TE Vfgh Erkenntnis 1995/12/13 B325/95, B326/95

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Veröffentlicht am 13.12.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung bereits abgelaufener Sichtvermerke aufgrund der Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus; kein Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller; verfassungskonforme Auslegung hinsichtlich der Zulässigkeit einer Antragstellung vom Inland aus in bestimmten Fällen geboten

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihrer Rechtsvertreter die mit je 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Beschwerdeführer zu B325/95, M S, ein Staatsangehöriger des ehemaligen Jugoslawien, lebt - den unwidersprochen gebliebenen Beschwerdeausführungen zufolge - seit 1972 in Österreich. Die Beschwerdeführerin zu B326/95, G S, ist die ebenfalls seit 1972 im Bundesgebiet lebende Gattin des genannten Beschwerdeführers. Zuletzt wurden den Beschwerdeführern - den Verwaltungsakten zufolge - von der Bundespolizeidirektion Wien (am 1. bzw. 6. April 1993 ausgestellte) bis zum 30. Jänner 1994 befristete Sichtvermerke erteilt. Am 16. März 1994 brachten die Beschwerdeführer Anträge auf "Verlängerung" ihrer (bisherigen) Aufenthaltsbewilligungen ein.

Mit (erstinstanzlichen) Bescheiden jeweils vom 31. März 1994 wies der Landeshauptmann von Wien diese Anträge gemäß §6 Abs2 (erster Satz) des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992 idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, iVm §13 Abs1 AufG im wesentlichen mit den (gleichlautenden) Begründungen ab, es komme auf Grund der verspäteten Antragstellungen nicht die Übergangsbestimmung des §13 Abs1 AufG (Möglichkeit der Antragstellung vom Inland aus) zum Tragen, sondern es seien (Erst-)Anträge vor der Einreise vom Ausland aus zu stellen.

Die gegen diese Bescheide eingebrachten Berufungen wies der Bundesminister für Inneres mit den im Spruch zitierten, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden vom 21. Dezember 1994 unter Berufung auf §6 Abs3 (zweiter Halbsatz des ersten Satzes) AufG (idF vor der Novelle BGBl. 351/1995) im wesentlichen mit den (gleichlautenden) Begründungen ab, daß Verlängerungsanträge spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der (bisherigen) Aufenthaltsbewilligung zu stellen seien; bei Nichteinhaltung dieser Frist sei die Erteilung der Bewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführer zu ihren persönlichen Verhältnissen nicht weiter einzugehen.

1.2. Gegen diese Berufungsbescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerden, mit denen insbesondere (zu B326/95 der Sache nach) die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 Abs1 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide beantragt wird.

1.3. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, sah von der Erstattung von Gegenschriften ab und begehrte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die gemäß §187 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VerfGG 1953 zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - zulässigen - Beschwerden erwogen:

2.1. Die bekämpften Bescheide verletzen die Beschwerdeführer in ihrem gemäß Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

2.1.1.1. Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheids eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmöglich anwendete; dies trifft nur zu, wenn die Behörde einen Fehler beging, der so schwer wiegt, daß er mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (s. zB VfSlg. 11638/

1988).

2.1.1.2. Wie der Verfassungsgerichtshof weiters schon im Erkenntnis vom 16. Juni 1995, B 1611-1614/94, - auf dessen ausführliche Begründung verwiesen wird - darlegte, ist es im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des durch §6 Abs2 AufG geschaffenen Regelungssystems geboten, Fälle, in denen seit langer Zeit in Österreich befindliche Fremde die Antragsfrist des §13 Abs1 AufG nur relativ kurzfristig versäumt haben, unter den zweiten Satz des §6 Abs2 AufG zu subsumieren, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auch vom Inland aus gestellt werden können.

2.1.2.1. Die Beschwerdeführer leben seit 1972 rechtmäßig in Österreich; ihre beiden gemeinsamen Kinder, von denen eines bereits in Österreich geboren wurde, halten sich ebenfalls im Bundesgebiet auf. Die den Beschwerdeführern zuletzt erteilten Sichtvermerke waren - den Verwaltungsakten zufolge - bis zum 30. Jänner 1994 gültig; im Zeitpunkt des Inkrafttretens des AufG (1. Juli 1993) hatten sie sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten (vgl. §13 Abs1 AufG). Die belangte Behörde wies auf Grund dieser Sachlage die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen - ungeachtet der Berufung auf "§6 Abs3" AufG - der Sache nach gemäß §6 Abs2 (erster Satz) iVm §13 Abs1 AufG ab (vgl. die Begründungen der erstinstanzlichen Bescheide vom 31. März 1994).

2.1.2.2. Die belangte Behörde hat dadurch, daß sie in den Fällen der schon seit 22 Jahren in Österreich lebenden Beschwerdeführer, die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung innerhalb relativ kurzer Zeit nach Ablauf der Geltungsdauer der letzten Sichtvermerke gestellt hatten, zwar der Sache nach die Bestimmung des §6 Abs2 erster Satz AufG anwendete, aber die Aufenthaltsbewilligung, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller näher einzugehen, wegen verspäteter Antragstellung abwies, der Vorschrift des §6 Abs2 AufG einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.

2.2. Die angefochtenen Bescheide waren allein schon aus diesem Grund als verfassungswidrig aufzuheben.

2.3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von je 3.000 S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B325.1995

Dokumentnummer

JFT_10048787_95B00325_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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