TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/8 W186 2134467-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.07.2020
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Entscheidungsdatum

08.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W186 2134467-1/14E

W186 2134645-1/11E

W186 2134644-1/8E

W186 2143861-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Judith PUTZER über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die Mutter, XXXX und 4.) mj. XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch die XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.08.2016, Zlen. 1097935105/151932575 (ad 1.), 1097933209/151932699 (ad 2.), 1097935203/151932630 (ad 3.) und den Bescheid vom 14.12.2016, Zl. 1137689010/161666449 (ad 4.), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.06.2020 zu Recht:

A)

I.       Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, sowie XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), XXXX (BF1), seine Ehefrau XXXX (BF2), sowie die gemeinsamen minderjährigen Kinder XXXX (BF3), und XXXX (BF4), sind afghanische Staatsangehörige.

1.2. Der BF1, die BF2 und die BF3 reisten nach ihren Angaben illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten am 03.12.2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.3. In ihrer Erstbefragung am 04.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gaben der BF1 und die BF2 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Sie seien Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und hätten zuletzt in Kabul gelebt. Der BF1 habe im Herkunftsland als Angestellter in einem IT-Unternehmen gearbeitet. Die BF2 habe 12 Jahre lang die Schule besucht und sei danach als Hausfrau tätig gewesen. Als Fluchtgrund gab der BF1 an, dass er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit von den Taliban mit dem Tode bedroht worden sei. Da sein Leben in Gefahr gewesen sei, habe er den Entschluss gefasst, gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan zu flüchten.

1.4. Bei seiner Einvernahme am 01.08.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge Bundesamt) gab der BF1 zu seinen Fluchtgründen an, dass er von den Taliban 2012 angerufen worden sei, als er für die ISAF gearbeitet habe. Ebenfalls habe ihn die Taliban 2012 angegriffen, wobei er Narben davongetragen habe und bettlägerig gewesen sei. Danach habe er begonnen wieder zu arbeiten. Als er zuletzt für ein weiteres Unternehmen gearbeitet habe, hätten ihn die Taliban angerufen um „Internetdienstleistungen“ von ihm zu fordern und ihn zu sich berufen. Aufgrund von Zweifeln, dass es sich bei den Anrufern um nicht um ein in Kabul ansässiges Unternehmen handele, sei der BF nicht zu dem Treffen gegangen. Danach habe er einen Drohbrief erhalten.

Die BF2 gab in ihrer Einvernahme am selben Tag zu ihren Fluchtgründen an, dass sie das Herkunftsland aufgrund der Probleme ihres Ehemannes mit den Taliban verlassen hätte. Ihr Ehemann habe in einem Unternehmen mit Ausländern gearbeitet. Die Taliban hätten nicht wollen, dass er dort arbeite. Eines Tages habe sie gemerkt, dass ein Brief in ihren Garten gelegt worden sei. Danach habe der Schwiegervater beschlossen, dass sie auf eine Einladung zur Tante mütterlicherseits des BF1 gehen sollen. Ferner führte die BF 2 aus, dass sie zwölf Jahre lang die Schule besucht habe und danach studieren hätte wollen. Da die Lage an den Universitäten schlecht gewesen sei, Säureanschläge verübt worden seien, Frauen entführt und vergewaltigt worden seien, habe sie sich dazu entschlossen nicht an die Universität zu gehen.

1.5. Am XXXX wurde der BF4 in Österreich geboren. Der BF1 stellte als gesetzlicher Vertreter für diesen am 25.10.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.6. Mit Bescheiden vom 18.08.2016 wies das BFA die Anträge der BF1 - 3 auf internationalen Schutz vom 03.12.2015 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihnen ebenso gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Ferner wurde den BF 1-3 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und wurde gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

1.7. Gegen diese Bescheide brachten die BF 1- 3 mit Schreiben vom 05.09.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Mit Schriftsatz vom 09.09.2016 brachten die BF durch ihre Rechtsvertretung eine Beschwerdeergänzung samt einem Konvolut an Beweismitteln ein.

1.8. Mit Bescheid vom 14.12.2016 wies das Bundesamt den Antrag auf Internationalen Schutz des BF4 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Stauts des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt II.). Unter einem wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach Afghanistan erlassen. Ferner wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Auch gegen diesen Bescheid wurde mit Schriftsatz vom 30.12.2016 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.

1.9. Das BVwG führte am 16.06.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durch, zu der die BF 1-4 persönlich mit ihrem gewillkürten Vertreter und einer Vertrauensperson erschienen sind. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Die Verhandlung gestaltete sich wie folgt:

„RI: Haben Sie Verwandte in Österreich?

