TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/23 L526 2184788-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.08.2019
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Entscheidungsdatum

23.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L526 2184788-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Türkei alias Syrien alias staatenlos, vertreten durch Frau Mag. Doris Einwallner, Rechtsanwältin, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD Tirol, vom 19.12.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass Spruchpunkte I. und VI. zu lauten haben:

I. Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX alias XXXX wird bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 4 und Abs. 2 AsylG 2005 idgF abgewiesen

II. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Türkei alias Syrien alias staatenlos, vertreten durch Frau Mag. Doris Einwallner, Rechtsanwältin, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD Tirol, vom 19.12.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX 2019 den Beschluss gefasst:

A)

Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Weiteren auch kurz "BF" genannt) stellte im Gefolge seiner rechtswidrigen Einreise vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 22.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich dessen gab der BF an, den Namen XXXX zu führen, syrischer Staatsangehöriger und am XXXX geboren zu sein.

Im Rahmen der Erstbefragung am 23.11.2015 gab der BF zum Fluchtgrund an, dass in seinem Land Krieg herrsche und er um sein und das Leben seiner Frau fürchte.

Seine Ehegattin reiste bereits einen Monat vor ihm in Österreich ein und gab erstbefragt zu ihren Fluchtgründen an, nunmehr als Schwangere dem Kind nicht zumuten zu wollen, in Syrien zu Leben. Drei Geschwister von ihr würden schon in Österreich leben.

2. Die Ehegattin gab noch am 04.08.2016 vor dem BFA einvernommen an, dass der syrische Ehegatte Schafhirte gewesen sei und sie nur wegen der Probleme des Ehegatten aufgrund dessen fehlender Registrierung ausgereist sei.

3. Am 30.09.2016 fand eine Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge auch kurz "bB" oder "BFA" genannt) im Beisein eines Dolmetschers für Kurdisch - Kurmanji statt. In dieser Einvernahme behauptete der BF, staatenlos zu sein. Auf der Flucht habe er seine Registrierung, wonach er staatenlos sei, verloren. Syrische Dokumente habe er nicht beantragt, da er auf der Flucht sei und zudem dann zum Militärdienst einrücken hätten müssen. Er führte aus, die Wahrheit bei der Erstbefragung angegeben zu haben und bestätigte die frührer Angabe über die Aufenthaltsorte seiner Familienangehörigen in Syrien. Er habe die Schule trotz Schulpflicht nie besucht und spreche deshalb nicht Arabisch. Zu den Fluchtgründen führte er zusammengefasst aus, in Syrien hätte er als Staatenloser keine Rechte gehabt, der Krieg sei gekommen und sie hätten sich keine Lebensmittel mehr leisten können. Dann hätte er auch noch Angst vor dem IS gehabt bzw. hätte er für die YPG kämpfen müssen. Dezidiert führte er zur Frage nach der strafrechtlichen Vergangenheit in der Heimat oder einem anderen Land aus: "Nein ich bin weder vorbestraft noch habe ich ein Strafrechtsdelikt begangen." Er sei weder verhaftet worden noch hätte er sonstige Probleme mit Behörden gehabt.

Seine mit ihm in Österreich und seiner Tochter lebenden Ehegattin habe er aufgrund seiner Staatenlosigkeit nicht standesamtlich, sondern nur traditionell heiraten können.

Vorgelegt wurden eine Deutschkursbestätigung und die österreichische Geburtsurkunde der ersten Tochter.

4. Am 05.12.2016 wurde der BF erneut von der bB im Beisein eines von der Behörde bestellten und beeideten Dolmetschers in der Sprache Kurdisch-Kurmanji einvernommen.

Im Rahmen dieser Einvernahme stellte der BF seine Identität richtig. Er führte aus, den Namen XXXX zu führen, aus der Türkei zu stammen und am XXXX geboren zu sein. Ausgereist sei er, da er in der Türkei wegen einer Vergewaltigung zu 8 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt worden sei. Der BF wurde aufgefordert, das Urteil vorzulegen. Er sei im Gefängnis gefoltert und verprügelt worden. Zudem traf er Ausführungen zu einer einfachen Mitgliedschaft bei der HDP.

