TE Vwgh Erkenntnis 1971/11/24 1582/71

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Veröffentlicht am 24.11.1971
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Sozialversicherung - ASVG - AlVG
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §500 Abs1
ASVG §502 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Donner und die Hofräte des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Härtel, Dr. Raschauer, Dr. Zach und DDr. Heller als Richter, im Beisein des Schriftführers Landesregierungsoberkommissär Dr. Arnberger, über die Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter in Wien, vertreten durch Dr. Kurt Scheffenegger, Rechtsanwalt in Wien I, Grillparzerstraße 5, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 21. Mai 1971, Zl. MA 14-R 45/69 (mitbeteiligte Partei: T R in New York, vertreten durch Dr. Kurt Regner, Rechtsanwalt in Wien I, Führichgasse 6), betreffend Begünstigung gemäß § 502 Abs. 4 ASVG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird insoweit, als eine Begünstigung für die Zeit vom 9. April 1947 bis 31. März 1959 ausgesprochen wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

In einem Schreiben vom 8. November 1967 teilte die mitbeteiligte Partei der beschwerdeführenden Partei mit, sie sei seit Dezember 1920 als Kürschnergehilfe in Wien beschäftigt gewesen. Aus rassischen Gründen habe sie 1938 ihren Dienstposten verloren und habe emigrieren müssen. Aus diesem Grunde stelle sie gemäß §§ 500 ff ASVG den Antrag auf begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten.

Aus einer von der beschwerdeführenden Partei eingeholten Meldebestätigung der Bundespolizeidirektion Wien geht hervor, daß die mitbeteiligte Partei am 3. Oktober 1938 nach Lettland abgemeldet wurde. Nach der Rückkehr aus Rußland wurde die mitbeteiligte Partei am 9. April 1947 wieder in Wien angemeldet und am 17. März 1948 in die Schweiz abgemeldet, von dort am 18. März 1949 zurückgekehrt, wieder in Wien angemeldet und am 1. August 1950 in die USA abgemeldet. In einer vom Landeshauptmann von Wien gemäß § 506 Abs. 3 ASVG ausgestellten Bescheinigung wird bestätigt, daß die mitbeteiligte Partei in der Zeit von März 1938 bis Mai 1941 arbeitslos gewesen und in der Zeit von Juni 1941 bis Mai 1945 in Karaganda (Sibirien) angehalten worden sei.

Mit Schreiben vom 18. April 1969 teilte die beschwerdeführende Partei der mitbeteiligten Partei formlos mit, daß unter Berücksichtigung der Bestimmungen der 19. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz die Zeit vom 13. März 1938 bis 8. April 1947 als Versicherungszeiten der österreichischen Pensionsversicherung anerkannt werde. Mit Bescheid der beschwerdeführenden Partei vom 3. Juli 1969 wurde ausgesprochen, daß die Zeit vom 13. März 1938 bis 3. Oktober 1940 (Arbeitslosigkeit) und die Zeit vom 4. Oktober 1940 bis 8. April 1947 (Emigration) als Beitragszeiten berücksichtigt werden.

Gegen diesen Bescheid erhob die mitbeteiligte Partei einen Einspruch, in dem sie dagegen Stellung nahm, daß ihr die beschwerdeführende Partei nur die Zeit vom 13. März 1938 bis 8. April 1947 als Versicherungszeit anerkannt habe. Zur Begründung führte sie aus, sie habe sich bis 8. April 1947 in der Emigration bzw. als Internierte in der UdSSR aufgehalten. Sie habe unter keinen Umständen nach Österreich zurückkehren wollen, da sie unter der NS-Herrschaft ihre ganze Familie verloren habe. Sie habe vielmehr von vornherein die Absicht gehabt, in die Vereinigten Staaten von Amerika oder in ein anderes westliches Land auszuwandern. Diese Möglichkeit habe jedoch nicht direkt aus der Sowjetunion bestanden, weil die dortigen Behörden ihr nur die Möglichkeit eingeräumt hätten, nach Österreich repatriiert zu werden. Die mitbeteiligte Partei sei vorerst in einem Obdachlosenheim in Wien XX untergebracht worden und habe sich sofort um die Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika bemüht. Im Hinblick auf die geteilte Besetzung Österreichs durch die Alliierten sei ihr Emigrationsansuchen in den Vereinigten Staaten nicht behandelt worden, weil die mitbeteiligte Partei als Anschrift das in der damaligen russischen Zone gelegene Obdachlosenheim angegeben habe. Die mitbeteiligte Partei habe deshalb ein Untermietzimmer in der damaligen amerikanischen Zone aufnehmen müssen, um eine entsprechende Meldeanschrift für die amerikanische Einwanderungsbehörde zu haben. Da sich die Einwanderung in die Vereinigten Staaten nicht binnen weniger Wochen erledigen ließ, sei sie in die Schweiz übersiedelt und sei dort bis zu ihrer endgültigen Auswanderung in die Vereinigten Staaten bei verschiedenen Kürschnern beschäftigt gewesen. Auch aus der Schweiz sei die Emigration in die Vereinigten Staaten nicht möglich gewesen, weshalb die mitbeteiligte Partei neuerlich nach Österreich zurückkehren habe müssen. Sie sei als Flüchtling bei der IRO zur Emigration in die Vereinigten Staaten gemeldet gewesen. Aus einem Durchgangslager in Salzburg sei sie mit einem Transport nach den USA emigriert.

Die belangte Behörde vernahm am 7. Oktober 1969 einen Cousin der mitbeteiligten Partei, den nunmehrigen Rechtsvertreter der mitbeteiligten Partei, und holte eine schriftliche Äußerung des in der Schweiz lebenden Bruders der mitbeteiligten Partei ein.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gab der Landeshauptmann von Wien dem Einspruch der mitbeteiligten Partei Folge und änderte den Bescheid der beschwerdeführenden Partei gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 dahin gehend, es werde gemäß §§ 413 und 414 in Verbindung mit § 355 ASVG festgestellt, daß für die mitbeteiligte Partei in der Pensionsversicherung der Arbeiter

a) auf Grund von § 502 Abs. 1 ASVG die Zeit der Arbeitslosigkeit vom 13. März 1938 bis 2. Oktober 1940 als Pflichtbeitragszeit mit der höchstzulässigen Beitragsgrundlage gelte und

b) auf Grund von § 502 Abs. 4 ASVG die Zeit vom 3. Oktober 1940 bis 31. März 1959 beitragsfrei zu begünstigen sei.

Hiezu führte die belangte Behörde in rechtlicher Hinsicht aus, strittig sei im Gegenstand der Zeitpunkt, an dem die mitbeteiligte Partei ihren ordentlichen Wohnsitz in Österreich wieder aufgenommen habe. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 5. Dezember 1962, Zl. 525/61, ausgeführt habe, sei eine Begünstigung gemäß § 502 Abs. 4 ASVG im Rahmen des mit 31. März 1959 begrenzten Zeitraumes für Zeiten möglich, während derer der durch die Auswanderung des Begünstigungswerbers im Sinne der Vorschriften des § 502 Abs. 4 ASVG hervorgerufene Zustand, nämlich die Verlegung des ständigen Wohnsitzes aus Österreich in das Ausland und der Aufenthalt des Begünstigungswerbers außerhalb Österreichs, andauere und der Begünstigungswerber nicht tatsächlich seinen Wohnsitz wieder in Österreich aufgenommen habe. Nach § 66 der Jurisdiktionsnorm werde der Wohnsitz einer Person an dem Ort begründet, an welchem sie sich nach der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen habe, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Es sei amtsbekannt, daß Personen, die von Österreich in die Sowjetunion geflüchtet und dort interniert worden seien, von der UdSSR grundsätzlich in ihren Heimatort zurückverbracht worden seien. Es habe für sie keine Möglichkeit der Weiterwanderung aus der UdSSR in ein anderes Land bestanden. Die Verbringung einer Person aus einem Land nach Österreich stelle keine freiwillige Rückkehr in die Heimat dar. Das Verbringen der mitbeteiligten Partei und ihr Aufenthalt in Österreich vom 9. April 1947 bis 17. März 1948 sei nicht in der Absicht erfolgt, hier einen bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Auch in der Zeit von März 1949 bis 1. August 1950 habe sich die mitbeteiligte Partei in Österreich nicht in der Absicht aufgehalten, hier einen bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Die Dauer des Aufenthaltes der mitbeteiligten Partei als Flüchtling in Österreich, der für die Weiterwanderung nach den USA vorgemerkt gewesen sei, sei nicht von dem freien Ermessen der mitbeteiligten Partei abhängig gewesen, sondern davon, wann ihr die Schiffskarte und der Schiffsplatz zugewiesen wurde.