BF1: Ja, ich habe eine Schwester hier.

Nachgefragt, gebe ich an, dass meine Schwester jünger ist als ist. Sie heißt XXXX . Meine Schwester ist verheiratet mit einem afghanischen Staatsbürger. Ihr Ehemann heißt XXXX .

RI: Ist Ihr Schwager ein Verwandter von Ihnen?

BF1: XXXX ist ein großer Stamm. Aber wir sind nicht blutsverwandt.

RI: Welcher ethnischen Gruppe gehören Sie an?

bF1: Ich bin Tadschike.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie?

BF1: Ich spreche DARI, PASCHTU, ENGLISCH, URDU und DEUTSCH.

RI: Woher kommen Ihre Kenntnisse in URDU und ENGLISCH? Haben Sie längere Zeit in PAKISTAN gelebt?

BF1: Nein, ENGLISCH habe ich früher gelernt. URDU habe ich im Büro gelernt, da es dort viele pakistanische Mitarbeiter gab.

RI: Können Sie dem Gericht Ihren Ausbildungsgang erzählen? Welche Schulische oder berufliche Ausbildung haben Sie absolviert?

BF1: Ich habe die Schule bis zur 9. Schulstufe im Lyceum ASHQAN-O-ARFAN besucht. Ich habe bei Internet-Firmen im Bereich Marketing gearbeitet.

RI: Wann haben Sie das Lyceum ASHQAN-O-ARFAN besucht?

BF: In das Lyceum ASHQAN-O-ARFAN bin ich im Jahr 2003 gekommen.

RI: Haben Sie danach ein Studium absolviert?

BF1: Nein.

RI: Woher haben Sie Ihre Computerkenntnisse dann?

BF1: Ein Freund von mir hat bei AFGHAN TELEKOM gearbeitet. Er war dort Rezeptionist. Die Computerkenntnisse habe ich mich durch ihn dort angeeignet. Ich habe Word und Windows gelernt.

SV: Ist der Name XXXX ein paschtunischer oder tadschikischer Familienname?

BF: Es gibt keine Verbindung zu den Paschtunen. 3 Generationen, die ich kenne sind Tadschiken. Was vorher war, weiß ich nicht.

RI: Welchen Beruf hat Ihr Vater ausgeübt?

BF1: Er hat nur bis zur 5. Schulstufe die Schule besucht. Es waren Kriegszeiten. Mein Vater war zuerst Fleischhauer. Auch seine Vorfahren waren das. Später hat er als Makler gearbeitet.

RI: Können Sie die letzte Adresse in KABUL nennen?

BF1: Ich habe zuletzt in Dukan-e Chindawu, Guzar-e Achekzai-ha.

Nachgefragt gebe ich an, dass ich in Afghanistan immer dort gelebt habe.

RI: Hat Ihr Vater an kriegerischen Handlungen in irgendeiner Form teilgenommen? Glauben Sie, dass er Mitglied einer Partei oder Fraktion war?

BF1: Nein, aber zurzeit NAJIB war er Soldat.

RI: Wissen Sie etwas darüber?

BF1: Mein Vater hat seinen Militärdienst absolviert. Ja, er hat mir selbst davon erzählt.

RI: Wie lange haben sie in der Internet-Firma gearbeitet?

BF1: Das war für 10 Jahre. Es war immer in KABUL. Ich war auch in anderen Provinzen. Ich bin viel gereist. Das allgemeine Büro war in KABUL.

RI: Haben Sie Familienangehörige, die jetzt noch in Afghanistan leben? Gemeint sind: Brüder, Schwester, Eltern, Onkel etc?

BF: Meine Eltern und zwei Schwestern leben in AFG.

Nachgefragt gebe ich an, dass ich einen Bruder habe, der derzeit in GRIECHENLAND lebt. Sie wollten ihn im Jahr 2019 entführen. Er ist geflohen und befindet sich seither in GRIECHENLAND.

RI: Wie viele Kinder haben Sie?

BF1: Ich habe drei Kinder.

Nachgefragt, gebe ich an, dass eine Tochter und mein Sohn in Österreich geboren sind. Meine erste Tochter ist in AFG geboren.

BFV gibt an: Zur hier geborenen Tochter XXXX , die am XXXX geboren wurde, möchte ich angeben, dass auch für diese Tochter ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt und in allen Punkten negativ beschieden wurde. Leider gab es ein Missverständnis und die Familie glaubte, dass durch die Beschwerde der Eltern auch automatisch für die nachgeborene Tochter Beschwerde erhoben wurde und damit ein Verfahren beim BVwG anhängig ist. Es wurde daher keine eigene Beschwerde erhoben. Ich gehe davon aus, dass der § 34 AsylG 2005 durchaus die Interpretation zulässt, dass die Formulierung, „wenn in einem Familienverfahren für eine Person Beschwerde erhoben wurde,“ dies auch für nachgeborene Kinder gilt. Ich gehe daher davon aus, dass auch die nachgeborene Tochter sich im Stadium des Beschwerdeverfahrens befindet und im Zuge des Familienverfahrens eine Beschwerde anhängig ist.

