ganze Familie die Schuld an den Vorfällen, aber ich wollte meiner Schwester helfen (BF weint).
Die Verhandlung wird um 09:40 Uhr unterbrochen und um 09:45 Uhr fortgesetzt.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Ich müsste als ältester Sohn der Familie Blutrache an XXXX üben. Wenn ich es nicht tun würde, so würde er dies nicht glauben und mich töten, wie er auch meinen Bruder getötet hat. Auch meine Mutter und meine Tante könnten mich nicht unterstützen, meine Tante hat drei Töchter zuhause. Ich müsste meine Mutter mitnehmen, weiß aber nicht, wohin. Ich würde die Probleme nur noch größer machen.
RI: Wie hat XXXX Ihren Vater getötet?
BF: Er ist zu uns nachhause gekommen, ich war damals nicht zuhause. Mein Vater hat gesagt, er werde versuchen, mit ihm zu reden. Das Gespräch artete in Streit aus, und XXXX hat meinen Vater mit einer Pistole erschossen.
RI: Wieso hat er Ihren Bruder auch noch getötet?
BF: Weil XXXX gefürchtet hat, dass mein Bruder einmal Blutrache üben würde. XXXX sagte zu meinem Onkel väterlicherseits: ‚Siehst du das? Ich habe bereits deinen Bruder und dessen Sohn getötet. Solltest du versuchen, Blutrache zu nehmen, dann würde dasselbe mit dir auch passieren.‘ Er oder seine Leute haben auch den Sohn dieses Onkels, meinen Cousin, angeschossen. XXXX ist der Anführer der Talibangruppierung im ganzen Gebiet Chaprehar.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Die Vertreterin des BF gab dazu sowie zum Vorbringen des BF an:
„Unter Hinweis auf das detailreiche Vorbringen sowie die seit der letzten Befragung durch das BFA in der heutigen Verhandlung vorgebrachten neuen Ereignisse (Verletzung des Cousins, Tötung des Bruders) konnte der BF eine tatsächliche, individuelle Verfolgungsgefährdung nachvollziehbar darlegen. Die Gefahr der Verfolgung geht eindeutig von dem Chef der örtlich kontrollierenden Talibangruppe aus ( XXXX ). Ein staatlicher Schutz wäre bei Rückkehr nicht gegeben. Auch die von UNHCR geforderte Risikoanalyse bezüglich einer Verfolgungsgefahr ergibt auf Grund der Zugehörigkeit des BF zu mehreren der definierten Risikogruppen eine klare Gefahr der Verfolgung des BF. Hierzu wird verwiesen auf die Ausführungen im Länderinformationsblatt und, detailreicher, in einer gutachterlichen Stellungnahme von Friederike Stahlmann zur Gefährdung von Rückkehrern. Der BF gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Bekannt ist, dass die Paschtunen ein sehr strenges, enges soziales Gefüge haben, und der BF könnte sich dem nicht entziehen.“
Dem BFA wurden die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 04.06.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 05.07.2016, die vom BF vorgelegten Belege zu seiner Identität, zu seinem Fluchtvorbringen (Schreiben betreffend den Tod des Vaters am 02.03.2015) und zu seiner Integration sowie die Beschwerde vom 20.10.2016
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Seiten 122 bis 173 im Verwaltungsakt)
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 05.06.2020 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren weiters vorgelegten Belege zu seinem Fluchtvorbringen (Schreiben betreffend eine Verletzung des Cousins am 12.02.2019 und eine Todesbestätigung betreffend den Bruder des BF, der wegen Blutrache am 21.06.2019 getötet worden sei) und zu seiner Integration
? Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
? Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Nangarhar (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 18.05.2020)
? Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er werde von den Taliban verfolgt
? gutachterliche Stellungnahme von Mag. Zerka Malyar vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1, zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan sowie eine Schnellrecherche der SFH (Schweizerischen Flüchtlingshilfe) vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari.