Vorgelegt wurden ein türkischer Personalausweis, die türkische Heiratsurkunde und ein türkischer Führerschein.

Die vorgelegten türkischen Dokumente wurden von der bB an das Bundeskriminalamt zur Überprüfung weitergeleitet. Der Untersuchungsbericht, wonach die vorgelegten Dokumente als authentisch eingestuft wurden und sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer Verfälschung oder Fälschung ergaben, langte am 18.04.2017 bei der bB ein.

5. In weiterer Folge wurden vom BF vorgelegt:

* Türkische Gerichtsunterlagen, (Erste Seite eines Urteils des Höchststrafengerichtes in XXXX , Zl. XXXX )

* Überweisungsbestätigungen - Zahlungen ins Gefängnis

* Ausweis der Ehegattin

* Fotos eines Geschäfts

* Diplome, Unterlagen zu Verwandten (Ausweis)

Der BF wurde am 03.05.2017 sowie am 19.05.2017 im Wege seiner gewillkürten Vertreterin aufgefordert, alle in seinem bzw. ihrem Besitz befindlichen Unterlagen in vollständiger und originaler Ausfertigung der Behörde vorzulegen. Am 17.05.2017 und 23.05.2017 langten wiederum nur unvollständige Teile ein und wurde von Seiten der gewillkürten Vertretung am 30.05.2017 mitgeteilt, dass keine weiteren Unterlagen mehr vorgelegt werden könnten.

In weiterer Folge wurden dann doch das erstinstanzliche Urteil mit allen 5 Seiten, der Haftbefehl, das behebende Urteil im Beschwerdeverfahren samt dem anschließenden Urteil im Beschwerdeverfahren vom XXXX 2012, Verhandlungsprotokolle, Einzahlungsbestätigungen für den BF im Gefängnis und Schreiben der Staatsanwaltschaft (das letzte datiert aus dem Jahr 2013) vorgelegt.

6. Die bB stellte eine Anfrage an die Staatendokumentation hinsichtlich der Verurteilung des BF. Das Ergebnis der Anfragebeantwortung vom 13.10.2017 wurde in den Feststellungen des Bescheides wiedergegeben.

7. Mit 06.12.2016 gab die nunmehrige gewillkürte Vertretung der bB die Vertretungsvollmacht für den BF bekannt. Bekannt gegeben wurde, dass der BF bisher aus Angst und aufgrund unrichtiger Beratung falsche Daten verwendet habe und diese nunmehr richtigstellen wolle.

8. Mit 10.11.2017 übermittelte die bB an die Vertretung des BF einen Fragenkatalog, in welchem im Wesentlichen Fragen zu allfällig neuen Rückkehrbefürchtungen und der Integration des BF gestellt wurden. Die Antworten des BF langten am 28.11.2017 ein. Vorgelegt wurden Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, eine Deutschkursbesuchsbestätigung, eine Bestätigung über eine gemeinnützige Tätigkeit bei der Gemeinde, eine Teilnahmebestätigung für einen Werte- und Orientierungskurs, Geburtsurkunden der Kinder und eine Gemeindezeitung mit einem Foto des BF. Auf dem er bei Waldarbeiten zu sehen ist.

In der Folge langte noch eine Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung ein, worin im Wesentlichen Ausführungen zu von der Behörde den übermittelten länderkundlichen Berichten getätigt und zudem darauf hingewiesen wurde, dass der BF und seine Gattin aus verschiedenen Staaten stammen und der Aufenthalt des BF keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle.

9. Mit dem im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde vom 19.12.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

Die bB ging einerseits davon aus, dass zwar ein Urteil gegen den BF wegen Vergewaltigung ergangen ist, andererseits wurde es als nicht glaubhaft gewertet, dass der BF nach 3 Jahren Haft offiziell entlassen worden sei und nunmehr dennoch von der Polizei gesucht werden würde, um die restliche Haftstrafe abzuleisten, wie er vorbrachte. Zudem wurde argumentiert, dass es sich bei der verhängten Haftstrafe um einen legitimen Strafanspruch des türkischen Staates handeln würde und die türkischen Gerichte ein nach rechtsstaatlichen Prinzipien geführtes Strafverfahren durchgeführt hätten. Das Vorbringen in Bezug auf die Mitgliedschaft in der türkischen Partei "HDP"; die Volksgruppenzugehörigkeit des BF sowie die behauptete allgemein schlechte Lage in der Türkei sei zudem ebenfalls nicht geeignet, eine Schutzgewährung zu begründen.

