TE Vwgh Beschluss 2020/9/7 Ra 2020/08/0132

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.09.2020
beobachten
merken

Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §10 Abs1
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §10 Abs3
AlVG 1977 §7 Abs1 Z1
AlVG 1977 §7 Abs2
AlVG 1977 §9
B-VG Art133 Abs4
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Strohmayer und die Hofrätin Dr. Julcher sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice Lilienfeld in 3180 Lilienfeld, Liese Prokop Straße 13, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2020, Zl. W164 2182733-1/22E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: P S in T), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) sprach mit Bescheid vom 23. November 2017 gemäß § 38 iVm § 10 AlVG aus, dass dem Mitbeteiligten für die Zeit vom 16. November 2017 bis 27. Dezember 2017 keine Notstandshilfe gebühre. Der Mitbeteiligte habe sich um eine zumutbare Stelle bei der A. GmbH nicht beworben und somit eine Arbeitsaufnahme vereitelt.

2        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde zunächst mit Beschwerdevorentscheidung vom 21. Dezember 2017 abgewiesen. Auf Grund eines Vorlageantrags des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde mit Erkenntnis vom 18. November 2019 statt und behob den bei ihm bekämpften Bescheid ersatzlos.

3        Der Verwaltungsgerichtshof gab der dagegen erhobenen Amtsrevision mit Erkenntnis VwGH 14. Mai 2020, Ra 2020/08/0008, statt und behob das bekämpfte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.

4        Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass das Bundesverwaltungsgericht auf Basis seiner Feststellungen nicht den Vorsatz des Mitbeteiligten als Voraussetzung für den Anspruchsverlust nach § 10 Abs. 1 AlVG verneinen hätte dürfen. Aus den vom Bundesverwaltungsgericht ins Treffen geführten Gründen wäre, so der Verwaltungsgerichtshof, nur eine Nachsicht nach § 10 Abs. 3 AlVG in Betracht gekommen. Ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall im Sinn dieser Bestimmung könne u.a. dann vorliegen, wenn dem Arbeitslosen sein - wenn auch in Bezug auf die Weigerung bzw. Vereitelung vorsätzliches - Verhalten ausnahmsweise aus besonderen Gründen im Einzelfall nicht vorgeworfen werden könne.

5        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten neuerlich statt. In Abänderung des Bescheides des AMS sprach es aus, dass der Mitbeteiligte im Zeitraum 16. November 2017 bis 27. Dezember 2017 gemäß § 38 iVm § 10 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe, dass ihm dieser Anspruchsverlust gleichzeitig aber gemäß § 10 Abs. 3 AlVG zur Gänze nachgesehen werde.

6        Das Bundesverwaltungsgericht ging im Wesentlichen von den gleichen Feststellungen aus wie in seinem Vorerkenntnis vom 18. November 2019: Der über fünfzigjährige Mitbeteiligte beziehe seit 2011 Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Am 7. November 2017 habe er von seinem Betreuer eine Betreuungsvereinbarung und vier Stellenangebote ausgehändigt bekommen, darunter auch das verfahrensgegenständliche Stellenangebot. Dem Mitbeteiligten sei auf Grund der Betreuungsvereinbarung bekannt gewesen, dass er binnen acht Tagen eine Rückmeldung an das AMS über seine Bewerbungen zu geben habe. Der Mitbeteiligte habe nach einem Konkurs mehrere finanziell schwierige Jahre hinter sich, in denen überdies seine Frau schwer erkrankt und in der Folge in ansteigendem Ausmaß auf die Betreuung des Mitbeteiligten angewiesen gewesen sei (2017 sei sie in Pflegestufe 2 gewesen). Er habe die Vermittlungsvorschläge mitgenommen, dann aber verlegt oder verloren und darauf vergessen. Eine Mappe für seine Vermittlungsvorschläge habe er nicht geführt. Seine privaten Belastungen habe er damals nicht gegenüber seinem Betreuer erwähnt. Am 16. November 2017 habe sein Betreuer mit einer der potentiellen DienstgeberInnen (der A. GmbH) Kontakt aufgenommen und erfahren, dass sich der Mitbeteiligte nicht beworben habe. Es handle sich um den ersten Vorwurf eines Verstoßes gemäß § 10 AlVG. Während der beiden nachfolgenden Jahre habe sich anlässlich eines vom Mitbeteiligten absolvierten Probearbeitsverhältnisses gezeigt, dass er, um regelmäßig einer Arbeit nachgehen zu können, Unterstützung bei der Betreuung seiner Frau - die mittlerweile Pflegegeld der Stufe 3 beziehe - benötige.

