TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/1 W108 2206280-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2020
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Entscheidungsdatum

01.07.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W108 2206280-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. BRAUCHART über

die Beschwerde

von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Nadja LORENZ, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2018, Zl. 1095786507 151818756/BMI-BFA WIEN AST,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Vorbringen:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Syriens, begehrte gemeinsam mit seinem Sohn XXXX , geb. XXXX (in der Folge I.), mit Antrag vom 20.10.2015, ihm internationalen Schutz nach dem AsylG 2005 (AsylG) zu gewähren (in der Folge auch Asylantrag).

Zu diesem Antrag gab der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung an, er sei syrischer Staatsangehöriger, Kurde, Moslem (Sunnite) und stamme aus dem Ort XXXX (im Folgenden: R.) im kurdischen Gebiet Nordsyriens. Er sei im September 2015 illegal aus Syrien ausgereist. Durch den Krieg sei er zum Verlassen Syriens gezwungen gewesen. Seinen Sohn habe er mitgenommen, da dieser zum Militär müsse und vermutlich sterben werde. Er wolle in Frieden leben. Im Falle einer Rückkehr drohe ihm der Tod durch den Islamischen Staat (IS/ISIS).

In zwei Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht) erstattete der Beschwerdeführer folgendes Vorbringen:

Seine Ehefrau halte sich mit den weiteren vier Kindern in der Türkei auf. Zwei Brüder lebten noch in R., ein Bruder sei in der Türkei, seine Eltern lebten in XXXX /Syrien. Mit seinem Vater und einem Bruder in R. habe er über das Internet Kontakt.

Er habe zwei Kinder im Alter von 20 und 22 Jahren, die im Krieg mitkämpfen müssten, wenn die syrische Regierung sie erwische. Er selbst würde als Reservist mitkämpfen müssen. Sie würden vom IS, der regulären syrischen Armee oder der Freien syrischen Armee (FSA) rekrutiert werden. Er wolle nicht kämpfen und sterben und auch niemanden umbringen. Die reguläre syrische Armee begehe völkerrechtswidrige Handlungen. Am Anfang sei es in R. noch nicht so schlimm gewesen, dann sei der Krieg auch dorthin gekommen und sie hätten sich zur Flucht entschlossen. Im Falle einer Rückkehr würde er sofort rekrutiert werden und er würde Leute umbringen müssen. Wenn er sich weigern würde, würde er selbst umgebracht werden. Sein Cousin väterlicherseits sei vom IS getötet worden. Wären er und seine Familie nicht ausgereist, hätten sie ein ähnliches Schicksal erlitten. Sie wären entweder vom Regime oder von den kurdischen Einheiten eingezogen worden. Im Jänner und im August 2017 hätten die Kurden, die Alliierten des Assad-Regimes, Mitglieder der PKK bzw. der YPG, in R. nach ihm und seinen Kindern gefragt. Diese würden die Jungen zwangsweise rekrutieren. Er habe mit seinem Bruder gesprochen und der habe ihm erzählt, dass nach ihm gefragt worden sei, weil man ihn und auch seine Kinder einziehen wolle. Sie würden sowohl von den Kurden als auch vom Regime zwecks Rekrutierung gesucht werden.

Er habe seinen Militärdienst nicht geleistet. Er sei erst im Jahr 2011 eingebürgert worden. Nach der Einbürgerung seien sie nicht gleich eingezogen worden, sie hätten darauf gewartet, bis sie eingezogen würden. Seine Brüder in Syrien hätten beim syrischen Staat und bei den Kurden den Antrag gestellt, vom Militärdienst befreit zu werden, da sie beide kleine Kinder hätten. Beide seien aktuell vom Militärdienst befreit, es sei aber möglich, dass sie einberufen werden. Er könne keinen derartigen Antrag stellen, da seine Kinder älter seien. Er sei auf der Vormerkliste der Reserve, jedoch nicht einberufen worden. Ein Bekannter, ein Beamter des syrischen Regimes, der in der Stellungskommission von R. arbeite, habe ihm, ca. sechs Monate bevor er R. verlassen habe, erzählt, dass sein Name auf der Liste der Reserve stehe. Anfangs hätte es keine Zwangsrekrutierungen gegeben, doch dann hätten die kurdischen Einheiten Personen, bei denen ein Einberufungsbefehl vorgelegen wäre, von der Straße mitgenommen und zwangsweise eingezogen. Die syrische Armee sei nicht mehr in R. gewesen, doch hätten die kurdischen Einheiten mit der syrischen Regierung kooperiert und diejenigen, die auf den Listen des Regimes gestanden wären, eingezogen. Darüber hinaus auch jene, die zu kämpfen in der Lage gewesen wären, zum Beispiel 14- oder 15jährige Jugendliche. Zu dieser Zeit hätten die Kurden die Kontrolle über die Stadt gehabt. Es hätte aber noch immer Beamte des syrischen Staates bei den Behörden gegeben.

Im Juni/Juli 2015 seien zwei ihm unbekannte Personen der kurdischen Einheiten zu ihm gekommen und hätten gefragt, warum er nicht mit ihnen kämpfe, er sei noch bei Kräften. Er habe eine Krankheit bzw. einen schlechten Gesundheitszustand als Ausrede vorgebracht, um nicht mitkämpfen zu müssen. Sie hätten daraufhin gesagt, dass sie seine Situation überprüfen bzw. bewerten würden. Es könne sein, dass sie damals nicht hart zu ihm gewesen seien. Aber wenn die Kurden wollten, könnten sie auch Kranke und Ältere einziehen.

Sein Reisepass sei ihm ausgestellt worden, als er eingebürgert worden sei. Er sei zu keinem Stellungstermin eingeladen worden, um zu überprüfen, ob er wehrdienstfähig sei. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien würde man ihn und seine Kinder sofort einziehen, in Damaskus am Flughafen würde er sofort verhaftet werden, da er als syrischer Bürger seinen Wehrdienst nicht geleistet hätte.

Der Sohn des Beschwerdeführers I. gab in seinem Asylverfahren u.a. an, er sei vom syrischen Regime und von den kurdischen Einheiten verfolgt. Er werde von beiden Seiten gesucht, beide Seiten hätten ihn in den Krieg geschickt, wobei er töten hätte müssen oder umgekommen wäre. In R. habe es auch Probleme zwischen der Bevölkerung und den kurdischen Einheiten sowie zwischen den kurdischen Einheiten und der regulären syrischen Armee gegeben. Zwei Cousins väterlicherseits hätten sich am Krieg beteiligt und seien getötet worden. Ein Cousin sei zwangsweise eingezogen und vom IS getötet worden, den zweiten Cousin hätten die kurdischen Einheiten zwangsweise einziehen wollen, er sei geflüchtet und von den Türken an der Grenze getötet worden. Zwar stehe der Herkunftsort unter Kontrolle der Kurden, dennoch würden sich auch Einheiten des syrischen Regimes in diesem Gebiet aufhalten, die Personen nach Bedarf – gleichgültig, ob es sich um Kurden oder Araber handle – einziehen würden. Die YPG und das Regime seien befreundet und das Regime könne den Ort betreten und rekrutieren. Er würde auch von der YPG rekrutiert und am Krieg beteiligt werden. Als sie gehört hätten, dass die YPG Jugendliche einziehe, hätte er sich mit seinem älteren Bruder zu Hause versteckt. Deshalb sei er nie persönlich aufgefordert worden, zu kämpfen. Freunde in seinem Alter seien eingezogen worden. Konkreter Anlass für die Ausreise aus Syrien sei der Tod seiner beiden Cousins gewesen. Er sei bei der Ausreise zwischen 17 und 18 Jahren gewesen. Sein Vater sei nicht eingezogen worden, weil er schon älter, um die 40 Jahre alt, gewesen sei und auch Kinder gehabt hätte. Wenn jemand über 35 Jahre sei, könne man sich freiwillig melden, werde aber nicht von den Kurden eingezogen. Das Regime rekrutiere nur Personen unter 33 Jahren. Sein Vater sei geflüchtet, weil er keine Perspektive gesehen und immer Angst um seine Familie gehabt hätte. Mit fortlaufender Zeit habe es keine Arbeit mehr gegeben. Das Regime hätte die Kurden damals nur deshalb eingebürgert, um Leute für das Militär zu haben, Jugendliche als Nachschub für die gefallenen Soldaten. Es habe ca. 4 Millionen staatenlose Kurden gegeben. Er habe gesehen, dass Jugendliche nach der Einbürgerung eingezogen worden seien. Seinem Vater sei nach der Einbürgerung vom Regime gesagt worden, er sei zu alt, um den Wehrdienst zu absolvieren. Sein Vater sei nie einberufen worden. Später habe das Regime verlautbart, dass Personen zwischen 19 und 33 Jahren eingezogen werden würden.

2. Mit dem nunmehr vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.). Mit diesem Bescheid wurde dem Antrag des Beschwerdeführers jedoch dahingehend Folge gegeben, dass dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten (rechtskräftig) zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde (Spruchpunkte II. und III.).

Dem Sohn des Beschwerdeführers I. versagte die belangte Behörde ebenfalls die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten.

Die belangte Behörde legte im angefochtenen Bescheid zu Grunde, dass der Beschwerdeführer Kurde und seit dem Jahr 2011 syrischer Staatsangehöriger sei sowie dass dessen Behauptungen, wonach er Syrien aus Furcht vor Zwangsrekrutierung durch PKK, YPG, PYD oder durch das syrische Regime verlassen hätte, nicht den Tatsachen entsprechen würden. Seine Angaben, dass nach ihm und seiner Familie gefragt worden sei, und dass er auf der Liste für den Reservedienst stehe, seien oberflächlich und detailarm gewesen. Hätte der Beschwerdeführer tatsächlich Furcht gehabt, wäre er sofort und nicht erst nach sechs Monaten ausgereist. Er hätte bis zu seiner Ausreise im September 2015 unbehelligt im Heimatort leben können. Hätte eine der Bürgerkriegsparteien tatsächlich Interesse am Beschwerdeführer gehabt, wäre bereits im Jahr 2015 eine Rekrutierung erfolgt. Überdies sei er im Jahr 2012 legal aus Syrien in die Türkei ausgereist und wiederum legal eingereist. Weiters hätte er das gesetzliche Höchstalter für den Militärdienst (42 Jahre) überschritten. Zwar würden auch ältere Männer immer wieder eingezogen werden, doch sei der Beschwerdeführer fast 47 Jahre alt und habe er den Militärdienst noch nicht abgeleistet. Überdies habe der Sohn des Beschwerdeführers I. ausgesagt, der Beschwerdeführer sei nicht eingezogen worden, weil er über 35 Jahre alt gewesen sei, und er sei geflüchtet, weil er keine Perspektive gesehen und Angst um seine Familie gehabt hätte. Die Militärdiensteinziehung des Beschwerdeführers sei daher nicht zu befürchten. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass grundsätzlich allen Personen wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung oder längerem Aufenthalt im westlichen Ausland bei einer Rückkehr nach Syrien eine Verfolgung drohe.

3. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides (Versagung des Asylstatus) richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG, in welcher der Beschwerdeführer unter Aufrechterhaltung seiner Verfolgungsbehauptungen ausführte, ihm sei von seinem Bruder mitgeteilt worden, dass im Jänner und im August 2017 von Kurden nach ihm und nach seinen Kindern gefragt worden sei. Er habe seine Erkundigungen bezüglich der Reserveliste genau geschildert, die syrische Regierung berufe auch Reservisten im Alter von 50-60 Jahren ein.

4. Die belangte Behörde machte von der Möglichkeit der Beschwerdevorentscheidung nicht Gebrauch und legte die Beschwerde samt den bezughabenden Akten des Verwaltungsverfahrens zur Entscheidung vor.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher sich der Beschwerdeführer persönlich beteiligte und Beweis erhoben wurde ua. durch Einvernahme des Beschwerdeführers und seines Sohnes I., Erörterung der vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel und der Länderberichte zur Situation in Syrien.

Der Beschwerdeführer legte eine Bestätigung des Europavertreters des Kurdischen Nationalrates in Syrien (ENKS) vom 20.07.2018 vor, wonach der Beschwerdeführer seit 1998 ein aktives Mitglied der Partei PDK-S, die Mitglied im ENKS sei, sei und nach Beginn der Revolution im Jahr 2011 an zahlreichen Demonstrationen und an anderen Aktivitäten in den kurdischen Gebieten gegen das syrische Regime teilgenommen habe, eine Bestätigung der PDK-S, Österreichische Organisation, vom 25.02.2019, wonach der Beschwerdeführer Mitglied der PDK-S sei und seit seiner Einreise nach Österreich an diversen Partei-Aktivitäten teilgenommen habe, Lichtbilder, auf denen der Beschwerdeführer während einer Demonstrationen in Wien unter Verwendung der kurdischen Fahne zu sehen ist, und einen Beitrag auf einer Social-Media-Plattform auf Arabisch (ohne Angabe eines Verfassers und Datums), wonach – der Übersetzung in der Beschwerdeverhandlung zufolge – neue Namen von zwischen 1974 und 1979 geboren, ca. 20.000 Personen in Syrien auf der Liste der syrischen Militärbehörde stünden, die sofort zum Reservedienst einrücken müssten. Das hieße aber nicht, dass alle Personen zum Militär einberufen werden würden, das hänge vom Namen und von den Akten ab. Es gebe auch ca. 8.000 Namen, die Geld bezahlt hätten, damit sie von der Einberufung befreit würden.