10. Gegen diesen Bescheid wurde binnen offener Frist begründete Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der Ehefrau und auch den minderjährigen Kindern des BF Asyl in Österreich zuerkannt worden sei. Die belangte Behörde hätte damit auch dem BF gemäß § 34 AsylG denselben Schutzumfang zuerkennen müssen. Ferner wurde darauf verwiesen, dass der BF Kurde sei und er als solcher in der Türkei verfolgt werde. Die belangte Behörde habe dem nichts Substantiiertes entgegensetzen können. Das gesamte Fluchtvorbringen sei nur deshalb für unglaubwürdig gehalten worden, da der BF zu Beginn des Verfahrens einen Fehler und unrichtige Angaben über seine Person gemacht habe. Der BF sei zu Unrecht in der Türkei verhaftet worden und würde nach seiner Entlassung neuerlich gesucht, was in der Türkei Gang und Gäbe sei. Auch politische Aktivitäten, wie die des BF für die HDP würden in der Türkei seit geraumer Zeit wieder massiv verfolgt. Dem BF wäre daher zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen. Zur Untermauerung dieses Vorbringens wurde aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zitiert.

Hinsichtlich Spruchpunkt VII wurde darauf verwiesen, dass es sich bei § 18 Abs. 1 BFA-VG um eine Ermessensentscheidung handle, die auch eine auf Art. 8 EMRK basierende Interessensabwägung erfordere. Schon aufgrund des Umstandes, dass dem BF gem. § 34 AsylG wegen seiner Eigenschaft als Familienangehöriger der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei, erweise sich die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung als nicht gerechtfertigt bzw. unzulässig. Zudem habe der BF die bekanntgegebenen Personendaten von sich aus zu einem frühen Zeitpunkt des Verfahrens richtiggestellt, sodass die Voraussetzungen der von der belangten Behörde herangezogenen Gesetzesstelle auch nicht erfüllt seien.

Unter einem wurde der Antrag gestellt der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

11. Vom Bundesverwaltungsgericht wurden Datenbankauszüge aus dem Informationssystem Zentrales Fremdenregister, dem Grundversorgungsinformationssystem, dem Strafregister und dem Zentralen Melderegister erstellt. Der Akt der Ehegattin des BF wurde angefordert und eingesehen.

12. Der Beschwerde wurde mit Beschluss vom 08.02.2018 gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

13. Am 12.03.2018 und 18.01.2019 wurden Heiratsurkunde sowie ein nationales Identitätsdokument (Nüfus) und ein Führerschein in Farbkopie von der rechtsfreundlichen Vertretung übermittelt.

14. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde der BF über die Mitwirkungspflichten und Wahrheitspflichten aufgeklärt und wurden ihm aktuelle Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Stand 14.03.2019) übermittelt. Der BF wurde aufgefordert, Unterlagen vorzulegen, die geeignet sind, sein Vorbringen zu untermauern, wie etwa einen Haftbefehl.

15. Am XXXX 2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. In dieser Verhandlung wurde dem BF die Gelegenheit eingeräumt, sich nochmals zu seinem Fluchtvorbringen, seinen familiären und privaten Interessen sowie zu seiner Integration zu äußern. Die Ehegattin des BF sowie eine weitere Person wurden als Zeugen einvernommen.

16. Am 13.06.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine in der mündlichen Verhandlung angekündigte Stellungnahme samt Urkundenvorlage des BF ein. Darin wurde aus den übermittelten Länderberichten zitiert und wurden Ausführungen zur Lage der Kurden, zu Repressalien gegenüber Oppositionspolitikern und zu den Haftbedingungen in der Türkei getätigt sowie dargelegt, dass eine Rückkehrentscheidung als unzulässig zu betrachten sei.