3.1.2. Der BF wurde in Peshawar (Pakistan) geboren, besuchte dort sieben Jahre die Grundschule und arbeitete dann vier Jahre in einem Fliesengeschäft. Im Jahr 2010 kehrte er gemeinsam mit seiner Familie (Eltern, Bruder, zwei Schwestern) nach XXXX , Distrikt Chaprihar, Provinz Nangarhar, Afghanistan, zurück und arbeitet bis zu seiner Ausreise in einem Fliesengeschäft in Jalalabad (Nangarhar).
3.1.3. Der BF verließ im Mai 2015 aus angegebenen Gründen Afghanistan und reiste nach Europa, wo er am 03.06.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seine Familie wohnte von 2015 bis 2018 beim Onkel mütterlicherseits in Kabul und lebt nun bei der Tante mütterlicherseits, deren Ehemann und deren sechs Kinder (drei Söhne, drei Töchter) in XXXX (in der Nähe von Jalalabad). Der Onkel väterlicherseits, dessen Sohn ebenfalls angeschossen worden ist, lebt in Afghanistan, sein Aufenthaltsort ist dem BF nicht bekannt.
3.1.4. Der BF bemüht sich in Österreich mit beachtlichem Erfolg um seine Integration (Deutschzertifikat B1, Pflichtschulabschlusszeugnis, Basismodul Ausbildung Behindertenbetreuer, Ausbildung Peer Mentor, Teilnahme Sprachcafé, Teilnahme an einem Kunstprojekt, Programmierkurs, Teilnahme an mehreren Rundfunk-Sendung, Bestätigung über gemeinnützige Tätigkeit im Pensionistenwohnhaus Penzing, wo der BF im Rahmen seiner Ausbildung wohnt, Bestätigung 700h Praxis ÖHTB im Rahmen der Ausbildung, gemeinnützige Tätigkeit beim Roten Kreuz). Er hat engen Kontakt zu einem österreichischen Ehepaar, das er „Papa“ und „Mama“ nennt, und die ihn auch zur Beschwerdeverhandlung als Vertrauenspersonen begleitet haben.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat glaubhaft gemacht, dass er seiner Schwester geholfen hat, eine drohende Zwangsverheiratung mit dem regionalen Taliban-Führer XXXX zu verhindern, indem er für sie – entgegen den paschtunischen Sitten ohne Zustimmung des Onkels und ohne vorhergehende Verlobung – eine Ehe mit einem von ihr begehrten Mann arrangiert hat. Als XXXX am 11.12.1393 (umgerechnet 02.03.2015) den Vater des BF zur Rede stellte, kam es zu einem Streit, bei dem dieser den Vater des BF erschoss.
Da der BF nach paschtunischem Gewohnheitsrecht (Paschtunwali) den Tod des Vaters zu rächen gehabt hätte und der Gegner dem zuvorkommen hätte müssen, flüchtete der BF aus dem Land.
Am 12.02.2019 wurde ein Cousin (ein Sohn des Bruders des Vaters) des BF von den Taliban in Kabul angeschossen, und am 21.06.2019 wurde der Bruder des BF von ihnen erschossen.
3.2.2. Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seines Verhaltens gegenüber XXXX (Verhinderung seiner Ehe) sowie wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters – zumal als ältester Sohn – von XXXX wegen Verletzung paschtunischer Sittenregelungen (Blutfehde), sowie um Blutrache zuvorzukommen, getötet zu werden.
3.2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Es konnte vom BF glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben angeführten asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.2.4. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung, zumal er landesweit aufgefunden werden könnte und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht hinreichend imstande wären, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.
3.2.5. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 18.05.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an – eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
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Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
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High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) – Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LW 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Berichten zufolge besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.09.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.09.2017; AAN 19.02.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.02.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.06.2019; vgl. CSR 12.02.2019). Aufgrund der militäri