7        Im Abschnitt „Beweiswürdigung“ führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Mitbeteiligte sich zur Zeit der verfahrensgegenständlichen Zuweisung bereits einige Zeit in einer für ihn belastenden privaten Situation befunden und sich damit über einen längeren Zeitraum latent überfordert habe. Dafür spreche etwa, dass er die gesundheitlich schwierige Situation seiner Frau und die ihn aus diesem Grund treffenden täglichen Belastungen gegenüber dem AMS bis ins Jahr 2018 nicht erwähnt habe. Einen Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes für seine Frau habe er unmittelbar nach einer Beratung durch die (mit dem AMS kooperierende) P. GmbH gestellt und sofort bewilligt bekommen. Diese letztgenannte Beratung habe das AMS veranlasst, nachdem der Mitbeteiligte nach einer erfolgreichen Probearbeit für ein in Aussicht gestelltes Beschäftigungsangebot vor der Herausforderung zurückgeschreckt sei, eine geeignete Betreuung für seine Frau zu finden und zu engagieren. Die genannten Umstände wiesen in ihrer Gesamtheit darauf hin, dass der Mitbeteiligte kein ausgeprägtes Geschick darin gehabt habe, aus eigenem Antrieb aktiv die Hilfe und Unterstützung anzustreben, die er zur Bewältigung seiner belastenden privaten Situation gebraucht hätte. Seine unbedenkliche Aussage, dass sich im Jahr 2019 auch bei ihm selbst schwerwiegende gesundheitliche Probleme gezeigt hätten, unterstreiche diese Annahme. Aus diesen Feststellungen sei insgesamt abzuleiten, dass sich der Mitbeteiligte auch in der verfahrensgegenständlichen Zeit - November 2017 - bereits in einer für ihn sehr belastenden Ausnahmesituation befunden habe.

8        Im Zuge seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Mitbeteiligte einen Umgang mit Vermittlungsvorschlägen gepflegt habe, der deren nachträgliches Verlorengehen begünstigt habe. Der Mitbeteiligte führe für seine Vermittlungsvorschläge keine Mappe, sondern gebe sie nach dem Beratungsgespräch ins Auto, um sie dann zu Hause „kurz anzuschauen“. Ein solches Verhalten einer langjährig arbeitslosen und daher jedenfalls mit der Bedeutung von Vermittlungsvorschlägen vertrauten Person könne nicht als bloß fahrlässig angesehen werden, werde doch damit - solange der arbeitslosen Person die Fähigkeit zur Selbstorganisation nicht überhaupt abzusprechen sei - offenkundig in Kauf genommen, dass Vermittlungsvorschläge verloren gingen oder vergessen würden und in der Folge kein Beschäftigungsverhältnis zustande komme. Im vorliegenden Fall sei daher Vorsatz gegeben.

9        Allerdings könne dem Mitbeteiligten sein bedingt vorsätzliches Verhalten ausnahmsweise im Einzelfall nicht vorgeworfen werden, weil er sich in einer für ihn sehr belastenden und ihn latent überfordernden Ausnahmesituation befunden habe. Es liege ein Nachsichtsgrund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG vor und erscheine die gänzliche Nachsicht angemessen.

10       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

11       Nach dieser Verfassungsbestimmung ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

12       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

13       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

14       Die vorliegenden Amtsrevision macht unter diesem Gesichtspunkt geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einen Nachsichtsgrund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG angenommen habe. Weder die finanzielle Situation des Mitbeteiligten noch die Krankheit seiner Frau seien zeitraumbezogene Ausnahmesituationen, sondern sie stellten auf Dauer vorliegende Umstände dar, die als solche nicht als berücksichtigungswürdige Nachsichtsgründe für ein Unterlassen einer Bewerbung im November 2017 herangezogen werden könnten. Erst recht sei nicht nachvollziehbar, dass zwei Jahre nach der Vereitelung eingetretene, weder näher definierte noch nachgewiesene gesundheitliche Beeinträchtigungen des Mitbeteiligten (er habe in der mündlichen Verhandlung einen Herzinfarkt erwähnt) als Nachsichtsgrund herangezogen worden seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe keinen Sachverhalt festgestellt, der im Sinn der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Nachsicht nach sich ziehen würde. Es habe auch unterlassen, auszuführen, aus welchen Gründen der Ausschluss vom Bezug der Leistung den Mitbeteiligten unverhältnismäßig härter treffen würde als dies sonst ganz allgemein der Fall sei. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre keine Nachsicht zu erteilen gewesen.