Vorgelegt wurden ferner Unterlagen zu den Geschwistern und dem Vater des BF, deren Übersetzung vom Bundesverwaltungsgericht veranlasst wurde.

17. Am 16.8.2019 wurde vom Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz mitgeteilt, dass dort kein Auslieferungsverfahren in Bezug auf den BF geführt wird und auch ein entsprechendes Begehren der türkischen Behörden nicht verzeichnet ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person

Der BF ist ein türkischer Staatsangehöriger, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem. Die Identität des BF steht fest.

Der BF wurde in der Türkei geboren, stammt aus XXXX , XXXX , wo er mit Eltern und Geschwistern ab seinem 7. Lebensjahr lebte und die Schule besuchte. Er arbeitete nach dem Schulbesuch bei seinem Vater in einem Lederfachgeschäft und betätigte sich im Anschluss als selbstständiger Immobilienmakler. Die Familie des BF verfügt über zwei Wohnungen in XXXX und betreibt ein Lederfachgeschäft. Zudem besitzt die Familie Grundstücke in XXXX . Der BF hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie in der Türkei.

Der Ehegattin des BF, XXXX stellte bereits nach illegaler Einreise am 15.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Sie ist syrische Staatsangehörige und ehelichte den BF am XXXX 2015 in der Türkei.

Zudem leben die Kinder XXXX und XXXX in Österreich bei den Ehegatten im gemeinsamen Haushalt. Die Kinder sowie die Ehegattin sind gesund, wobei das jüngste Kind eine Allergie hat. Die Familienangehörigen reden miteinander in der Sprache Kurdisch Kurmanji.

Der Ehegattin des BF wurde am XXXX 2018 ein Konventionsreisepass ausgestellt, nachdem ihr und den Kindern mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017 Asyl gewährt worden ist. Dies insbesondere aufgrund der allgemein schlechten Lage in Syrien. Die Eltern und Geschwister der Ehegattin des BF leben auch in Österreich. Die Ehegattin hat die Deutsch Prüfung für das Niveau A2 abgelegt.

Die Ehegattin des BF lebte bereits ein Jahr vor der Eheschließung in der Türkei und lebte auch nach der Hochzeit noch für einige Zeit dort. Sowohl hinsichtlich der Ehegattin als auch der Kinder sind keinerlei Umstände festzustellen, die den Schluss zuließen, dass diese in der Türkei einer Gefährdung ausgesetzt wären. Es ist der Ehegattin und den Kindern zumutbar, das Leben in der Türkei fortzusetzen. Dies allenfalls auch erst nach Verbüßung einer noch nicht vollzogenen "Rest-Haftstrafe" durch den BF in der Türkei.

Der BF und seine Ehegattin sind junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen. Der BF verfügt über Schulbildung und hat in den oben genannten Berufen gearbeitet. Die Ehegattin des BF hat in der Heimat das Gymnasium besucht, die Schule abgeschlossen und dort auch bei einer Schneiderin gearbeitet. Auch die Kinder sind gesund.

Der BF hat familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei in Gestalt seines Vaters, seiner fünf Schwestern und seiner drei Brüder und verfügen er und seine Familie dort über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage. Der BF steht mit seinen Angehörigen in regelmäßigem Kontakt und werden er und seine Familie wieder Aufnahme in den Familienverband finden.

Der BF möchte offensichtlich mit seiner Ehegattin und seinen Kindern sein künftiges Leben in Österreich gestalten und hält sich seit 3 Jahren und 8 Monaten im Bundesgebiet auf. Er reiste rechtswidrig und mit Hilfe einer Schlepperorganisation in das Bundesgebiet ein. Er, die Ehegattin und die Kinder leben von der Grundversorgung und hat der BF ehrenamtlich für eine Gemeinde gearbeitet. Der BF ist noch keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen und hat einen Werte- und Orientierungskurs absolviert. Er hat von einer Privatperson Deutschunterricht erhalten, spricht jedoch lediglich geringfügig Deutsch. Der BF wurde in der Türkei wegen qualifizierten sexuellen Missbrauches einer Minderjährigen verurteilt und hat dort auch eine Haftstrafe verbüßt. In Österreich ist er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten.

