TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/16 W115 2212675-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.07.2020
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Entscheidungsdatum

16.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W115 2212678-1/10E

W115 2212674-1/9E

W115 2212675-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Erstbeschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Gemeinsam mit der Beschwerdeführerin reiste ihr volljähriger Bruder in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte dieser ebenso am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Dessen Verfahren ist ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht unter der Geschäftszahl XXXX anhängig.

1.1.    Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei in der Provinz XXXX geboren und habe dort auch bis zu ihrer Ausreise gelebt. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sich ihr Ehemann bereits in Österreich aufhalte. Sie habe gemeinsam mit ihrem Bruder vor ca. drei Monaten Afghanistan verlassen und sie seien beide schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist. Ihre Eltern seien bereits verstorben. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie vier Jahre die Grundschule besucht habe. Über eine Berufsausbildung verfüge sie nicht. In Afghanistan sei sie Hausfrau gewesen. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Familie ein Hotel besessen habe. Einige von den Gästen seien Mitglieder der Taliban gewesen. Dies habe ihr Bruder bei der Polizei gemeldet und daraufhin seien diese Männer verhaftet worden. Aus diesem Grund sei ihre Familie von den Taliban bedroht worden. Ihr Vater sei auch von den Taliban erschossen worden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe sie Angst um ihr Leben.

1.2.    Eine EURODAC-Abfrage ergab keinen Treffer.

1.3.    Am XXXX wurde die Zweitbeschwerdeführerin, Tochter der Erstbeschwerdeführerin und ihres in Österreich lebenden Ehemannes, in Österreich geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin für sie als gesetzliche Vertreterin am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.4.    Am XXXX wurde der Drittbeschwerdeführer, Sohn der Erstbeschwerdeführerin und ihres in Österreich lebenden Ehemannes, in Österreich geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin für ihn als gesetzliche Vertreterin am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.5.    Nach Zulassung der Verfahren durch Ausfolgung von Aufenthaltsberechtigungskarten wurde die Erstbeschwerdeführerin am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab für sich und ihre minderjährigen Kinder im Wesentlichen zusammengefasst an, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Befragt zu ihrem Gesundheitszustand gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie Probleme mit der Schilddrüse habe und deswegen in ärztlicher Behandlung stehe. Weiters sei sie oft traurig und leide unter Schlafstörungen. Dagegen nehme sie auch Medikamente. Sie sei jedoch in der Lage der heutigen Einvernahme zu folgen. Sie und ihre Kinder seien afghanische Staatsangehörige und würden der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Sie sei in der Provinz XXXX geboren und habe dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie verheiratet sei und zwei Kinder, die Zweitbeschwerdeführerin und den Drittbeschwerdeführer, habe. Ihr Ehemann lebe bereits seit einigen Jahren in Österreich. Während eines gemeinsamen mehrmonatigen Aufenthaltes im Iran im Jahr XXXX habe sie ihren Ehemann dort geheiratet. In Österreich lebe weiters noch ihr Bruder, mit dem sie gemeinsam Afghanistan verlassen habe. In Afghanistan würden noch ihr Schwiegervater, ein Onkel mütterlicherseits sowie die Ehefrau ihres Bruders gemeinsam mit den Kindern leben. Wo genau sich diese Verwandten aufhalten würden, wisse sie jedoch nicht. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan vier Jahre die Schule besucht habe. Einen Beruf habe sie jedoch nicht erlernt. Sie sei Hausfrau gewesen und habe zuhause Teppiche geknüpft. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass ihr Bruder und ihr Vater in Afghanistan ein Hotel gehabt hätten. In diesem Hotel hätten auch Mitglieder der Taliban ein Zimmer gemietet gehabt. Mit diesen Männern hätte es Schwierigkeiten gegeben und ihr Vater und ihr Bruder seien daraufhin von den Taliban bedroht worden. Wenig später sei ihr Vater von den Taliban getötet worden. Einzelheiten könne sie nicht angeben, da ihr Bruder ihr keine weiteren Details erzählt habe. Drei Tage nachdem ihr Vater getötet worden sei, habe sie gemeinsam mit ihrem Bruder und dessen Familie Afghanistan verlassen. Auf der Flucht seien die Ehefrau und die Kinder ihres Bruders jedoch von Grenzbeamten erwischt und wieder zurück nach Afghanistan geschickt worden. Befragt, was sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie Angst davor habe, ebenfalls von den Taliban getötet zu werden. Zudem hätten es Frauen dort sehr schwer und es bestehe die Gefahr vergewaltigt zu werden. Zudem würden die Frauen in Afghanistan wie in einem Gefängnis leben. Sie müssten immer zuhause bleiben. Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie hier bereits viele Bekannte gefunden habe. Sie nehme weiters einmal im Monat an einer Veranstaltung der XXXX teil. Dort würden alle zusammenkommen und gemeinsam Kaffee trinken. In ihrer Freizeit gehe sie mit ihren Kindern in den Park spazieren. Aufgrund ihrer zwei Kinder habe sie nur drei Monate einen Deutschkurs besucht, wenn ihre Tochter aber in den Kindergarten komme, habe sie vor die deutsche Sprache zu lernen, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Wenn ihr Ehemann arbeiten würde, gehe sie alleine einkaufen. Ihr Ehemann helfe ihr auch im Haushalt. Auf Befragung der belangten Behörde gab die Erstbeschwerdeführerin weiters an, dass sie früher ein Kopftuch getragen habe. Nunmehr wolle sie keines mehr tragen, da sie hier frei sei. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Angaben auch für ihre Kinder gelten würden, diese hätten keine eigenen Fluchtgründe. Sie wünsche sich, dass ihre Kinder in Österreich aufwachsen könnten, da vor allem ihre Tochter hier ihre eigenen Entscheidungen treffen könne. Weiters wurde der Erstbeschwerdeführerin von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und mit ihr erörtert. Eine Stellungnahme dazu wurde von der Erstbeschwerdeführerin nicht abgegeben.