15       Ein berücksichtigungswürdiger Fall im Sinne des § 10 Abs. 3 AlVG kann (nur) dann vorliegen, wenn der Arbeitslose entweder selbst ein Verhalten gesetzt hat, welches den potenziellen Schaden, der durch seine Nichteinstellung entstanden ist, ganz oder teilweise wieder beseitigt (also insbesondere durch alsbaldige tatsächliche Aufnahme einer anderen Beschäftigung), oder wenn ihm sein Verhalten ausnahmsweise aus besonderen (jedenfalls nicht auf Dauer vorliegenden und auch die Verfügbarkeit oder die Arbeitsfähigkeit nicht ausschließenden) Gründen im Einzelfall nicht vorgeworfen werden kann (vgl. das schon im Vorerkenntnis zitierte Erkenntnis VwGH 20.10.2010, 2007/08/0231, mwN).

16       Dabei ist eine einzelfallbezogene Beurteilung vorzunehmen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung könnte im Zusammenhang damit nur dann aufgeworfen werden, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre oder zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis führen würde (vgl. etwa VwGH 12.4.2018, Ra 2018/04/0082; 19.11.2019, Ra 2018/09/0081).

17       Im vorliegenden Fall kann es aber nicht als unvertretbar angesehen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht - nach Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung - eine mindere subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Mitbeteiligten angenommen und darin einen Nachsichtsgrund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG gesehen hat. Zwar ist es richtig, dass dauerhaft vorliegende Umstände grundsätzlich keinen solchen Nachsichtsgrund darstellen können, sondern in der Systematik des AlVG schon zuvor bei der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zumutbarkeit von Beschäftigungen zu berücksichtigen wären. Das schließt allerdings nicht aus, bei der Beurteilung eines konkreten Verhaltens die Gesamtsituation des Betroffenen miteinzubeziehen und dabei auch eine längerfristige Perspektive einzunehmen. In diesem Sinn durfte das Bundesverwaltungsgericht die - möglicherweise für seine spätere eigene Erkrankung ursächliche - Belastung des Mitbeteiligten durch die Erkrankung seiner Frau in Verbindung mit einer anscheinend bereits zu geringen Pflegegeldeinstufung ebenso berücksichtigen wie den Umstand, dass der Mitbeteiligte einerseits noch nie eine Vereitelungshandlung gesetzt hatte und andererseits letztlich nach entsprechender Beratung die nötigen Schritte unternommen hat, um - insbesondere durch einen Antrag auf höheres Pflegegeld - potentielle Hindernisse für eine erfolgreiche Arbeitssuche zu beseitigen.

18       Während es - entsprechend der Zielsetzung des gesamten Arbeitslosenversicherungsrechts, den arbeitslos gewordenen Versicherten möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten (vgl. etwa VwGH 1.6.2017, Ra 2016/08/0120) - erforderlich ist, beim Tatbestand der Vereitelung nach § 10 Abs. 1 AlVG einen strengen und allgemein gültigen Maßstab anzulegen, ermöglicht § 10 Abs. 3 AlVG zur Vermeidung unnötiger Härten eine Bedachtnahme auf die persönliche Situation der Betroffenen. Dabei kann auch der Frage Bedeutung zukommen, ob im Einzelfall tatsächlich ein (voller) Anspruchsverlust notwendig ist, um der arbeitslosen Person die Bedeutung ihrer Pflichten nach dem AlVG vor Augen zu führen (vgl. zum „disziplinierenden Zweck“ des Anspruchsverlusts nach § 10 AlVG VwGH 11.4.2018, Ro 2017/08/0033, Rn. 25). Auch unter diesem zuletzt genannten Gesichtspunkt war die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts im vorliegenden Fall nicht unvertretbar.

19       Insgesamt hat das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG ausreichend begründet. Einer darüber hinausgehenden gesonderten Darlegung, aus welchen Gründen der Ausschluss vom Bezug der Leistung den Mitbeteiligten unverhältnismäßig härter treffen würde als dies sonst ganz allgemein der Fall ist, bedurfte es entgegen der Ansicht der Amtsrevision nicht.

20       Dass das Bundesverwaltungsgericht aber, nachdem es die Voraussetzungen für eine Nachsicht nach § 10 Abs. 3 AlVG dem Grunde nach bejaht hatte, sein Ermessen in der Frage einer gänzlichen oder nur teilweisen Nachsicht missbraucht hätte (vgl. dazu VwGH 24.2.2016 Ra 2016/08/0001, Rn. 11), wird in der Amtsrevision nicht geltend gemacht und ist auch - wenngleich die Begründung in diesem Punkt ausführlicher hätte sein können - nicht ersichtlich.

21       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 7. September 2020

Schlagworte

Ermessen VwRallg8

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020080132.L00

Im RIS seit

20.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten