TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/6 I416 2232093-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2020
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Entscheidungsdatum

06.07.2020

Norm

BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §117
FPG §67
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §67 Abs4
FPG §70 Abs3
NAG §54
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I416 2232093-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. am XXXX , StA. Ungarn, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.04.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird insoweit stattgegeben, als die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf 18 Monate (1,5 Jahre) herabgesetzt wird.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Ungarn, war erstmalig vom 17.11.2017 bis 11.09.2018 melderechtlich Bundesgebiet erfasst und ist seit 29.11.2018 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Die Beschwerdeführerin heiratete am XXXX 2019 den nigerianischen Staatsangehörigen XXXX . Am 18.2.2019, stellte die Beschwerdeführerin den Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung „Selbstständige“ und wurde diese Anmeldebescheinigung vom Magistrat der Stadt Wien (MA 35) am 28.2.2019 ausgestellt.

2.       Mit Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung (MA 35) vom 6.11.2019, wurde der Antrag des Ehemannes der Beschwerdeführerin auf Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zurückgewiesen und festgestellt, dass er nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt. Begründend wurde nach Durchführung eines umfangreichen Ermittlungsverfahrens festgestellt, dass die Ehe zum Zwecke der Erlangung einer Aufenthaltskarte geschlossen worden sei und demnach kein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK geführt wurde bzw. geführt wird.

3.       Mit Schriftsatz des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.2.2020 bezeichnet als Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme wurde der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Erlassung eines Aufenthaltsverbots die Möglichkeit gegeben, unter Beantwortung eines umfangreichen Fragenkatalogs, zu dieser Beweisaufnahme binnen 14 Tagen Stellung zu nehmen. Nach Vollmachtsbekanntgabe, dem Antrag auf Gewährung der Akteneinsicht und Antrag auf Fristerstreckung durch den gewillkürten Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wurde trotz Gewährung einer Fristerstreckung bis zur Erlassung des verfahrensgegenständlichen Bescheides keine Stellungnahme abgegeben.

4.       Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22.04.2020 wurde gemäß § 67 Abs. 1 und 2 Fremdenpolizeigesetz gegen die Beschwerdeführerin ein für die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und ihr gemäß § 70 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit der Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.). Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass sie mit einem nigerianischen Staatsangehörigen eine Aufenthaltsehe eingegangen sei, um ihm in Österreich eine Aufenthaltsberechtigung zu verschaffen. Hinsichtlich ihres Aufenthalts in Österreich und ihrem Privat- und Familienleben, wurde berücksichtigt, dass sie Mutter einer am XXXX 2018 geborenen Tochter, welche ebenfalls die Staatsangehörigkeit von Ungarn besitzt, ist, sowie, dass sie ihre Selbstständigkeit mit 01.10.2019 beendet hat und seit 30.9.2019 im Bundesgebiet keiner erlaubten Erwerbstätigkeit mehr nachgeht und auch über keine Krankenversicherung verfügt.

5.       Mit Schriftsatz vom 22.05.2020 erhob die Beschwerdeführerin durch ihre gewillkürte Rechtsvertretung Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und monierte darin Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Begründend wurden zusammengefasst ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin strafgerichtlich unbescholten sei und sie keine Aufenthaltsehe eingegangen sei, zudem sei ihr erst im November 2019, nach der strafrechtlichen Verurteilung ihres Ehemannes, klar geworden, dass sie die Ehe mit ihm nicht mehr aufrechterhalten wolle. Weiters wurde ausgeführt, dass kein Privat- und Familienleben mehr zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann bestehen würde, dies trotz Vorliegens einer gemeinsamen Meldeadresse, die Beschwerdeführerin sei fest entschlossen sich scheiden zu lassen, wobei, eine einvernehmliche Scheidung mangels Einverständnis des Ehemannes nicht möglich sei und ihr die finanziellen Mittel für ein streitiges Verfahren fehlen würden. Sie habe sich zudem in Österreich ein schützenswertes Privatleben aufgebaut, so würde ihre Tochter derzeit einen Kindergarten in XXXX besuchen und sei die Beschwerdeführerin bemüht, eine feste Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet zu finden und sei sie dazu bei „ XXXX “ und bei „ XXXX GmbH“ als arbeitssuchend registriert. Die Beschwerdeführerin sei arbeitswillig und arbeitsfähig, und fest entschlossen ihr Leben zu ändern, es würde von ihr keine nachhaltige oder erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehen, und sei die Erlassung eines dreijährigen Aufenthaltsverbots im Anbetracht ihres schutzwürdigen privaten Familienlebens in Österreich nicht verhältnismäßig, weshalb beantragt werde, das Bundesverwaltungsgericht möge das gegen sie ausgesprochene Aufenthaltsverbot von drei Jahren aufheben, in eventu die Dauer des gegen sie ausgesprochenen Aufenthaltsverbotes reduzieren, in eventu den Bescheid zur Gänze beheben und zur neuerlichen Verhandlung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen und eine öffentliche mündliche Verhandlung anberaumen. Der Beschwerde angeschlossen war ein Schreiben der „ XXXX “ vom 20.02.2019 betreffend eine Einkommensbestätigung, sowie drei Screenshots von, keiner Firma zuordenbaren, Bewerbungen vom 19. Februar und 10. März.

6.       Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 22.06.2020 vorgelegt.  

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die volljährige Beschwerdeführerin ist ungarische Staatsangehörige und somit EWR-Bürgerin bzw. Unionsbürgerin im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 8 FPG. Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.

Die Beschwerdeführerin war vom 17.11.2017 bis 11.9.2018 im Bundesgebiet erstmalig melderechtlich erfasst und ist seit 29.11.2018 durchgehend im Bundesgebiet gemeldet.

Die Beschwerdeführerin ist gesund und hat eine zweijährige Tochter.

Die Beschwerdeführerin hat am XXXX 2019 ihren jetzigen Ehemann geheiratet, der jedoch nicht der Vater ihrer Tochter ist. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann sind seit 08.03.2019 an derselben Meldeadresse gemeldet, wobei sie dort nicht zusammengewohnt haben. Die Beschwerdeführerin ist mit ihrem Ehemann eine Aufenthaltsehe eingegangen und wurde dahingehend eine Feststellung gemäß § 54 Abs. 7 NAG getroffen.

Die Beschwerdeführerin weist außer ihrem jetzigen Ehemann und ihrer Tochter im Bundesgebiet keine familiären oder sozialen Bezugspunkte auf. Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführerin in Ungarn keine Verwandten mehr hat.

Der Beschwerdeführerin wurde am 18.2.2019 vom Amt der Wiener Landesregierung eine Gewerbeberechtigung für das Gastgewerbe, sowie eine Anmeldebescheinigung „Selbstständige/r“ ausgestellt. Die Beschwerdeführerin war vom 30.06.2018 bis 30.09.2019 bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen als gewerblich selbstständige Erwerbstätige versichert. Die Beschwerdeführerin geht seit 01.10.2019 keiner Erwerbstätigkeit nach und verfügt über keine Krankenversicherung.

Die Voraussetzungen für einen unionsrechtlichen Aufenthalt liegen bei der Beschwerdeführerin nicht vor.

Die Beschwerdeführerin strafrechtlich unbescholten.

2. Beweiswürdigung:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Insbesondere wurden auch Auszüge aus dem Informationsverbund Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Zentralen Melderegister und dem Strafregister eingeholt.

Die Identität der Beschwerdeführerin steht aufgrund ihres ungarischen Personalausweises fest.

Die Feststellungen zu ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet ihren privaten und familiären Verhältnissen, sowie ihrer Erwerbstätigkeit, ergeben sich aus dem Akteninhalt, sowie aus dem Umstand, dass die entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Bescheid in der Beschwerde nicht bestritten, sondern vielmehr sogar bestätigt wurden.

Die Feststellungen hinsichtlich des Eingehens eine Aufenthaltsehe gründen sich auf den vorliegenden Akteninhalt, insbesondere auf die durchgeführten Erhebungen der MA 35 im Rahmen der Zurückweisung des Antrages des Ehemannes der Beschwerdeführerin, auf Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. In diesem Verfahren wurde neben dem Ehemann auch dessen Gattin einer umfangreichen Befragung unterzogen.