Im Zuge der Einvernahme wurden von der Erstbeschwerdeführerin integrationsbescheinigende Unterlagen, medizinische Beweismittel betreffend die medikamentöse Behandlung der Schilddrüse, Laborbefunde sowie ein ambulanter Patientenbrief aus dem Jahr XXXX , aus dem hervorgeht, dass bei der Erstbeschwerdeführerin eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Depression diagnostiziert worden sind, in Vorlage gebracht.

1.6.    Mit den im Spruch genannten Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen unter Spruchpunkt III. gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

1.7.    Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.8.    Gegen Spruchpunkt I. der im Spruch genannten Bescheide wurde von der Erstbeschwerdeführerin für sich und ihre Kinder fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde erhoben und der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

2.       Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakte langten der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.1.    Mit Schriftsatz vom XXXX wurde unter Berufung auf die erteilte Vollmacht von XXXX bekanntgegeben, dass die Beschwerdeführer im weiteren Verfahren von ihr vertreten werden.

2.2.    Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführer, ihre bevollmächtigte Vertreterin sowie ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.

Im Rahmen dieser Verhandlung brachte die Erstbeschwerdeführerin für sich und ihre minderjährigen Kinder nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie seien afghanische Staatsangehörige und würden der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Ihre Muttersprache sei Dari. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Österreich mittlerweile auch Deutsch gelernt habe. Befragt zu ihrem Herkunftsort gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan in einem namentlich genannten Dorf in der Provinz XXXX geboren worden sei. Noch als Kind sei sie gemeinsam mit ihren Eltern in die Stadt XXXX gezogen und habe dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Zu ihren Familienverhältnissen befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Österreich zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in einem gemeinsamen Haushalt lebe. Zurzeit sei sie gerade mit ihrem dritten Kind schwanger. Ihren Ehemann habe sie im Jahr XXXX im Iran geheiratet. Es sei eine traditionelle Ehe vor einem Mullah gewesen. Weiters halte sich in Österreich noch ihr Bruder auf, mit dem sie gemeinsam aus Afghanistan geflüchtet sei. Ihre Eltern seien bereits verstorben. In Afghanistan lebe noch die Ehefrau ihres Bruders mit den Kindern. Bis vor kurzem habe auch noch ihr Schwiegervater in Afghanistan gelebt, dieser sei jedoch mittlerweile verstorben. Ob ihr Onkel mütterlicherseits noch am Leben sei, wisse sie nicht, da sie keinen Kontakt mehr zu ihm habe. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan ca. vier bis fünf Jahre die Schule besucht habe. Danach sei sie zuhause gewesen und habe Teppiche geknüpft.

Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie bereits den A1-Deutschkurs besucht habe. Wegen ihrer beiden kleinen Kinder sei es ihr jedoch in weiterer Folge nicht mehr möglich gewesen, weitere Deutschkurse zu besuchen. Sie lerne jedoch zuhause weiterhin Deutsch. Wenn ihre Kinder dann in den Kindergarten kommen würden, habe sie vor, ihre Deutschkenntnisse weiter zu verbessern. In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin angegeben, dass ihre Tochter bereits einen Kindergarten besucht habe. Da bei ihr jedoch psychische Probleme festgestellt worden seien, habe sie den Kindergartenbesuch wieder beenden müssen. Ihr sei von der Kindergartenpädagogin gesagt worden, dass ihre Tochter einen Sonderkindergarten besuchen müsse. Einen Tag vor der heutigen Verhandlung hätte sie endlich einen passenden Kindergarten für ihre Tochter gefunden (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurden von der Erstbeschwerdeführerin medizinische Beweismittel hinsichtlich des Gesundheitszustandes ihrer Tochter sowie der mit XXXX datierte Betreuungsvertrag betreffend die Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich des vorhin genannten Kindergartens in Vorlage gebracht.). Aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung habe ihre Tochter zudem wöchentlich einen Termin bei einer Spezialistin (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin eine mit XXXX datierte Bestätigung hinsichtlich einer von der Zweitbeschwerdeführerin wöchentlich in Anspruch genommenen Betreuung im Rahmen der Frühförderung in Vorlage gebracht.). Zu diesen Terminen würde sie immer ihre Tochter begleiten, da ihr Ehemann berufstätig sei und arbeiten müsse. Auch ihr Sohn werde im XXXX den Kindergarten besuchen (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin die mit XXXX datierte Anmeldebestätigung hinsichtlich des Kindergartenbesuches des Drittbeschwerdeführers ab XXXX in Vorlage gebracht.). Zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie bestrebt sei einen Beruf zu erlernen, da sie ihr eigenes Geld verdienen und ein selbstständiges Leben führen wolle. Ihr Kindheitswunsch sei immer gewesen als Krankenschwester zu arbeiten. Dies sei ihr in Afghanistan jedoch nicht möglich gewesen, da es zum einen die Sicherheitslage nicht zulasse und zum anderen auch die Eltern ihren Töchtern eine solche Ausbildung nicht erlauben würden. Hier in Österreich schätze sie vor allem ihre Freiheit. Hier könne sie zu jeder Tageszeit das Haus verlassen, sich kleiden wie sie wolle, geschminkt das Haus verlassen sowie Sport betreiben. Zudem trage sie kein Kopftuch mehr. Dies alles wäre in Afghanistan nicht möglich gewesen. Wäre sie in Afghanistan so wie sie sich heute in Österreich kleide auf die Straße gegangen und von jemanden gesehen worden, hätte man sie getötet. In ihrer Freizeit habe sie in der Vergangenheit regelmäßig ein Sprachcafe besucht. Wegen der Coronakrise habe dieses jedoch schließen müssen. Da sie im Moment schwanger sei, könne sie nur spazieren gehen. Vor ihrer Schwangerschaft habe sie sich regelmäßig mit vier anderen Frauen zum Laufen getroffen. Auf richterliche Befragung gab die Beschwerdeführerin an, dass sie dabei normales Sportgewand getragen habe. Weiters gehe sie gerne mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in eine Schwimmhalle schwimmen. Dabei trage sie einen Bikini so wie die anderen Frauen auch. Darüber hinaus unternehme sie gemeinsam mit ihrer Familie an den Wochenenden regelmäßig Ausflüge. Weiters habe sie in Österreich bereits eine Freundin gefunden. Diese heiße XXXX und wohne ebenfalls in XXXX . Befragt zu ihrer Ehe gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich gleichberechtigt neben ihrem Ehemann sehe. So seien sie gemeinsam für die Erziehung ihrer Kinder zuständig und sie müsse ihn auch nicht fragen, wenn sie das Haus verlassen wolle. Sie gehe alleine einkaufen und nehme auch Behördenwege oder Arztbesuche ohne Begleitung ihres Ehemannes wahr. Befragt zur Erziehung ihrer Kinder gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass es ihr wichtig sei, dass ihre Kinder später einmal selbstständig und unabhängig seien. Auch was die spätere Partnerwahl betreffe, würde sie ihren Kindern nichts vorschreiben. Sie würden auch in dieser Hinsicht ihre eigenen Entscheidungen treffen können.