Der Beschwerdeführer wiederholte in der Beschwerdeverhandlung u.a. sein Vorbringen, dass er von der syrischen Regierung und von den Kurden (PYD/YPG) verfolgt werde. Er würde zu deren Armeen eingezogen werden bzw. wegen Nichtableistung des Militärdienstes bestraft und als Verräter angesehen werden. Er sei Mitglied der Kurdistan Demokratischen Partei – Syrien (PDK-S), die sowohl von der syrischen Regierung als auch von der PYD/YPG verfolgt würde. Die PYD/YPG sei aus seiner Sicht eine terroristische Partei, der er nicht angehören wolle. Er habe mehrmals in Wien gegen die syrische Regierung und gegen die Türkei, als diese Syrien angegriffen hätte, demonstriert. Er habe auch bereits in Syrien in R. von 2011 bis 2013 an den Freitagsdemonstrationen gegen die aus seiner Sicht kriminelle syrische Regierung teilgenommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Es wird von den Darlegungen oben unter Punkt I. zum Verfahrensgang und Vorbringen ausgegangen.

Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger Syriens, im Entscheidungszeitpunkt 48 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig. Er ist mit einer syrischen Staatsangehörigen verheiratet und hat mit seiner Ehefrau vier gemeinsame (im Entscheidungszeitpunkt 25, 23, 18 und 17 Jahre alte) Söhne und eine (14jährige) Tochter. Er ist Kurde, Sunnite und lebte im mehrheitlich von Kurden bewohnten Ort R. in Nordsyrien.

Der Ort R. wurde Schauplatz der Aufstandsbewegung (von Protesten) gegen das syrische Regime und des Bürgerkrieges und wurde (zeitweise) von oppositionellen bewaffneten Gruppierungen/Rebellen (Gegnern des Assad-Regimes), insbesondere auch von der FSA und von IS/ISIS kontrolliert. Im Jahr 2013 erlangte die kurdische PYD/YPG die Kontrolle, die sich Ende Oktober 2019 aus R. zurückzog. In R. hat es Probleme zwischen der Bevölkerung und den kurdischen Einheiten sowie zwischen den kurdischen Einheiten und der regulären syrischen Armee gegeben. R. wird aktuell von der Türkei und den mit ihr verbündeten syrischen (arabischen) Rebellengruppen kontrolliert. Die syrische Regierung/Armee ist in den Gebieten der PYD/YPG/SDF präsent.

Der Beschwerdeführer war in Syrien zunächst ein registrierter staatenloser Ausländer (Ajanib), denen staatsbürgerliche Rechte verwehrt wurden und die keine regulären Reisedokumente erhielten. Der Beschwerdeführer hat als registrierter staatenloser Ausländer keinen Militärdienst in Syrien geleistet.

Im Jahr 2011, im Alter von ca. 41 Jahren, wurde der Beschwerdeführer, zugleich mit seinen Brüdern und vielen anderen kurdischen Familien, von der syrischen Regierung eingebürgert und syrischer Staatsangehöriger, ein Jahr später auch seine Kinder. Im Jahr 2012 wurde dem Beschwerdeführer ein syrischer Reisepass ausgestellt. Aus Freude über die erlangte Staatsbürgerschaft und die Reisefreiheit reiste er im selben Jahr mit diesem Reisepass von Syrien in die Türkei und von dort wieder zurück, eine Rekrutierungsgefahr bestand zu dieser Zeit für den Beschwerdeführer nicht.

Wegen der Verschlechterung der Situation in R. (aufgrund der Bedrohung durch IS/ISIS) und um die Rekrutierung seiner Söhne zu vermeiden, sind zunächst der Beschwerdeführer und sein (damals 18 Jahre alter) Sohn I. und in der Folge, mit Hilfe des Beschwerdeführers, auch seine Ehefrau mit den anderen Kindern, darunter ein damals 20 Jahre alter Sohn, im September 2015 illegal aus Syrien ausgereist und seither nicht mehr dorthin zurückgekehrt.

Am 20.10.2015 stellte der Beschwerdeführer mit seinem Sohn I. in Österreich den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Ihm wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtskräftig zuerkannt. Er ist strafrechtlich unbescholten. Dem Sohn des Beschwerdeführers I. wurde in Österreich der Staus eines Asylberechtigten rechtskräftig zuerkannt. I. hat eine kritische und ablehnende Haltung gegenüber dem syrischen Regime und hat Syrien illegal mit der Absicht verlassen, sich seiner Wehrdienstverpflichtung in Syrien zu entziehen. I. droht in Syrien die reale Gefahr, zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen und von den syrischen Behörden als Regimegegner/politisch Andersdenkender angesehen und verfolgt zu werden.

Der Beschwerdeführer ist und war bereits in Syrien kein Anhänger der syrischen Regierung, der kurdischen Partei PYD und ihres bewaffneten Flügels YPG bzw. ihres Militärbündnisses SDF. Er lehnt eine Unterstützung der syrischen Regierung und der PYD/YPG/SDF, insbesondere auch durch seine Teilnahme oder die seiner Söhne im bewaffneten Konflikt, ab. Der Beschwerdeführer ist ein aktives Mitglied der – mit der PYD/YPG rivalisierenden – Partei PDK-S und ist in Österreich gegen das syrische Regime, gegen die PYD/YPG sowie gegen die türkische Regierung und die mit dieser verbündeten syrischen Rebellengruppen und deren Präsenz in den kurdischen Gebieten Nordsyriens im Rahmen von Demonstrationsteilnahmen und Parteitätigkeit aufgetreten.

Der Beschwerdeführer ist aktuell gefährdet, in Syrien asylrelevant in das Blickfeld der Machthaber in R., der SDF/PYD/YPG und syrischen Regierung zu geraten, als politischer Gegner wahrgenommen und deshalb Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen zu werden. Von Seiten der SDF/PYD/YPG droht dem Beschwerdeführer insbesondere die (zwangsweise) Rekrutierung sowie sein Einsatz im bewaffneten Konflikt in Syrien, seitens der syrischen Regierung droht ihm auch die Inanspruchnahme wegen seiner Söhne.

1.2. Hinsichtlich der Lage in Syrien:

1.2.1. Politische Lage/Sicherheitslage

Mit russischer und iranischer Unterstützung hat die syrische Regierung mittlerweile wieder große Landesteile von bewaffneten oppositionellen Gruppierungen zurückerobert. Trotz der großen Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, weiter fort.

Die Provinz Idlib im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei wird derzeit noch von diversen Rebellengruppierungen kontrolliert. Im Norden bzw. Nordosten Syriens gibt es Gebiete, welche unter kurdischer Kontrolle stehen. Die Partei der Demokratischen Union (PYD) ist die politisch und militärisch stärkste Kraft der syrischen Kurden. Sie gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). 2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der PKK, deren Mitglieder die PYD gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine „zweite Front” in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Baath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und die Jazira von PYD und YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre. Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen „Rojava“ bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte. Afrin im Nordwesten Syriens ist territorial nicht mit den beiden anderen Kantonen Jazira und Kobane verbunden und steht seit März 2018 unter türkischer Besatzung.

Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das nicht von islamistischen, sondern von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär. Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen Staates in Syrien, sondern die Autonomie der kurdischen Kantone als Bestandteil eines neuen, demokratischen und dezentralen Syrien. Die PYD hat sich in den kurdisch kontrollierten Gebieten als die mächtigste politische Partei im sogenannten Kurdischen Nationalrat etabliert, ähnlich der hegemonialen Rolle der Baath-Partei in der Nationalen Front. Ihr militärischer Arm, die YPG sind zudem die dominierende Kraft innerhalb des von den USA unterstützten Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Flüchtlingswelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Diese schwierige Situation führt auch dazu, dass die Kurden wieder vermehrt das Gespräch mit der syrischen Zentralregierung suchen.

Die syrische Regierung erkennt die kurdische Enklave oder Wahlen, die in diesem Gebiet durchgeführt werden, nicht an. Die zwischen der Kurdischen Selbstverwaltung (dominiert von der PYD) und Vertretern der syrischen Regierung im Sommer 2018 und Anfang 2019 geführten Gespräche brachten auf Grund unvereinbarer Positionen betreffend die Einräumung einer (verfassungsgemäß festzuschreibenden) Autonomie, insbesondere für die kurdisch kontrollierten Gebiete sowie hinsichtlich der Eingliederung/Kontrolle der SDF, keine Ergebnisse. Im Zuge einer türkischen Militäroffensive, die im Oktober 2019 gestartet wurde, kam es jedoch zu einer Einigung zwischen beiden Seiten, da die kurdischen Sicherheitskräfte die syrische Zentralregierung um Unterstützung in der Verteidigung der kurdisch kontrollierten Gebiete baten. Die syrische Regierung ist daraufhin in mehrere Grenzstädte eingerückt.

Türkische Militäroperationen in Nordsyrien und Gebiete unter der Kontrolle der Türkei und der von ihr unterstützten bewaffneten oppositionellen Gruppen

Seit August 2016 ist die Türkei im Rahmen der Operation „Euphrates Shield“ in Syrien aktiv. Die Operation zielte auf zum damaligen Zeitpunkt vom Islamischen Staat (IS) gehaltene Gebiete, sollte jedoch auch dazu dienen, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) davon abzuhalten ein autonomes Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Die Türkei sieht die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und die YPG als Bedrohung der türkischen Sicherheit.

Am 20.1.2018 begann eine Offensive der Türkei gegen die kurdisch kontrollierte Stadt Afrin. Die Operation „Olivenzweig“ begann mit Artillerie- und Luftangriffen auf Stellungen der YPG in der Region Afrin, denen eine Bodenoffensive folgte. Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) Afrin ein. Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin. Seit der Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind. Von der Unabhängigen Untersuchungskommission für Syrien des UN-Menschenrechtsrates wird die Sicherheitslage in der Gegend von Afrin als prekär bezeichnet.

Nachdem US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9. Oktober eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits will die Türkei mit Hilfe der Offensive die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits ist das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund 2 der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen. Nach etwa einer Woche waren die US-Streitkräfte aus Nordsyrien abgezogen. Den Vereinten Nationen zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen Todesfällen. Aufgrund der Offensive gibt es Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) kommt. Medienberichten zufolge seien in dem Gefangenenlager Ain Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen. Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht.

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14. Oktober in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichten. Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein.

Die Sicherheitslage in Afrin und den angrenzenden Distrikten ist als „verheerend“ und sich verschlechternd beschrieben worden. Grund dafür sind interne Machtkämpfe zwischen verschiedenen bewaffneten oppositionellen Gruppen, ein allgemeiner Zustand der Rechtlosigkeit und eine hohe Kriminalitätsrate, häufige Entführungen und Erpressungen, Folter und sonstige Formen der Misshandlung sowie Ermordungen durch bewaffnete oppositionelle Gruppen und Angriffe auf Zivilpersonen. Die Unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien (IICISyria) beschrieb ein „durchgängiges und klar erkennbares Muster“ von Menschenrechtsverletzungen. Berichten ist zu entnehmen, dass bewaffnete oppositionelle Gruppen religiöse und kulturelle Stätten von Minderheiten absichtlich beschädigt oder zerstört haben.

Die YPG und mit ihnen verbundene Gruppen möchten die Türkei und ihre Bündnispartner aus der Region vertreiben. Meldungen zufolge attackieren sie zivile Einrichtungen und Sicherheitsanlagen der Türkei in Syrien sowie bewaffnete oppositionelle Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden, auch unter Verwendung von Autobomben. Außergerichtliche Hinrichtungen von Mitgliedern lokaler Räte sowie von Zivilpersonen, denen eine Kollaboration mit der Türkei vorgeworfen wird, sind ebenfalls gemeldet worden.

Am 9. Oktober 2019 startete die Türkei, kurz nachdem die Vereinigten Staaten angekündigt hatten, dass sie ihre Truppen aus dem Gebiet zurückziehen würden, eine Militäroffensive in Nordostsyrien. Die Vorstöße konzentrierten sich auf Gebiete zwischen Tal Abyad (Provinz Raqqa) und Ras al-Ain (Provinz Hassakeh). Ihnen gingen intensive türkische Bombardierungen und Artilleriebeschießungen in ganz Nordostsyrien voraus. Laut Berichten haben die SDF der syrischen Regierung am 13. Oktober 2019 erlaubt, Truppen entlang der Grenzgebiete zu stationieren, um „die [türkische] Aggression abzuwehren“. Gemäß den Vereinbarungen, die in dem Memorandum of Understanding vom 22. Oktober 2019 zwischen Russland und der Türkei getroffen wurden, zogen sich die SDF/YPG-Truppen aus den türkischen Grenzgebieten sowie aus den Städten Manbij und Tel Rifat zurück, während die Türkei und ihre Verbündeten die uneingeschränkte Kontrolle des 120 km langen und 30 km breiten Gebiets zwischen Ras al-Ain und Tal Abyad behielten. Gleichzeitig marschierten syrische Regierungstruppen in Gebiete ein, die zuvor von den SDF/YPG kontrolliert worden waren, einschließlich der Städte Kobane (Ain al-Arab), Manbij und Tabqa (Provinz Raqqa). Außerdem wurde eine Militärpatrouille aus russischen und türkischen Streitkräften gebildet, die entlang der türkischen Grenze östlich und westlich des Gebiets der „Operation Friedensquelle“ (Distrikte Qamishli und Ras al-Ain und Manbij) einen 10 km breiten Streifen kontrollierte. Aus den Gebieten der „Operation Friedensquelle“ wurde gemeldet, dass es zu sporadischen Auseinandersetzungen zwischen den SDF/YPG und den von der Türkei unterstützten Truppen, Artilleriebeschuss und Drohnenangriffen gegen SDF/YPG-Stellungen sowie einer steigenden Zahl von Autobombenanschlägen gekommen sei. Die Militäroffensive hat zu zivilen Opfern, Massenvertreibungen und Beschädigungen bzw. zur Schließung kritischer Infrastrukturen geführt.

Gebiete unter kurdischer Kontrolle/von denSDF besetzte Gebiete in Nordostsyrien

Die kurdischen Behörden setzen in den von ihnen kontrollierten Gebieten einen Rechtskodex, basierend auf einer „Sozialcharta“, durch. In Berichten wird diese „Sozialcharta“ beschrieben als eine Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht mit Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an europäischem Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt. Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden. Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst. Der Rechtskodex, „Verfassung von Rojava“ genannt, betont zwar seine demokratische Struktur, in der Praxis zeigt die Vorherrschaft der PYD und deren Missachtung und Unterdrückung anderer kurdischer Akteure jedoch ein anderes Bild.

Die kurdischen Behörden haben den sogenannten „Defense of the People Court“ eingerichtet, der über ehemalige IS-Mitlgieder in kurdischer Gefangenschaft urteilen soll. Das Gericht wird jedoch weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Die Höchststrafe, die dieses Gericht verhängt, ist eine „lebenslange Freiheitsstrafe“, wobei es sich um eine zwanzigjährige Haftstrafe handelt. Gerichtsurteile werden bei guter Führung oder, wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. Diese „mildere Vorgehensweise“ hat zum einen den Zweck der arabischen Mehrheitsbevölkerung Ost-Syriens, die den kurdischen Machthabern misstraut, guten Willen zu zeigen, zum anderen soll dadurch die Regierungskompetenz hervorgehoben und internationale Legitimation gewonnen werden. Das System weist jedoch auch gravierende Mängel auf, so haben die Angeklagten keinen Zugang zu einem Verteidiger und es gibt keine Möglichkeit Berufung einzulegen. Die kurdischen Behörden gaben an, die Einrichtung einer Berufungsmöglichkeit zu planen.

Nachdem die SDF Ende März 2019 ISIS aus deren letzter Bastion in Syrien vertrieben hatten, haben die Kämpfe weitgehend nachgelassen. Berichten zufolge hat sich ISIS jedoch zu einem geheimen Netzwerk entwickelt und es kommt immer häufiger zu Kleinwaffenbeschuss, Selbstmord- und Autobombenanschlägen, die gegen Zivilpersonen und Sicherheitskräfte gerichtet sind sowie Ermordungen von SDF-Kämpfern/Befehlshabern und Personen, denen eine Kollaboration mit den SDF vorgeworfen wird. Militärische Operationen und Verhaftungswellen gegen Personen, die verdächtigt werden, Kontakte zu ISIS zu haben, werden weiterhin aus dem Nordosten Syriens gemeldet.

In nicht-kurdischen Gebieten, die von den SDF kontrolliert werden, protestierten Teile der lokalen arabischen Bevölkerung gegen Zwangsrekrutierung, Unterversorgung und willkürliche Verhaftungen von Personen, die verdächtigt wurden, mit ISIS in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge wurden einige Proteste gewaltsam unterdrückt, u. a. mit scharfer Munition.

Die Komplexität und Unberechenbarkeit der Sicherheitslage und der politischen Entwicklung in Nordostsyrien haben sich durch die laufenden militärischen Offensiven der Türkei und der mit Unterstützung der Türkei operierenden Truppen, den fast vollständigen Rückzug der US-Armee aus Syrien und den ständigen Einsatz von Regierungstruppen in ehemals SDF-kontrollierten Gebieten erhöht.

Viele Städte, die zuvor von ISIS kontrolliert wurden, sind im Rahmen von Militäroffensiven gegen ISIS großflächig zerstört worden und noch immer stark mit Blindgängern kontaminiert.

1.2.2. Wehrdienst/Rekrutierung

Syrische Armee

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von 18 oder 21 Monaten gesetzlich verpflichtend. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes.

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden. Vor dem Ausbruch des Konflikts bestand der Reservedienst im Allgemeinen nur aus mehreren Wochen oder Monaten Ausbildung zur Auffrischung der Fähigkeiten, und die Regierung berief Reservisten nur selten ein. Seit 2011 hat sich das jedoch geändert. Es liegen außerdem einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird. Männer können ihren Dienst-/Reservedienststatus bei der Militärbehörde überprüfen. Die meisten tun dies jedoch nur auf informellem Weg, um zu vermeiden, sofort rekrutiert zu werden.

Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit, oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen.

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen.

Aktuell ist ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints weit verbreitet. In der Praxis wurde die Altersgrenze erhöht und auch Männer in ihren späten 40ern und frühen 50ern sind gezwungen Wehr-/Reservedienst zu leisten. Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als vom allgemeinen Gesetz. Dem Experten zufolge würden jedoch jüngere Männer genauer überwacht, ältere könnten leichter der Rekrutierung entgehen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht. Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis 27 ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden, bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können. Ebenso wurden seit Ausbruch des Konflikts aktive Soldaten auch nach Erfüllung der Wehrpflicht nicht aus dem Wehrdienst entlassen.

Die Militärpolizei verhaftet in Gebieten unter der Kontrolle der Regierung junge Männer, die für den Wehrdienst gesucht werden. Nachdem die meisten fixen Sicherheitsbarrieren innerhalb der Städte aufgelöst wurden, patrouilliert nun die Militärpolizei durch die Straßen. Diese Patrouillen stoppen junge Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und durchsuchen Wohnungen von gesuchten Personen. Es gab in der Vergangenheit Fälle, in denen Familienmitglieder von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren Vergeltungsmaßnahmen wie Unterdrucksetzung und Inhaftierung ausgesetzt waren.

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden.

Kurdische Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind die bewaffneten Einheiten der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Bis 2014 war der Militärdienst bei der YPG freiwillig. Seit 2014 gibt es jedoch in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst für Männer von 18 bis 30 Jahren. Der Wehrdienst sollte sechs Monate dauern, dauerte in den letzten Monaten jedoch 12 Monate. Jene, die den Wehrdienst verweigern, müssen zur Strafe 15 Monate Wehrdienst leisten.

Mehrfach ist es zu Fällen gekommen, in denen Männer von der YPG rekrutiert werden, die älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen, die PYD-kritisch politisch aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Rekrutierung abgestraft werden sollten.

Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten leisten, wobei es gleichzeitig Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen gibt. Quellen zufolge gibt es keine Beweise für Zwangsrekrutierungen von Frauen durch die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), jedoch kann es einzelne Fälle der Zwangsrekrutierung von Frauen in kleineren lokalen kurdischen Milizen geben, die gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) kämpfen. Dem widersprechen andere Quellen, denen zufolge es in mehreren Fällen zur Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung minderjähriger Mädchen gekommen ist. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen kurdische Frauen, die der YPG zunächst freiwillig beitraten, daran gehindert wurden, diese wieder zu verlassen.

1.2.3. Opposition/Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung

Bestimmte Personen werden aufgrund ihrer politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen oder ihnen wird auf andere Weise Schaden zugefügt. Aber die Konfliktparteien wenden Berichten zufolge breitere Auslegungen an, wen sie als der gegnerischen Seite zugehörig betrachten. Diese basieren z.B. auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in einem bestimmten Gebiet, das als „regierungsfreundlich“ oder „regierungsfeindlich“ gilt.

Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts in Syrien ist der Umstand, dass – auch - die syrische Regierung als Konfliktpartei oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellt. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit.

Personen, die tatsächlich oder vermeintlich regierungsfeindliche Ansichten haben

Einwohner Syriens, die tatsächlich oder vermeintlich regierungskritische politische Ansichten im weitesten Sinne haben, sind als Personen anzusehen, die gefährdet sind durch die Regierung verfolgt zu werden. Es liegen schon seit längerem Berichte darüber vor, dass die syrische Regierung politischen Dissens durch Einschüchterung, Überwachung und Inhaftierung von politischen Aktivisten, Journalisten, Schriftstellern und Intellektuellen unterdrückt. Auf die im März 2011 aufkommenden Protestbewegungen und die sich anschließenden bewaffneten Aufstände, reagierten die Regierung und regierungsfreundliche Kräfte, wie aus Berichten hervorgeht, mit massiver Unterdrückung und Gewalt. Die Regierung wendet, wie berichtet wird, bei der Beurteilung von politischem Dissens sehr breite Kriterien an: jegliche Kritik, Opposition oder sogar unzureichende Loyalität der Regierung gegenüber, wie auch immer ausgedrückt – friedlich oder gewalttätig, organisiert oder spontan, im Rahmen einer politischen Partei, bewaffneten Gruppe oder individuell, virtuell im Internet oder im bewaffneten Konflikt – führte Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen. Es wurde berichtet, dass zahlreiche Protestteilnehmer, Aktivisten, Wehrdienstentzieher, Deserteure, Laienjournalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Ärzte und andere Personen, denen regierungsfeindliche Haltungen zugeschrieben wurden, willkürlich verhaftet, in incommunicado Haft genommen, gefoltert oder anderen Misshandlungen ausgesetzt, oder Opfer von extralegalen oder Massenhinrichtungen wurden. Gegen zahlreiche Personen wurden Berichten zufolge Strafverfahren gemäß dem Terrorbekämpfungsgesetz (Gesetz Nr. 19 vom 2. Juli 2012) durchgeführt. Das Gesetz sieht schwere Strafen – von langjährigen Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe – für Personen vor, bei denen festgestellt wird, dass sie „terroristische“ Handlungen begangen haben. „Terrorismus“ ist vage und mit sehr weiten Begriffen in den Gesetzen definiert, die viel Raum für Strafverfolgung wegen zahlreicher unterschiedlicher Aktivitäten bieten, einschließlich Teilnahme an Protesten, Äußerungen in sozialen Medien, Bereitstellung humanitärer Hilfsdienste, Schmuggeln von Arzneimitteln und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Berichten ist zu entnehmen, dass die meisten Häftlinge nie förmlich angeklagt werden. Gegen tausende Zivilisten wurden Berichten zufolge von Strafgerichten, dem Antiterrorismus-Gericht in Damaskus und militärischen Feldgerichten Strafverfahren durchgeführt, die gegen die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren verstoßen. In der Regel gingen den Verfahren monatelange Untersuchungshaft in Einrichtungen der Sicherheitsdienste und erzwungene Geständnisse voraus. Es wird berichtet, dass die Strafen für jene Personen, die vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, auch dann hart sind, wenn die fraglichen Aktivitäten selbst friedlich waren. Wie aus Berichten hervorgeht, überwacht die Regierung Korrespondenz, Online-Aktivitäten und politische Zusammenkünfte. Die Regierung hört Berichten zufolge mit Hilfe von entsprechender Ausrüstung Gespräche ab, installiert Spysoftware auf den Computern von Aktivisten, blockiert Textnachrichten und ortet Mobil- und Satellitentelefone. Aus Berichten geht hervor, dass die Online-Überwachung zu willkürlichen Verhaftungen, incommunicado Haft, Folter und Tötungen von zahlreichen politischen Dissidenten, Aktivisten, Laienjournalisten und anderen Personen geführt hat. Zahllose Personen wurden Berichten zufolge inhaftiert, nachdem sie über soziale Medien Fotos oder Videos, die regierungskritische Proteste oder Aufstände unterstützen, weitergeleitet, positiv bewertet oder kommentiert hatten. Wie berichtet wird, hackt die seit April 2011 bestehende so genannte Syrische Elektronische Armee mit stillschweigender Zustimmung der Regierung Websites und Seiten sozialer Medien von oppositionellen Gruppen, von bestimmten westlichen Medien und Menschenrechtsorganisationen und blockiert sie oder überflutet sie mit regierungsfreundlichen Inhalten. Wie aus Berichten hervorgeht, wurden nach Ausbruch der regierungskritischen Proteste im März 2011 Syrer, die im Ausland an solchen Protesten teilnahmen, durch Mitarbeiter syrischer Botschaften und durch andere Personen, die mutmaßlich im Auftrag der syrischen Regierung handelten, kontrolliert, eingeschüchtert und teilweise körperlich angegriffen. Berichten zufolge wurden die in Syrien gebliebenen Angehörigen von syrischen Staatsangehörigen, die sich an Protesten oder damit verbundenen Aktivitäten im Ausland beteiligt hatten, Befragungen unterzogen, durch telefonische Anrufe, E-Mails und Facebook-Nachrichten bedroht, sie wurden verhaftet, misshandelt oder sogar getötet. In Deutschland wurden vier Mitarbeiter der syrischen Botschaft, die mutmaßlich Aktivitäten syrischer Oppositionsmitglieder überwachten, ausgewiesen. Wie berichtet wird, befürchten im Exil lebende Syrer von Landsleuten, die aus eigener Initiative oder als Informanten im Auftrag der syrischen Regierung handeln, überwacht, bedroht oder in sozialen Medien als „regierungsfeindlich“ dargestellt zu werden.

(Arabische) Sunniten

(Arabische) Sunniten werden im Allgemeinen und insbesondere, wenn sie aus Gebieten stammen, die bekanntermaßen mit der Opposition sympathisieren oder unter der de facto Kontrolle bewaffneter oppositioneller Gruppen stehen, als regierungsfeindlich wahrgenommen. Aus diesem Grund waren ihre Wohngebiete von Beschießungen, Artilleriefeuer und Militärangriffen betroffen und von der Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Grundbedarfsgütern abgeschnitten. Darüber hinaus wurden Sunniten von Streitkräften der Regierung aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit sunnitischen Islamisten oder Salafisten bzw. ganz allgemein bewaffneten oppositionellen Gruppen willkürlich verhaftet, in Isolationshaft genommen, gefoltert und auf andere Weisen misshandelt sowie extralegal und standrechtlich hingerichtet. Der unabhängigen UN-Untersuchungskommission zufolge besteht „in von der Regierung kontrollierten Gebieten für sunnitische Männer aus Unruhegebieten das größte Risiko, an Kontrollstellen oder bei Hausdurchsuchungen inhaftiert zu werden, da sie als wahrscheinliche Sympathisanten oder Unterstützer von oppositionellen bewaffneten Gruppen gelten. Diese Gemeinschaft ist insbesondere in Hinblick auf Zwangsverschleppung, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen während Inhaftierungen gefährdet.

„regierungsfeindliche Gebiete“

Berichten ist zu entnehmen, dass die Regierung davon ausgeht, dass Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen oder in Gebieten wohnen, in denen es zu Protesten der Bevölkerung kam und/oder in denen bewaffnete oppositionelle Gruppen in Erscheinung treten oder (zeitweise) die Kontrolle übernommen haben, generell Verbindungen zur bewaffneten Opposition haben. Diese Zivilpersonen werden daher von der Regierung als regierungsfeindlich angesehen. Dies gehört Berichten zufolge zu einer umfassenden Politik, Zivilisten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, ihrer Anwesenheit in einem Gebiet oder ihrer Herkunft aus einem Gebiet anzugreifen, das als regierungsfeindlich betrachtet wird und/oder von dem vermutet wird, dass es oppositionelle bewaffnete Gruppen unterstützt. Es wird berichtet, dass die Regierung versucht, die breite Unterstützung von oppositionellen bewaffneten Gruppen auszuhöhlen, indem sie Zivilisten für die tatsächliche oder vermeintliche Opposition zur Regierung bestraft und das Leben in Gebieten unter deren Kontrolle für Zivilisten unerträglich macht. Zivilisten in diesen Gebieten sind Berichten zufolge im Rahmen von Bodenoffensiven, Hausdurchsuchungen und an Kontrollstellen von unterschiedlichen Strafmaßnahmen durch Regierungskräfte und regierungsnahe Kräfte betroffen, darunter Inhaftierung, Folter, sexuelle Gewalt und extralegale Hinrichtungen. Darüber hinaus wurden, wie berichtet wird, Häuser und Geschäfte von Personen, die als gegnerisch gelten, bei militärischen Überfällen durch Regierungskräfte und regierungsnahe Kräfte geplündert und zerstört. Nachdem die Regierung über einige Teile des Landes die Kontrolle verloren hat, ist sie Berichten zufolge nun dazu übergegangen, die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten unter ausgedehnten Artilleriebeschuss zu nehmen und mit Bombardierung aus der Luft zu überziehen. Diese gezielten Angriffe, darunter auf Krankenhäuser, Beerdigungsprozessionen, öffentliche Märkte, Brottransporte und Bäckereien, wurden als eine Taktik beschrieben, mit der die in Gebieten unter der Kontrolle regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen oder ISIS lebende Zivilbevölkerung bestraft und terrorisiert werden soll und ihre Lebensbedingungen unerträglich gemacht werden sollen. Es wurde berichtet, dass die Regierung zahlreiche Gebiete, die unter der Kontrolle der Opposition stehen, belagert hat und auf diese Weise systematisch Zivilpersonen von der Grundversorgung – z. B. mit Lebensmitteln und medizinischer Versorgung ? abgeschnitten hat. Wie aus Berichten hervorgeht, wurden Personen, die versuchten belagerte Gebiete zu verlassen um medizinische Hilfe aufzusuchen, verhaftet, von Heckenschützen ins Visier genommen oder am Verlassen gehindert. Personen, die Nahrungsmittel oder andere Grundversorgungsgüter in belagerte Gebiete transportierten oder versuchten, aus einem belagerten Gebiet zu fliehen, wurden Berichten zufolge drangsaliert, festgenommen, inhaftiert, gefoltert und getötet. Die gegen Gebiete unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen gerichtete Belagerungstaktik der Regierung zielt Berichten zufolge darauf ab, die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten zu bestrafen, die Unterstützung der bewaffneten Regierungsgegner in der Bevölkerung zu unterbinden und Zivilisten und Kämpfer zum Aufgeben zu zwingen.

Es wird berichtet, dass Regierungskräfte im Rahmen von lokalen Waffenstillständen zunehmend auf die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Gebieten zurückgreift, die zuvor unter der Kontrolle regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen gestanden haben, häufig nach langen Phasen der Belagerung und Bombardierungen der betroffenen Gemeinschaften. Die Vereinten Nationen und unabhängige Beobachter haben ihre Besorgnis darüber ausgedrückt, dass diese Maßnahmen Zwangsvertreibung von Zivilisten darstellen. Außerdem weisen regierungskritische Quellen und unabhängige Beobachter auf die konfessionelle Dimension derartiger erzwungener Umsiedlungen von (sunnitischen) Bevölkerungsteilen aus ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten hin, da es Berichten zufolge in mehreren Fällen Mitgliedern religiöser Minderheiten, die als loyal der Regierung gegenüber galten, gestattet wurde, sich in den frei gewordenen Gebieten niederzulassen. Die Regierung wies dies zurück. In den Gebieten, in denen die Regierung die Kontrolle wiedererlangt hat, nimmt sie Berichten zufolge zahlreiche Personen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Unterstützung oder Sympathie für regierungsfeindliche bewaffnete Gruppen fest, insbesondere Männer sowie Jungen, die älter als zwölf Jahre alt sind.

Angehörige

Die tatsächlich oder vermeintlich oppositionellen Ansichten einer Person werden häufig auch Personen in ihrem Umfeld, wie Familienmitgliedern, Nachbarn und Kollegen zugeschrieben. Die Familienangehörigen (beispielsweise Ehegatten, Kinder, Geschwister, Eltern und auch entferntere Verwandt) von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Protestteilnehmern, Aktivisten, Mitgliedern von Oppositionsparteien oder bewaffneten oppositionellen Gruppen, Überläufern und Wehrdienstentziehern und anderen Personen wurden Berichten zufolge willkürlich verhaftet, in incommunicado Haft genommen, gefoltert und in sonstiger Weise ? einschließlich unter Anwendung sexueller Gewalt – misshandelt sowie auch willkürlich hingerichtet. Verläuft die Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die für einen Regierungsgegner gehalten wird, erfolglos, gehen die Sicherheitskräfte Berichten zufolge dazu über, die Familienangehörigen der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Dies geschieht entweder, um Vergeltung zu üben für die Aktivitäten bzw. den Loyalitätsbruch der gesuchten Person oder um Informationen über ihren Aufenthaltsort zu gewinnen und/oder mit der Absicht, die betreffende Person dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. die gegen sie erhobenen Anschuldigungen zu gestehen. Wie aus Berichten hervorgeht, wurden weibliche Verwandte verhaftet und als „Tauschobjekte“ für Gefangenenaustausch mit regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen verwendet. Darüber hinaus liegen Berichte vor, dass sogar Nachbarn, Kollegen und Freunde verfolgt wurden.