Die Feststellungen hinsichtlich der gemeinsamen Meldeadresse ergeben sich einerseits aus dem ZMR und andererseits aus ihren Angaben im Rahmen der Beschwerde (AS 121).

Dass die Beschwerdeführerin über keine maßgeblichen sozialen wirtschaftlichen und kulturellen Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet verfügt, ergibt sich aus ihren Angaben bzw. wurde dahingehend auch im Rahmen der Beschwerde nichts Neues vorgebracht.

Dass nicht festgestellt werden konnte, dass die Beschwerdeführerin über keine Verwandten mehr in Ungarn verfügt, ergibt sich insbesondere aus den Erhebungen der Landespolizeidirektion betreffend der Aufenthaltsehe, wo sowohl seitens der Beschwerdeführerin, als auch seitens ihres Ehemannes ausgeführt wurde, dass sich in Ungarn noch ein Sohn der Beschwerdeführerin aufhalten würde.

Die Feststellung, dass die Voraussetzung für die Erteilung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht mehr vorliegen würden, ergibt sich einerseits aus dem Akteninhalt und andererseits aus ihren Angaben im Rahmen der Beschwerde. Die von der Beschwerdeführerin im Rahmen der Beschwerde vorgelegten Screenshots, können jedenfalls nicht dafür herangezogen werden, dass die Beschwerdeführerin, wie in der Beschwerde behauptet, intensiv nach einer Arbeit suchen würde.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

3.1.1. Als Staatsangehörige von Ungarn ist die Beschwerdeführerin EWR-Bürgerin iSd § 2 Abs. 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der geltenden Fassung, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

Gemäß § 67 Abs. 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Gemäß § 67 Abs. 4 FPG ist bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise.

Die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 67 Abs 1 erster und zweiter Satz FPG liegen vor, wenn ein Fremder - im Sinn des Tatbestands des § 53 Abs 2 Z 8 FPG - eine Aufenthaltsehe geschlossen, also mit dem Ehegatten ein gemeinsames Familienleben iSd Art 8 EMRK nicht geführt und sich trotzdem (ua) für den Erwerb eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen hat. In diesem Fall beträgt die Höchstdauer eines Aufenthaltsverbotes - abweichend von § 67 Abs 2 FPG - allerdings nicht zehn, sondern nur fünf Jahre (VwGH 23.03.2017, Ra 2016/21/0349). Ehegatten, die kein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK führen, dürfen sich gemäß § 30 NAG für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln bzw. für den Erwerb und die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht auf die Ehe berufen.

Nach der Judikatur des VwGH liegt eine Aufenthaltsehe im Sinne des § 30 NAG in Verbindung mit § 54 Abs. 7 NAG dann vor, wenn sich ein Fremder für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels auf eine von ihm geschlossene Ehe beruft, er in diesem Zeitpunkt jedoch kein gemeinsames Familienleben mit seinem Ehegatten im Sinne des Art. 8 EMRK führt (vgl. VwGH 19.09.2012, 2008/22/0243). Ein formelles Band der Ehe reicht nicht aus, um aufenthaltsrechtliche Wirkungen zugunsten des Drittstaatsangehörigen abzuleiten (vgl. VwGH 27.04.2017, Ro 2016/22/0014). In zeitlicher Hinsicht muss das Berufen auf ein Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ein Familienleben nicht (mehr) geführt wird (vgl. VwGH 27.01.2011, 2008/21/0633).

"Ehegatten von EWR-Bürgern, die ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen haben, kommt die Stellung als "begünstigter Drittstaatsangehöriger" iSd § 2 Abs. 4 Z 11 FrPolG 2005 zu; das gilt auch dann, wenn die Ehe als Aufenthaltsehe zu qualifizieren ist (vgl. E 7. April 2011, 2011/22/0005; B 14. April 2016, Ro 2016/21/0005), und zwar jedenfalls solange keine rechtskräftige Feststellung iSd § 54 Abs. 7 NAG 2005 vorliegt." (VwGH 25.09.2017, Ra 2017/20/0293)