RI: Wovon leben Sie in Österreich?

BF1: In Österreich erhalten wir Unterstützung vom Staat, wöchentlich 42 Euro pro Person.

RI: Wo wohnen Sie?

BF1: In Schwechat.

Nachgefragt gebe ich an, dass wir in einem Heim wohnen. Dieses Heim gehört einer Kirche.

RI: Haben Sie versucht eine Tätigkeit auszuüben, auch wenn diese unbezahlt ist?

BF1: Ja, ich habe auch unentgeltlich gearbeitet. Ich habe 1 1/5 Jahre beim Roten Kreuz gedolmetscht, die Sprachen URDU, DARI, PASCHTU, ENGLISCH. Meine Deutschkenntnisse waren damals nicht so gut.

Nachgefragt, gebe ich an, dass ich Paschtu, Dari und Urdu in Englisch übersetzt habe. Ich habe Familien begleitet. Ab 2016 habe ich bei OKTO-tv bei URBAN Connection ehrenamtlich gearbeitet. Dort habe ich Videographie und Photographie gelernt. In der Kirche habe ich viel ausgeholfen. Als Maler oder Reinigungskraft gearbeitet, Vorbereitungen für Feste gemacht. Auch habe auch für die CARITAS gearbeitet. Meine Frau und ich haben für die CORONA-Krise etwa 500 Masken erstellt, die wir dann an SCHWECHAT hilft weitergegeben haben und 100 weitere für ein Seniorenheim.

RI: In welcher Kirche engagieren Sie sich?

BF1: Das ist die Kirche Schwechat, Hauptplatz, eine katholische Kirche. Es gab zwei Kirchen. Ich habe auch eine andere Kirche besucht. Dort habe ich ausgemalt.

RI: Haben Sie überlegt Mitglied dieser Kirche zu werden? Welcher Religion gehören Sie heute an?

BF1: Ich bin derzeit Muslim. Was ich persönlich bevorzuge ist die Menschlichkeit. Religion ist etwas Persönliches. Ich respektiere alle Religionen.

RI: Kann sich Ihre Frau frei bewegen? Ihre Angelegenheiten frei erledigen?

BF1: Ja. Bis 2016 war das nicht der Fall. Da haben wir in einem Camp gelebt und waren von Afghanen umgeben. Sie ist nicht so oft hinausgegangen. Erst in Schwechat ist meine Ehefrau eigenständiger geworden. Das betrifft ihre Kleidung, das Essen und auch das Haus verlassen. Sie hat genauso viele Rechte wie ich.

RI: Haben Sie Kontakte zur afghanischen Community in WIEN und Umgebung?

BF1: Ich habe Kontakt zu Afghanen. Wenn es Veranstaltungen gibt und ich von OKTO dorthin gehe. Da ich in Schwechat lebe, habe ich Kontakt zu dort lebenden einheimischen Familien ich habe auch zu einer afghanischen Familie in WIEN Kontakt. Ich habe viele Fotos von den Personen, mit denen ich Kontakt habe, hauptsächlich Österreicher.

RI stellt fest, dass die anwesende Vertrauensperson Fr. Dr. XXXX Vizepräsidentin des OLG WIEN, die Familie des BF im Rahmen des Justizbildungszentrums/Arbeiter Samariterbund seit Jahren begleitet.

BFV: Die Adresse an der Sie in KABUL gewohnt haben, war das Ihr Elternhaus?

BF1: Ja, da ist mein Elternhaus. Auf der anderen Seite ist mein Haus.

BFV: Würden Sie Ihren Vater liberal oder religiös traditionell einstufen?

BF1: Mein Vater war und ist ein sehr religiöser und konservativer Mensch. Er hat auch die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen. Das Haus gehört meinem Vater.

RI: Haben Sie Kontakt zu Ihrem Vater?

BF1: Ja, nicht sehr viel, da ich nicht so viel Zeit habe. Ich meide auch den Kontakt, da es jedes Mal zu Problemen innerhalb der Familie kommt. Sie akzeptieren es schwer, dass sich meine Frau freizügiger kleidet. Ich sage zu ihnen „ja, ja“, um sie nicht zu verlieren. Ich führe hier aber mein Leben.