Nach Erörterung jener Länderberichte, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden, gaben die Erstbeschwerdeführerin und ihre bevollmächtigte Vertreterin an, dass auf eine Stellungnahme dazu verzichtet werde.

Darüber hinaus wurde von der bevollmächtigten Vertreterin der Beschwerdeführer ein Konvolut an integrationsbescheinigenden Unterlagen (darunter u.a. eine Bestätigung hinsichtlich des Besuches eines Deutschkurses durch die Erstbeschwerdeführerin sowie diverse Empfehlungsschreiben und sonstige Unterlagen hinsichtlich ihrer bereits erfolgten Integration in Österreich) in Vorlage gebracht.

2.3.    Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannten Namen und sind am XXXX (Erstbeschwerdeführerin), am XXXX (Zweitbeschwerdeführerin) sowie am XXXX (Drittbeschwerdeführer) geboren. Die Erstbeschwerdeführerin ist seit dem Jahr XXXX mit XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, verheiratet. Die Erstbeschwerdeführerin und ihr Ehemann haben während eines gemeinsamen mehrmonatigen Aufenthaltes im Iran geheiratet. Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer sind deren gemeinsame Kinder. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin ist bereits vor ihr in das österreichische Bundesgebiet eingereist und wurde ihm bereits im Jahr XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dieses Verfahren ist rechtskräftig abgeschlossen.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams an. Die Erstbeschwerdeführerin ist in der Provinz XXXX geboren und hat dort, unterbrochen durch einen mehrmonatigen Aufenthalt im Iran im Jahr XXXX , bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan gelebt. Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind in Österreich geboren.

Im Jahr XXXX hat die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem volljährigen Bruder Afghanistan verlassen und ist schlepperunterstützt nach Österreich gereist und hat hier am XXXX den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Der Bruder der Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und ist dessen Verfahren ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht unter der Geschäftszahl XXXX anhängig.

Die Anträge auf internationalen Schutz für die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin und den minderjährigen Drittbeschwerdeführer sind am XXXX bzw. am XXXX durch die Erstbeschwerdeführerin gestellt worden.

Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin sind bereits verstorben. Die Ehefrau und die Kinder ihres in Österreich aufhältigen Bruders leben nach wie vor in Afghanistan. Mit diesen hat die Erstbeschwerdeführerin unregelmäßigen Kontakt über das Internet. Wo sich ihr Onkel mütterlicherseits aufhält bzw. ob dieser noch am Leben ist, kann die Erstbeschwerdeführerin mangels Kontakt zu diesem nicht angeben. Über sonstige Verwandte in Afghanistan verfügt die Beschwerdeführerin ihren Angaben nach nicht.

Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Weiters verfügt die Erstbeschwerdeführerin über Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Afghanistan ca. vier bis fünf Jahre die Schule besucht. Danach war sie zuhause und hat Teppiche geknüpft. Über eine Berufsausbildung verfügt sie nicht.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und schminkt sich. Auf das Tragen des Kopftuches wird verzichtet. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich bereits einen Deutschkurs auf A1- Niveau besucht und ist bestrebt ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache weiter zu verbessern. Sie beabsichtigt einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Die Erstbeschwerdeführerin bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. Sie geht alleine einkaufen bzw. absolviert falls erforderlich Arztbesuche und Behördenwege selbstständig. Die Erstbeschwerdeführerin teilt sich die Erziehung der Kinder mit ihrem Ehemann. Die Erstbeschwerdeführerin will ihre Kinder frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass ihre Kinder in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. In dieser Hinsicht werden ihre Kinder aktiv von ihr unterstützt. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet unter einer kombiniert umschriebenen Entwicklungsstörung. Weiters wurde bei ihr der Verdacht auf eine Autismusspektrumstörung diagnostiziert. Aufgrund dieser Krankheitsbilder benötigt die Zweitbeschwerdeführerin eine besondere Förderung und wird sie in dieser Hinsicht durch die Erstbeschwerdeführerin im besonderen Ausmaß unterstützt. So begleitet die Erstbeschwerdeführerin ihre Tochter regelmäßig zu den einmal in der Woche stattfindenden Betreuungsterminen im Rahmen der Frühförderung und war auch sehr darum bemüht, für sie einen passenden Kindergartenplatz zu finden, wo auf das Krankheitsbild ihrer Tochter Rücksicht genommen wird. Vor Ausbruch der gegenwärtigen COVID-19 Pandemie und den damit zusammenhängenden Restriktionen hat die Beschwerdeführerin regelmäßig ein Sprachcafe besucht und dort auch ihre nunmehrige Freundin, eine österreichische Staatsbürgerin, kennengelernt. Zum Entscheidungszeitpunkt ist die Erstbeschwerdeführerin mit ihrem dritten Kind schwanger. Vor ihrer Schwangerschaft hat sich die Erstbeschwerdeführerin regelmäßig mit vier anderen Frauen zum Laufen getroffen. Weiters besucht sie in Österreich u.a. regelmäßig mit ihren Kindern und ihrem Ehemann ein Hallenbad und unternimmt an den Wochenenden Ausflüge mit ihrer Familie. Die von der Erstbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann sie keinen effektiven Schutz erwarten. Ebenso besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Aufgrund der in der Ladung angeführten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung mit der Erstbeschwerdeführerin und ihrer bevollmächtigten Vertreterin erörterten aktuellen Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.3.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, in der Fassung vom 29.06.2020:

Politische Lage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Politische Parteien:

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

[…]

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 7.5.2020) [Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen - (NPR 6.5.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle - ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs):

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban:

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind (Casolino 2011). In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten (USDOS 29.5.2018). Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht (REU 24.11.2018; vgl. USDOS 29.5.2018).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (APE 3.2017). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (APE 3.2017; vgl. UNAMA 22.2.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden (APE 3.2017).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht (USIP 3.2015).

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen (AA 2.9.2019). Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Was oft zu einer Diskriminierung von Frauen führte. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren (USDOS 11.3.2020). Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen (CR 11.2018). Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019, FH 4.2.2019). Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent (AA 2.9.2019).

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Obwohl die Verfassung das Recht auf öffentliche Prozesse vorsieht, finden nur in einigen Provinzen solche öffentlichen Prozesse statt. Auch verlangt das Gesetz von Richter/innen eine Vorankündigung von fünf Tagen vor einer Verhandlung. Nicht alle Richter/innen folgen diesen Vorgaben und viele Bürger beschwerten sich über Gerichtsverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten rechtzeitig über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt - sofern es die Ressourcen erlauben - sich auf öffentliche Kosten von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert (USDOS 11.3.2019).

Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten; weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden (USDOS 11.3.2020). Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land (CR 11.8.2018).

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzen (FH 4.2.2019). Ein Mangel an Richterinnen - insbesondere außerhalb von Kabul - schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019). Nichtsdestotrotz sind in Afghanistan 257 Richterinnen tätig (13% - insgesamt 2.029 Richterinnen und Richter) (USODS 13.3.2020). Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan (FMF 18.4.2019).

Sowohl Angeklagte, als auch deren Rechtsanwälte haben das Recht, vor den Verhandlungen Beweise und Dokumente im Zusammenhang mit den Verfahren zu prüfen. Nichtsdestotrotz sind Gerichtsdokumente trotz des Ersuchens der Verteidiger vor der Verhandlung oft nicht zur Prüfung verfügbar (USDOS 11.3.2020). Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen (FH 4.2.2019). Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive (USDOS 11.3.2020). Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürlichen Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden (FH 4.2.2019).

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (AA 2.9.2019). Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes (FH 4.2.2019; vgl. AA 2.9.2019). Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen (AJO 10.10.2017). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (ATL 9.3.2017; vgl. TN 22.4.2019). Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken (TN 22.4.2019). Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates (USDOD 6.2019).

Alternative Rechtsprechungssysteme:

Das formelle Justizsystem ist in urbanen Zentren stärker ausgeprägt, wo es näher an der Zentralregierung ist, jedoch schwächer in ländlichen Gebieten (USDOS 11.3.2020). In den Großstädten entschieden die Gerichte in Strafverfahren auch weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Zivilrechtsfälle werden oft durch informelle Systeme wie beispielsweise staatliche Mediation über das Huquq-Büro des Justizministeriums oder durch Verhandlungen zwischen den Streitparteien beigelegt: diese Mediationen werden von Gerichtspersonal oder privaten Rechtsanwälten geführt. Nachdem das formelle Rechtssystem in ländlichen Gebieten oft nicht vorhanden ist (USDOS 13.3.2019), nutzen Bewohner des ländlichen Raumes lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Shuras (beratschlagende Versammlungen, normalerweise von Männern, die von der Gemeinde nominiert werden) und Jirgas häufiger als die städtische Bevölkerung (AF 4.12.2018; vgl. USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.2.2019). Diese Streitschlichtungsmechanismen werden sowohl bei kriminellen Vergehen, als auch bei zivilen Disputen, einberufen (USDOS 11.3.2020). In diesen Shuras oder Jirgas werden eine Mischung aus Varianten des staatlichen Rechts und der Scharia (islamisches Recht) angewandt (FH 4.2.2019). Es kommt insbesondere in paschtunischen Siedlungsräumen weiter auch zu traditionellen Formen privater Strafjustiz, bis hin zu Blutfehden (AA 2.9.2019).

Informelle Justizmechanismen werden von vielen Personen auch wegen ihrer schnelleren und meist weniger kostenintensiven Tätigkeit bevorzugt (AF 4.12.2018). Der Großteil der Bevölkerung hat unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe kein Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und die Justizorgane. Sie werden als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen, weshalb ihre Hilfe in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird (AA 2.9.2019; vgl. AF 4.12.2018). In entlegenen Gebieten Afghanistans macht es die zunehmende Kontrolle der Taliban der afghanischen Regierung beinahe unmöglich, Gerichte in Distrikten zu betreiben, in welchen die Taliban stark präsent sind (DW 15.3.2017).

Die Taliban haben ihr eigenes Rechtswesen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle eingerichtet (FH 4.2.2019). Die Parallelregierung der Taliban ist bei einigen Afghanen beliebt. So berichteten Bewohner in Logar über das Geric

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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