Eine für den Erwerb bzw. die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes erforderliche tatsächliche und eheliche Lebensgemeinschaft ist dann anzunehmen, wenn die Ehepartner erkennbar in einer dauerhaften, durch enge Verbundenheit und gegenseiteigen Beistand geprägten Beziehung zusammenleben oder zusammenleben wollen. Vorausgesetzt ist somit eine Verbindung zwischen den Eheleuten, deren Intensität über die einer Beziehung zwischen Freunden in einer reinen Begegnungs- oder Gesinnungsgemeinschaft hinausgeht (vgl. Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG-Kommentar, § 30, Rz 7). Nach der Judikatur des VwGH, setzt die fremdenpolizeiliche Feststellung, eine Ehe sei nur zum Schein geschlossen worden, nicht voraus, dass die Ehe für nichtig erklärt wurde (vgl. VwGH vom 23. März 2010, 2010/18/0034). Damit ist die Frage bejaht, ob durch die Verwaltungsbehörde - wie hier im Zuge der Prüfung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme - eine eigene Beurteilung des Vorliegens einer Scheinehe erfolgen darf. (VwGH 25.09.2017, Ra 2017/20/0293)

Mit der Erlassung dieser aufenthaltsbeendenden Maßnahmen wird daher noch keine Aussage darüber getroffen, ob auch der Straftatbestand des § 117 FrPolG 2005 verwirklicht wurde. Der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes wegen Eingehens einer "Scheinehe" steht nicht entgegen, dass ein gegenüber dem Fremden wegen § 117 (Abs. 4) FrPolG 2005 idF des FrÄG 2009 geführtes Strafverfahren als Beteiligte eingestellt worden ist (vgl. E 22. Februar 2011, 2010/18/0446). Umso weniger setzt die fremdenpolizeiliche Feststellung, eine Ehe ist nur zum Schein geschlossen worden, voraus, dass der Scheinehepartner (vom Gericht) gemäß § 117 (Abs. 1 oder 2) FrPolG 2005 bestraft (vgl. E 23. März 2010, 2010/18/0034) oder eine Anzeige gemäß § 117 FrPolG 2005 erstattet worden ist (Hinweis E 21. Juni 2012, 2012/23/0022, VwGH 23.03.2017, Ra 2016/21/0349).

Die Nichtigerklärung einer Ehe gemäß § 23 Ehegesetz stellt keine Voraussetzung für die Feststellung des Bestehens einer Scheinehe dar und spricht das Unterbleiben einer solchen Nichtigerklärung nicht gegen die Beurteilung einer solchen Ehe (VwGH 21.02.2013, 2012/23/0049).

Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK sind insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und die Frage ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu berücksichtigen.

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs. 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist eine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose zu erstellen, bei der das Gesamtverhalten des Betroffenen in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (VwGH 19.02.2014, Zl. 2013/22/0309).

Zudem gilt es festzuhalten, dass die fremdenpolizeilichen Beurteilungen eigenständig und unabhängig von den die des Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs betreffenden Erwägungen zu treffen sind (vgl. Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096) und es bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes/Einreiseverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung geht. (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119).

Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs. 4 FPG auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, insbesondere auf die privaten und familiären Verhältnisse (VwGH 24.05.2016, Zl. Ra 2016/21/0075).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Da sich die Beschwerdeführerin seit weniger als fünf Jahren in Österreich aufhält, ist der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 zweiter Satz FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") anzuwenden.

Die Beschwerdeführerin schloss mit XXXX eine Aufenthaltsehe ohne die Absicht, ein gemeinsames Familienleben iSd Art 8 EMRK zu führen, mit der nur der Zweck verfolgt wurde, letzterem ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen, auf das er als Nicht-EU-Bürger sonst keinen Anspruch gehabt hätte. In Bezug auf diese Ehe wurde seitens der NAG Behörde eine Feststellung gemäß § 54 Abs. 7 NAG getroffen. Da sich XXXX mit Wissen der Beschwerdeführerin auf diese Ehe für den Erwerb eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts berufen hatte, liegen die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen sie vor, zumal insoweit ein Missbrauch des unionsrechtlichen Rechts auf Freizügigkeit zur Umgehung fremdenrechtlicher Vorschriften vorliegt.

Aufgrund des Fehlens eines regelmäßigen Einkommens im Inland kann für die Beschwerdeführerin zudem keine positive Zukunftsprognose erstellt werden, da sie hinsichtlich der von der Aufenthalts- und Niederlassungsbehörde festgestellten und durch Rechtskraft der Entscheidung der NAG Behörde letztlich unbestritten geblieben Scheinehe keinerlei Schuld- und Tateinsicht zeigt, sondern auch noch in der Beschwerde bestreitet eine Aufenthaltsehe geschlossen zu haben. Ein Aufenthaltsverbot gegen sie ist zum Schutz und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung geboten, insbesondere, weil der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften in diesem Zusammenhang ein hoher Stellenwert zukommt.

Weitere Voraussetzung für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist, dass der damit verbundene Eingriff in das Familien- und Privatleben der Beschwerdeführerin verhältnismäßig sein muss. Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Beschwerdeführerin hat außer ihrer 2-jährigen Tochter, die ebenfalls ungarische Staatsangehörige ist, kein schützenswertes Familienleben in Österreich, weil mit XXXX keine eheliche Lebensgemeinschaft bestand und keine anderen familiären Anknüpfungspunkte im Inland vorliegen. Ihrer unter fünfjährigen Aufenthaltsdauer kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070), zumal sie seit geraumer Zeit keiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet mehr nachgeht und hier auch keine maßgeblichen sozialen Bindungen bestehen. Die Beschwerdeführerin war zuletzt im September 2019 in Österreich erwerbstätig.

Andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie über keine Anknüpfung an ihren Herkunftsstaat verfügt, wo laut übereinstimmenden Aussagen ihr Sohn lebt.

Die erheblichen öffentlichen Interessen an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften, insbesondere an der Verhinderung strafrechtlich verpönter Scheinehen, überwiegen das persönliche Interesse der Beschwerdeführerin an einem Verbleib in Österreich, zumal sie aktuell weder hier Arbeitnehmerin noch Selbständige ist und auch sonst über keine Unterhaltsmittel verfügt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat somit zu Recht die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots bejaht.

Da sich das Fehlverhalten der Beschwerdeführerin im Eingehen der Aufenthaltsehe erschöpft, ist die Dauer des Aufenthaltsverbots auf 18 Monate zu reduzieren, weil dies dem vorliegenden Verstoß gegen die österreichische Rechtsordnung und den persönlichen und familiären Verhältnissen der Beschwerdeführerin entspricht, auch wenn man die fünfjährige Maximaldauer des Aufenthaltsverbots berücksichtigt. Durch diese Reduktion wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass nicht die Beschwerdeführerin, sondern XXXX durch die Scheinehe ein Aufenthaltsrecht verschafft werden sollte. Spruchpunkt I. ist in teilweiser Stattgebung der Beschwerde insoweit abzuändern.

Gemäß § 70 Abs 3 FPG ist EWR-Bürgern bei der Erlassung einer Ausweisung von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids ist vor diesem gesetzlichen Hintergrund nicht zu beanstanden.

4. Entfall der mündlichen Verhandlung:

§ 21 Abs 7 BFA-VG erlaubt das Unterbleiben einer Verhandlung, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Diese Regelung steht im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC. Bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zwar besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art 8 EMRK sonst relevanten Umstände. Daraus ist aber noch keine generelle Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das BVwG von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben (VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0233). Da hier der Sachverhalt anhand der Aktenlage und des Beschwerdevorbringens geklärt ist und auch bei einem positiven Eindruck von der BF bei einer mündlichen Verhandlung keine weitere Herabsetzung oder gar ein Entfall des Aufenthaltsverbots möglich wäre, konnte eine Beschwerdeverhandlung unterbleiben, zumal von deren Durchführung keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten ist.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Schlagworte

Aufenthalt im Bundesgebiet aufenthaltsbeendende Maßnahme Aufenthaltsehe Aufenthaltsrecht Aufenthaltsverbot Durchsetzungsaufschub Gefährdung der Sicherheit Gefährdungspotenzial Interessenabwägung Mittellosigkeit öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Privat- und Familienleben private Interessen Scheinehe Zukunftsprognose

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I416.2232093.1.00

Im RIS seit

28.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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