RI: Welchen Beruf würden Sie gerne ergreifen, wenn Sie hierbleiben könnten/dürften?

BF1: Als ich im Jahr 2015 nach Österreich kam, nahm ich Kontakt zur CARITAS auf. Ich wollte mich hier im Bereich Marketing weiterbilden, oder als Automechaniker. Sie haben mir gesagt, dass jene die älter als 26 Jahre sind, sich hier nicht mehr bilden können. Es gilt nur für Personen, die unter 26 Jahre sind. Als ich merkte, dass ich hier nicht lernen kann, habe ich mich mit Videographie und Photographie beschäftigtet. Ich habe OKTO gesagt, dass ich ihnen meine Arbeitskraft zur Verfügung stellen möchte. Ich habe aber gesagt, dass ich noch Kenntnisse erwerben muss. Ich habe viele Aufnahmen von Österreich gemacht, da dies ein schönes Land ist. Ich habe auch viele Interviews mit berühmten Persönlichkeiten, z.B. mit dem Bundespräsidenten, oder einem Konsul geführt. Mit Videographie und Photographie ist meine Ehefrau ebenfalls vertraut. Sie kann mich auch in Zukunft im Job unterstützen, wenn sie das möchte.

Die Verhandlung wird um 14:20 Uhr für eine Pause unterbrochen und um 14:40 Uhr fortgesetzt.

Einvernahme der BF2:

RI: Können Sie dem Gericht sagen, welche Schulausbildung Sie absolviert haben?

BF2: Ich habe die Schule bis zur 12. Klasse besucht.

Nachgefragt gebe ich an, dass ich das Lyceum Nisuane Emini in KABUL besucht habe.

RI: Haben Sie Matura (Abitur) gemacht?

BF2: Ja.

BFV: Das Maturazeugnis ist im Akt.

RI: Was haben Sie nach der Schule gemacht?

BF2: Mein Vater hat mir versprochen, dass ich meine Bildung fortsetzen kann. Ich habe zwei Monate vor dem Schulende geheiratet. Als ich bei meinem Ehemann war, habe ich die Schule gewechselt. Ich bin dann in die Schule MAHJUBA HERAWI gegangen.

Auf Nachfrage der RI gibt die BF2 an: Ich muss sagen, wenn ich an meine Vergangenheit denke, dann werde ich nervös. Obwohl ich in diesen 5 Jahren sehr viele Möglichkeiten hatte, was das Leben angeht.

RI: Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?

BF2: Wir haben uns durch den Freund meines Vaters kennengelernt. Es war so, dass sein Vater einen gemeinsamen Freund, der auch mit meinem Vater befreundet war, sagte, sie würden „ein gutes“ Mädchen suchen. Ich wurde dann vorgeschlagen. Es kam dann dazu, dass sie bei uns zuhause waren und um meine Hand angehalten haben. So ging es weiter

RI: Können Sie dem Gericht den Beruf Ihres Vaters nennen?

BF2: Der Beruf meines Vaters war, Autohändler. Er hat die Autos gekauft und wiederverkauft. Er hat in keiner Autowerkstätte gearbeitet. Er war kein großer Autohändler, eher im kleinen Bereich.

RI: Haben Sie Geschwister?

BF2: Ja.

Nachgefragt gebe ich an, dass ich 3 Schwestern und 4 Brüder habe.

RI: Wo leben Ihre 3 Schwestern und Ihre 4 Brüder jetzt?

BF2: Sie befinden sich derzeit in AFG. Ein Bruder von mir lebt in Österreich.

Nachgefragt gebe ich an, dass er XXXX .

Ri. Wissen Sie, welchen rechtlichen Status Ihr Bruder in Österreich hat?

BF2: Er hatte ein Interview, hat einen negativen Bescheid erhalten und wartet jetzt.

RI: Welcher ethnischen Gruppe gehören Sie an?

BF2: Ich bin Tadschikin.

RI: Woher stammt Ihre Familie ursprünglich?

BF2: Meine Familie stammt aus KABUL Stadt. Wir stammen aus Jangala/KABUL-Stadt.

RI: Welcher Religion gehören Sie an?

BF2: Ich bin sunnitische Muslima.

RI: Kennen Sie viele afghanische Frauen, aus der afghanischen Community in WIEN?

BF2: Ich kenne nicht viele afghanische Frauen. Aber es gibt einige zu denen ich Kontakt habe.

RI: Wie lange kleiden Sie sich schon so, wie Sie heute vor Gericht gekleidet sind?

BF2 weint und ist sehr bewegt. Zu dem Zeitpunkt, als ich das Camp verlassen habe, und in SCHWECHAT ankam, habe ich begonnen mich so zu kleiden wie heute. Was meine Kleidung angeht, habe ich viele Schwierigkeiten erlebt und war mi vielen Problemen konfrontiert. Mein Schwiegervater hat mich „angespuckt“ per Videotelefonie. Er ist ein älterer Herr und für mich wie ein Vater. Ich habe ihm eine Chance gegeben. Als wir erneut miteinander sprachen, hat er es wieder getan. Er sagte, weil ich kein Kopftuch trage bin ich keine Muslima und hätte den Ruf der Familie ruiniert.

SV: Wie haben sich Ihre Großmütter und Ihre Mutter gekleidet?

BF2: Meine Großmutter hat einen langen Mantel und eine Kopfbedeckung getragen. Meine Mutter kleidet sich derzeit genauso.

SV gibt an, dass die BF2 im Krieg geboren wurde und es gibt wenig Wissen über die Vorgeschichte.

RI: Hatte Ihre Mutter einen Beruf ausgeübt?

BF2: Nein, meine Mutter war Hausfrau.

RI: Können Sie sich erinnern, als Sie noch in AFG: Wie ging es Ihnen damals?

BF2: Als ich in meinem Elternhause oder meiner Schwiegerfamilie gewohnt habe?

RI: Beginnen wir mit der Schwiegerfamilie.

BF2: Als ich bei meiner Schwiegerfamilie lebte, habe ich noch für zwei Monate die Schule besucht, um meinen Abschluss zu machen. Davor waren wir verlobt. Mein Schwiegervater wollte, dass wir so schnell wie möglich heiraten. Er sagte, dass sie nicht länger warten können. Als wir geheiratet haben, hat mir mein Schwiegervater nicht erlaubt, die restlichen zwei Monate in die Schule zu gehen. Ich habe mit meinem Ehemann darüber gesprochen. Ich habe ihn jede Nacht darum gebeten. Ich habe auch viel geweint. Er sagte mir, seine Eltern würden es nicht erlauben, und er könne nichts tun. Ich habe jede Nacht geweint und gemeint, dass alles umsonst sei, wenn ich die letzten beiden Monate nicht mehr zur Schule ging. Mein Mann konnte seinen Vater überreden, dass ich die Schule weiter besuchen konnte. Ich musste aber die Schule wechseln. Die Schule MAHJUBA HERAWI war bei uns in der Nähe ich durfte nicht alleine hingehen. Ich musste gemein mit meiner Schwägerin, der Schwester meines Mannes zur Schule gehen.

Nachgefragt gebe ich an, dass ich in der Klasse mit meiner Schwägerin war. Sie haben nicht erlaubt, dass ich in eine andere Klasse gehe. An Tagen, an denen meine Schwägerin nicht zur Schule ging, z.B. aus gesundheitlichen Gründen, da durfte ich auch nicht in die Schule gehen.

SV merkt an, dass es in AFG jetzt üblich ist, dass die Familien wegen des Krieges oftmals ihre Töchter bzw. ihre Schwiegertöchter nicht zur Schule gehen lassen.

RI: Können Sie dem Gericht sagen, welchen Unterschied es zwischen Ihrem Leben jetzt hier in Österreich, und dem Leben das Sie bis zuletzt in AFG geführt haben, gibt?

BF2: Es gibt viele Unterschiede. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. In AFG habe ich immer darum gebetet, von dort wegzukommen. Es kam sogar einmal vor, dass mein Schwiegervater ein Glas nach mir warf. Hier werde ich als Mensch akzeptiert. Hier habe ich realisiert, dass ich als Frau auf dieser Erde leben darf.

RI: Wie leben Sie jetzt in Österreich?

BF2: Hier habe ich die Kontrolle über mein Leben. Ich gehe hin, wohin ich möchte. Ich lerne Personen kennen. Mein Mann hat keine Einwände. Ich durfte damals meine Eltern nicht besuchen. Ich habe sie lange nicht gesehen. Erst nach 5 oder 6 Monaten durfte ich meine Eltern wiedersehen. Sie haben es mir nicht erlaubt. Ich durfte auch meine Tochter nichtmitnehmen. Die Schwiegerfamilie meinte, es sei ihre Enkeltochter. Dadurch, dass die Tochter die Tochter des Sohnes der Familie, haben die Familienangehörigen mehr Ansprüche auf das Kind, als meine Eltern.

Nach 5 oder 6 Monaten konnte ich meinen Ehemann dazu überreden, zu meinen Eltern zu fahren. Selbst da konnte ich meine Tochter nicht mitnehmen, da sie es mir nicht erlaubten.

RI: Stellen Sie sich vor: Sie müssten jetzt theoretisch gesagt, alleine nach KABUL zurückkehren. Was würde mit Ihnen dann passieren?

BF2 weint und ist sehr bewegt. Es ist nicht möglich. Ich möchte auf keinen Fall zurück in meine „schwarze“ dunkle Vergangenheit. An Tagen, an denen mein Schwiegervater nicht daheim war, war ich sehr glücklich. Sobald jemand an der Türe geklopft hat, habe ich am ganzen Körper gezittert. Ich war wie eine Dienerin. Eine Dienerin war mehr wert als ich. Ich wurde nicht respektiert und auch als Person nicht akzeptiert.

RI: Angenommen, Ihr Schwiegervater wäre nicht mehr in KABUL. Wie würde es Ihnen dann in KABUL ergehen?

BF2: Neben den familiären Problemen, ist die Situation in AFG sehr barbarisch. Es gibt keine Garantie dafür, dass mein Mann gesund von der Arbeit heim kommt oder nicht. Es gibt viele Bombenanschläge. Es gibt viele Ungerechtigkeiten gegenüber von Frauen, Meine Kinder dürften sich nicht bilden. Ich bin im Moment sehr emotional.

RI: Wie würden Sie im Falle eines Arztbesuches in KABUL vorgehen?

BF2: Alleine ist es für eine Frau unmöglich zum Arzt zu gehen. Wenn man mit einem Arzt z.B. in einem Zimmer ist, kann man ihm nicht vertrauen. Man weiß nicht, ob er die Patientin behandelt oder vergewaltigt.

SV: Diese Angaben der BF, dass sie sogar einen Arzt bei einer Untersuchung nicht traut, ob er sie tatsächlich behandelt oder missbraucht entspricht der Situation in AFG sowie es die Frauen anbelangt, die alleine sind.

RI: Wie gestaltet sich Ihr Tagesablauf in Österreich? Besuchen Sie Deutschkurse? Treffen Sie sich mit anderen Personen? Gehen Sie alleine einkaufen etc.?

BF2: Wenn mein Mann zuhause ist, gehen wir gemeinsam einkaufen. Wenn er nicht daheim ist gehe ich mit meinen Kindern alleine einkaufen. Ich habe österreichische und afghanische Freundinnen. Ich fahre Rad und betreibe Sport. Auf YouTube lerne ich Deutsch. Ich habe einen Deutschkurs bis zum Niveau A2 besucht. Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Leben so stark verändert. Es war für mich unvorstellbar. Hier ist eine andere Welt. Ich habe nicht einmal davon träumen können.

Nachgefragt, gebe ich an, dass ich die Welt hier viel, viel schöner finde.

BF2 weint und ist sehr bewegt. Ich habe früher immer zu Gott gebetet, dass er mich aus dieser Situation befreien soll. Es gab dort einen heiligen Ort, wo auch ein Märtyrer begraben ist. An diesem Ort habe ich meine Gebete verrichtet und wollte nur noch befreit werden. Meine Schwiegermutter sagte zu mir, dass ich noch nichts erlebt hätte. Ich solle noch warten.

SV: Wenn Sie Angst gehabt haben, vor Ihrem Schwiegervater, oder Sie sich in der Familie schlecht gefüllt haben, hätte Sie zur Polizei gehen können?

BF2: Ich durfte das Haus nicht verlassen. Ich musste ständig, putzen, kochen und das Zimmer kehren. Mein Mann und ich sind die meiste Zeit nicht zum selben Zeitpunkt ins Bett gegangen. Mein Mann ging früher zu Bett als ich. Ich musste mich noch um den Haushalt kümmern. Ich hatte vier Schwägerinnen und einen Schwager. Ich musste die Kleidung für meinen Schwiegervater und meinen Ehemann bereitlegen. Ich musste auch die Schuhe polieren. Mit diesen Tätigkeiten war ich bis Mitternacht beschäftigt. Aufgrund der unterschiedlichen Zubettgehen Zeiten sind wir unseren ehelichen Pflichten nicht nachgekommen.

SV: Sie gingen in die Schule. Jemand berührt Sie z.B. auf der Straße. Hätten Sie dann, wenn sie auf der Straße von einem Fremden angegriffen werden, zur Polizei gehen können? Sie als Frau. Ein Mann kann sich wehren.

BF2: In solchen Fällen, ist es fast unmöglich sich an die Polizei zu wenden. Denn oftmals missbrauchen die Polizisten die Situation. Es wird für die Frau noch schlimmer, als es schon gewesen ist. Die Polizisten verlangen von der Frau einen Intimkontakt, um den Fall zu übernehmen. Sie wird physisch missbraucht.

SV: ist es Ihnen möglich, wenn Sie nach KABUL fliegen, in ein Hotel zu gehen, ohne dass Ihnen etwas passiert?

BF2: Auf gar keinen Fall. Es ist unmöglich für eine Frau dorthin zu reisen, oder in ein Hotel zu gehen. Solche Fälle sind unmöglich, ohne dass es einen Vorfall gibt. Eine Frau, die über so etwas nachdenkt und sich in eine solche Situation begeben möchte, muss mit vielen rechnen, z.B. einer Vergewaltigung und vielen anderen Dingen.

RI: Was würde Ihnen passieren, wenn Sie theoretisch gesagt, nach AFG zurückkehren müssten? Wovor haben Sie Angst?

BF2: Ich werde getötet, auch mein Mann wird getötet, aufgrund seiner eigenen Probleme. Die Situation in AFG ist barbarisch. Es gibt ständig Bombenanschläge. Es ist auch nicht möglich, dass sich ein Mann ab 20.00 Uhr außer Haus aufhält. Vor kurzem habe ich mit meiner Familie gesprochen. Meine Mutter erzählte mir von ihrer Nachbarin. Einem Jungen wurden 1000 Afghanis und ein Mobiltelefon gestohlen. Er wurde getötet und die Leiche „weggeschmissen“.

SV: Die Angaben der BF betreffend ihre starken Einschränkungen in der afghanischen Gesellschaft, auch in KABUL entsprechen der derzeitigen afghanischen Wirklichkeit. Eine Frau, wie die BF2, eine junge Frau, kann alleine nicht mit Sicherheit in die Stadt gehen um einzukaufen oder zum Arzt gehen, ohne dass sie von ihrem Mann oder einer Vertrauensperson oder dem Familienoberhaupt begleitet wird. Ihre Angaben betreffend ihre alleinige Rückkehr nach AFG entsprechen ebenfalls den Tatsachen in AFG. Sowohl am Flughafen als auch in Hotels wird sie gefragt, wo ihre Familie ist, wer sie ist. Sie kann bei der Polizei gemeldet werden, oder es wird ihre Familie gesucht. Sie ist auf jeden Fall vielen Gefahren ausgesetzt, so wie sie es geschildert hat.

Die BF2 kann in dieser Kleidung, wie sie sie heute trägt, nicht in AFG auftreten. Selbst auch nicht mit einem Kopftuch, wenn sie ihren Kopf nicht neigt.

RI: Könnten Sie sich vorstellen, gemeinsam mit Ihrem Mann, theoretisch gesprochen, wieder nach AFG zurückkehren könnten?

BF2: Nein, mein Mann wird dort sterben. Ich möchte nicht zurück in meine dunkle Vergangenheit. Ich möchte hier ein neues Leben starten. Ein Leben, das ich mir nicht einmal annähernd vorstellen konnte.

RI an BFV: Haben Sie Fragen an die BF2 oder an den SV?

BFV: Ich schließe mich dahingehend den Ausführungen des SV an, nämlich, dass ich auch davon ausgehe, dass Frauen grundsätzlich in AFG und selbst in der Hauptstadt KABUL kein selbstbestimmtes Leben führen können. Wie die BF2 schon beim BFA aber insbesondere heute dargelegt hat, führte sie in AFG ein fremdbestimmtes Leben, das von Unterdrückung und ohne Wertschätzung ihr gegenüber geprägt war. Hier in Österreich hat die BF2 in den letzten fast 5 Jahren die Möglichkeit gehabt aus diesem fremdbestimmten Leben „quasi“ auszubrechen und ein neues Leben nach ihren Wünschen Vorstellungen und Werten zuführen. Im Falle einer Rückkehr nach AFG würde sie im Falle der Fortführung dieses Lebens mit sehr großer Wahrscheinlichkeit als Frau einer unmenschlichen Behandlung unterzogen werden. Ich gehe daher davon aus, dass dem Antrag der BF2 dahingehend stattzugeben ist, sie als selbstbestimmte Frau als Flüchtling anzuerkennen ist.

SV gibt abschließend an, sowie in vielen Jahren in ständiger Begutachtungstätigkeit, stelle ich auch heute fest, dass die Frau in AFG nach wie vor kein Rechtssubjekt ist. Daran hat sich nichts geändert. Dazu möchte ich angeben, dass bei den derzeitigen Friedensverhandlungen mit den Taliban die Hauptbedingung von diesen war, die Rechte der Frauen zurückzunehmen und einzuschränken.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

1.1. Zur Person der BF:

Die BF sind Staatsangehörige Afghanistans und Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken Die Muttersprache der BF ist Dari, darüber hinaus spricht der BF1 Urdu, Paschtu, Englisch und Deutsch auf dem Niveau A2 und die BF2 Deutsch auf dem Niveau A1 und lernt Deutsch mittels „Youtube Videos“. Die BF1 und 2 sind bereits vor der Einreise nach Österreich traditionell verheiratet gewesen. Die BF3 und die BF4 sind die minderjährigen Kinder des BF 1 und der BF2, wobei die BF4 erst nach Einreise im Bundesgebiet geboren wurde.

1.2. Lebensumstände der BF in Afghanistan:

Der BF1 und die BF2 sind in Afghanistan geboren, und lebten zuletzt im Haus der Eltern des BF 1 in Kabul mit den Eltern und Geschwistern des BF1 im engen Familienverband. Der BF1 hat in Afghanistan die Schule bis zur 9. Schulstufe besucht und arbeitet danach bei Internet-Firmen im Marketingbereich. Die BF2 besuchte in Afhganistan die Schule bist zur 12. Klasse. Die Fortsetzung ihrer Bildung auf einer Universität wurde ihr danach nicht ermöglicht. Sie wurde Hausfrau und kümmerte sich neben ihrem Ehemann und ihrer Tochter auch um die Schwiegereltern und Geschwister des BF 1.

1.3. Zur westlichen Orientierung der BF2:

Die BF2 hat ihr Verhalten und ihr Auftreten der neuen Kultur entsprechend verändert.

Die persönliche Haltung der BF2 über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft stand bereits sowohl in der Vergangenheit in ihrem Herkunftsstaat, als auch aktuell aufgrund ihres fünfjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Sie distanziert sich vehement von ihrem in Afghanistan gelebten Leben als Hausfrau und „Dienerin“ der Schwiegerfamilie und den Umstand, dass sie nicht das Haus verlassen durfte. Ebenso tritt sie vehement gegen der ihr in Afghanistan versagten universitären Weiterbildungsmöglichkeit auf.

Die BF2 ist von ihrer persönlichen Wertehaltung her nunmehr überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert. Sie absolvierte das ÖSD Zertifikat A1 und bringt sich selbst die Deutsche Sprache weiterhin mittels Youtube-Videos bei. Ebenso hat sie den in Afghanistan für Frauen vorherrschenden Kleidungsstil abgelegt und kleidet sich im westlichen Stil. Sie gestaltet ihren Tagesablauf im Bundesgebiet frei und ohne Einschränkungen ihres Ehemannes, verlässt das Haus und trifft sich mit Freunden. Auch geht sie mit ihren Kindern zusammen Einkaufen, fährt mit dem Rad und betreibt Sport. Zu ihrem im Bundesgebiet aufgebauten Freundeskreise zählen neben Afghaninnen auch Österreicherinnen.

Die BF möchte in Zukunft ein selbstbestimmtes Leben führen, und sich nicht mehr mit dem in ihrem Herkunftsland vorherrschenden Rollenbild einer Frau als Hausfrau – die nicht ohne Erlaubnis und Begleitung ihres Ehemannes außer Haus gehen darf – unterordnen.

Sie ist nunmehr eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt. Die BF2 will auch ihre Kinder frei von Zwängen erziehen und weiterhin so leben, wie sie hier in Österreich lebt. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Die Einstellung und Lebensweise der BF2 steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen und der Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Der BF 1 unterstützt die Sichtweise seiner Frau.

Der BF1 und die BF2 sind als Eltern der BF3 und der BF4 im gegenständlichen Beschwerdeverfahren die gesetzlichen Vertreter ihrer minderjährigen Kinder, die sich ihrem Vorbringen als Familienangehörige im Verfahren anschließen.

1.4. Zur Lebenssituation der BF in Österreich:

Alle Beschwerdeführer nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch und sind strafgerichtlich unbescholten bzw. strafunmündig. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.

Die BF 1 und 2 haben sich ehrenamtlich bei der Caritas engagiert, der BF 1 hat bei Firmen ausgeholfen und sich auch in der Kirche engagiert.

Die BF 1 und 2 absolvierten im Bundesgebiet ÖSD Deutschzertifikates, der BF1 zusätzlich auch den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF. Der BF 1 nahm darüber hinaus auch an Weiterbildungskurse der Caritas im IT-Bereich teil und arbeitet im Zuge der Remunerantentätigkeiten als Schülerlotse im Rathaus Schwechat.

Alle BF sind gesund und leiden an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

1.5.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020):

„Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019). Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004). Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020). Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019). Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019). Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011). Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019). Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019). Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004). Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019). Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019). Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und USAmerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020). Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020)

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RSMission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den USAmerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020). Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020). Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RSMission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das HaqqaniNetzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020)

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das HaqqaniNetzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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