Aus Angst, selbst inhaftiert und misshandelt zu werden, sehen Familienmitglieder, wie Berichten zu entnehmen ist, häufig davon ab, nach dem Aufenthaltsort von verhafteten Familienmitgliedern zu forschen oder sich über die Verhaftung zu beklagen. Wie aus Berichten hervorgeht, sehen sie sich stattdessen gezwungen, korrupten Staatsbediensteten Schmiergelder zu bezahlen, um Informationen über den Aufenthaltsort eines inhaftierten Angehörigen zu erhalten, seine Verlagerung von einer Haftanstalt des Sicherheitsdienstes in die zentrale Haftanstalt zu veranlassen oder für seine Freilassung zu sorgen – dabei besteht für sie keine Erfolgsgarantie. Amnestien durch den Präsidenten haben, wie berichtet wird, auch Richtern die Möglichkeit eröffnet, Bestechungsgelder von Familien entgegen zu nehmen, die die Freilassung eines inhaftierten Familienmitglieds erreichen möchten. In besonders schwerwiegenden Fällen wurden Berichten zufolge ganze Familien von Oppositionsmitgliedern oder Überläufern verhaftet oder extralegal hingerichtet, beispielsweise bei Hausdurchsuchungen.

Aufgrund verfügbarer Herkunftslandinformationen reicht allein der Verdacht, dass eine Person regierungskritische Ansichten hat oder mit einer Person in Verbindung steht, die solche Ansichten hat, für die Verfolgung aus.

Den vorliegenden Quellen zufolge können Angehörige von gesuchten Personen, inklusive Wehrdienstentziehern, bei ihrer Rückkehr verhaftet werden, etwa um die gesuchten Personen unter Druck zu setzen, ihre Aktivitäten einzustellen oder sich den syrischen Behörden zu stellen.

Wehrdienstverweigerer, Deserteure und ihre Familienangehörigen

Die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates zu Syrien und das Syrian Human Rights Committee berichteten 2013 über Exekutionen von desertierten Soldaten, über Verhaftungen von Familienangehörigen von Deserteuren und über willkürliche Verhaftungen von Personen, die sich nicht ausweisen können und aus umkämpften Gebieten geflohen sind.

Syrische Oppositionelle oder Deserteure sind im mit Syrien verbündeten Libanon ebenfalls von Verhaftung bedroht. Sogar Familienangehörige von Deserteuren und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, sind im Ausland in Gefahr.

Zivilisten, die für die Armee gearbeitet haben und die Armee verlassen haben, gelten als Verräter und werden wie Deserteure bestraft. Personen, die nach einem bewilligten Aufenthalt im Ausland nicht nach Syrien zurückkehren, werden als Wehrdienstverweigerer oder Deserteur eingestuft und dementsprechend bestraft.

Wenn die Personen, die vom syrischen Regime einberufen wurden, nicht freiwillig erscheinen, werden sie als Wehrdienstverweigerer gelistet und werden von den Behörden gesucht. Die Truppen der Regierung sind ausgedünnt und es mangelt an Militärs.

Wehrdienstentzieher, die sich nicht innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf der festgelegten Frist zum Militärdienst melden, werden (in Friedenszeiten) mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft. Die Wehrdienstpflicht besteht dabei weiterhin fort. Wenn Personen sich innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf der Frist freiwillig melden, wird die Strafe um 50 Prozent herabgesetzt. In Kriegszeiten wird Wehrdienstentziehung je nach den Umständen mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft. Nach Verbüßung der Strafe muss der Wehrdienstentzieher weiterhin den regulären Militärdienst ableisten.

Es wird berichtet, dass Wehrdienstentzieher in der Praxis festgenommen und unterschiedlich lange inhaftiert werden und danach in ihrer militärischen Einheit Dienst leisten müssen. Aus Berichten geht hervor, dass sie während der Haft dem Risiko der Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt sind. Die Regierung inhaftiert Berichten zufolge außerdem gezielt Familienmitglieder von Wehrdienstentziehern, um Druck auf Männer im wehrfähigen Alter auszuüben, in den Militärdienst zu treten. Wie aus Berichten hervorgeht, ist es unklar, auf welche Weise Personen über die Verpflichtung informiert werden, sich zum Militärdienst zu melden. Ferner ist unklar, wie viel Zeit vergeht, bis der Name einer Person, die dem Einberufungsbefehl nicht Folge leistet, an das Militär und an Personenkontrollstellen mit der Anweisung gemeldet wird, die betreffende Person aufgrund von Wehrdienstentziehung festzunehmen. Einzelne Berichte legen außerdem nahe, dass zumindest in manchen Fällen Personen nach ihrer Festnahme an Kontrollstellen in die Armee eingezogen wurden, ohne zuvor einen Einberufungsbescheid erhalten zu haben. Ungeachtet des genauen Zeitpunkts, zu dem eine Person gemäß anwendbarem syrischem Recht als wehrdienstpflichtig betrachtet wird (und sich daher strafbar macht, wenn sie dem Einberufungsbefehl nicht Folge leistet), kann nach Beobachtungen von UNHCR „eine Wehrdienstentziehung auch präventiv erfolgen, indem die betreffende Person noch vor Eintreffen des eigentlichen Erfassungs- oder Einberufungsbefehls handelt”, indem sie zum Beispiel das Land verlässt.

Die syrische Regierung betrachtet, wie Berichten zu entnehmen ist, Wehrdienstentziehung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.

Jenen, die den Wehrdienst verweigern, oder auch ihren Familienangehörigen haben mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie könnte von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder (auch weibliche) können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Manchmal wird ein Bruder oder der Vater eines Deserteurs ersatzweise zur Armee rekrutiert.

Die Familien und besonders die Väter von Militärdienstverweigerern und Deserteuren werden üblicherweise schikaniert, um die Söhne zu zwingen, sich zu stellen. Die Behörden treten auch an bestimmte Gemeinschaften heran und verlangen, dass die Familien die Mitglieder, die für den Militärdienst gesucht werden, übergeben. Obwohl die Soldaten streng beaufsichtigt werden und ihre Familien bei Fahnenflucht mit Repressalien rec

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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