Mit der nunmehrigen Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend gemacht wird, wird der Bescheid des Landeshauptmannes von Wien nur insoweit angefochten, als mit ihm eine Begünstigung gemäß § 502 Abs. 4 ASVG für die Zeit vom 9. April 1947 bis 31. März 1959 ausgesprochen wurde. In der Begründung vertritt die beschwerdeführende Partei die Ansicht, „daß bei einer Dauer von rund elf Monaten und dann wieder von fast eineinhalb Jahren von einer vorübergehenden, die Auswanderung im gegenständlichen Sinne an sich nicht unterbrechenden Rückkehr nach Österreich keine Rede mehr sein könne“, und zwar, wie immer die zweimalige Rückkehr der mitbeteiligten Partei nach Österreich in den Jahren 1947 und 1948 motiviert gewesen sei und was immer die weiteren Absichten der mitbeteiligten Partei gewesen sein mögen. Abgesehen von der jeweiligen Dauer ihres Aufenthaltes in Österreich in den Jahren 1947 bis 1950 seien für sie jedenfalls für die neuerliche Auswanderung im Jahre 1947 und im Jahre 1950 keinerlei Gründe vorgelegen, welchen im Sinne der §§ 500 ff ASVG noch Rechnung zu tragen wäre.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 500 Abs. 1 ASVG werden Personen, die in der Zeit vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung ausgewandert sind, unter anderem nach § 502 Abs. 4 ASVG begünstigt. Nach § 502 Abs. 4 ASVG können Personen, die in der im § 500 Abs. 1 ASVG angeführten Zeit aus einem der dort angeführten Gründe ausgewandert sind und die vorher in der Zeit seit dem 1. Juli 1927 Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß den §§ 228 oder 229 ASVG zurückgelegt haben, für die Zeit der Auswanderung, längstens aber für die Zeit bis 31. März 1959, Beiträge nachentrichten. Unter Auswanderung gemäß der angeführten Gesetzesstellen ist im Sinne des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 2. Oktober 1957, Slg. N. F. Nr. 4437/A, die Verlegung des ständigen Wohnsitzes einer Person in das Ausland zu verstehen. Für die Definition des Begriffes „Wohnsitz“ ist, wie der Verwaltungsgerichtshof unter anderem in seinen Erkenntnissen vom 13. Juni 1962, Zl. 587/60, und vom 12. Juni 1963, Zl. 452/63, ausgesprochen hat, auch im Zusammenhang mit dem Begünstigungstatbestand des § 502 Abs. 4 ASVG die Bestimmung des § 66 der Jurisdiktionsnorm heranzuziehen, wonach der ordentliche Wohnsitz einer Person an dem Ort begründet ist, an welchem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Die Aufgabe des Wohnsitzes ist, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem zuletzt angeführten Erkenntnis ausgeführt hat, dann anzunehmen, wenn sich jemand freiwillig aus dem Staatsgebiet entfernt und aus den Begleitumständen die Absicht hervorgeht, den Aufenthalt am Ort der neuen Niederlassung zu nehmen. Es ist unbestritten, daß sich die mitbeteiligte Partei im Jahre 1938 freiwillig aus dem Staatsgebiet entfernt und in Lettland eine neue Niederlassung genommen hat und damit im Sinne des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ausgewandert ist. Durch die Rückkehr nach Österreich im Jahre 1947 hat die mitbeteiligte Partei ihren Wohnsitz in Rußland aufgegeben und damals keinen neuen Wohnsitz im Ausland begründet. Damit sind die Voraussetzungen für die Erfüllung des Begriffes „Auswanderung“ weggefallen. Ab diesem Zeitpunkt gilt sie daher nicht mehr als „ausgewandert“. Auf die Ursachen oder Motive für die Rückkehr der mitbeteiligten Partei nach Österreich hat es nicht anzukommen, ebensowenig darauf, ob in Österreich wieder ein Wohnsitz begründet wurde. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, ob man schon die vorübergehende Ausreise aus Österreich im Jahre 1948 zum Zwecke eines Aufenthaltes in der Schweiz oder erst das endgültige Verlassen Österreichs im Jahre 1950 als neuerliche Auswanderung bezeichnet, in keinem der beiden Fälle lagen Gründe im Sinne des § 500 Abs. 1 ASVG vor, abgesehen davon, daß eine Begünstigung nach der angeführten Gesetzesstelle eine Auswanderung spätestens am 9. Mai 1945 voraussetzt. Wäre die Auffassung der belangten Behörde richtig, so würde dies im Endergebnis dazu führen, daß auch die Zeit, während derer sich die mitbeteiligte Partei nach ihrer Ausreise nach Rußland in Wien aufgehalten hat und die unbestrittenermaßen mehr als zwei Jahre umfaßt (9. April 1947 bis 17. März 1948 und von März 1949 bis 1. August 1950), als Zeit der Auswanderung zu begünstigen wäre. Ein solches Ergebnis kann nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen sein.

Bemerkt wird noch, daß der Hinweis der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. Dezember 1962, Zl. 525/61, fehlgeht, weil im damaligen Beschwerdefall nur die rechtliche Bedeutung der Weiterreise einer emigrierten Person von einem ausländischen Staat in ein anderes Land zur Erörterung gestanden ist, ohne daß der Emigrant jemals nach Österreich zurückgekehrt ist.

Da somit die mitbeteiligte Partei für die Zeit ab 9. April 1947 nicht mehr als ausgewandert im Sinne der §§ 500 ff ASVG angesehen werden kann, ist die belangte Behörde von einer unrichtigen Rechtsauffassung ausgegangen, weshalb der angefochtene Bescheid, soweit mit ihm für die Zeit vom 9. April 1947 bis 31. März 1959 eine Begünstigung ausgesprochen worden ist, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben war.

Wien, am 24. November 1971

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1971:1971001582.X00

Im RIS seit

24.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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