Der BF verfügt über normale soziale Kontakte. In Österreich leben zwei Onkel mit ihren Familien.

In der Türkei leben nach wie vor der Vater, fünf Schwerstern und drei Brüder des BF. Die Geschwister und der Vater arbeiten. Der BF hat Kontakt mit seinen Verwandten in der Türkei. Der Vater des BF wurde im Jahr 1995 zu einer Haftstrafe wegen Mitgliedschaft bei der PKK verurteilt. Weitere Personen mit dem Nachnamen " XXXX " wurden im Zuge von Demonstrationsteilnahmen und wegen öffentlicher Äußerungen verhaftet.

1.2. Behauptete Ausreisegründe aus dem Herkunftsstaat

Der BF wurde mit Urteil des Amtsgerichts XXXX vom XXXX und XXXX wegen sexuellen Missbrauchs bzw. Vergewaltigung einer Frau am XXXX gemäß § 37 Abs. 1 und § 102 Abs. 1 des türkischen Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Dem Urteil zufolge hat der BF gemeinsam mit einem Freund und dem späteren Opfer, nachdem sie dieses weinend an einem See angetroffen und erklärt haben, sie könnten ihr helfen, Bier getrunken. Das Opfer war von Freunden zurückgelassen worden und befand sich in einer schlechten psychischen Verfassung. Sie hielten das Opfer davon ab, mit einem Freund zu telefonieren, welcher später bei der Polizei eine Anzeige wegen Entführung erstattete. Nachdem die Täter mit dem Opfer alleine waren, haben sie es zu Boden gedrückt, sie festgehalten und sexuell missbraucht. Zwei Monate später hat das Opfer den BF auf offener Straße gesehen und eine Anzeige bei der Polizei erstattet. Das Verfahren gegen den Zweittäter wurde vom Verfahren des BF getrennt, da dessen genaue Personalien vorerst nicht feststellbar waren. Festgehalten wurde in dem Urteil, dass hinsichtlich der Haftstrafe unter Berücksichtigung der bisherigen Haftzeit für die weitere Haft ein Kurzurteil an die zuständige Haftanstalt übermittelt werde.

Da das Opfer im Tatzeitpunkt noch nicht 18 Jahre alt war und dieser Umstand im Ersturteil nicht berücksichtigt wurde, wurde das Urteil aus dem Jahr 2010 mit Entscheidung der 5. Kammer des Höchstgerichts zu XXXX vom XXXX aufgehoben mit dem Hinweis, dass § 103 des türkischen Strafgesetzbuches (qualifizierter Sexueller Missbrauch) anwendbar sei.

Nach Durchführung einer Verhandlung im weiteren Verfahren wurde der BF von der XXXX mit Entscheidung vom XXXX und XXXX gemäß §§ 37 Abs. 1, 103 Abs. 2-3, 53 Abs. 1 und 63 des türkischen Strafgesetzbuches zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Dem Verfahren wurden Strafregisterauszüge, Familienregisterauszüge, das vorangegangene Urteil, ein psychiatrischer Befund der Gerichtsmedizin, eine Untersuchung der Spermaspuren, ein Befund des Vorstandes der Gerichtsmedizin, ein Gegenüberstellungsprotokoll und weitere Unterlagen und Beweismittel zugrunde gelegt. Diesen Unterlagen zufolge hat der BF das minderjährige Opfer vergewaltigt. Die Strafzumessung erfolgte unter Berücksichtigung der Umstände, dass die Tat von mehreren begangen wurde, der BF unbescholten war und insbesondere vom Erstgericht die Qualifikation des jugendlichen Alters des Opfers nicht berücksichtigt wurde. Da gegen den BF bereits wegen dergleichen Straftat entschieden wurde, wurde gemäß § 326 Strafprozessordnung die Haftstrafe angepasst, da das Strafausmaß bei neuerlicher Verurteilung nicht höher sein darf als bei der ursprünglichen. Die bisherige Haftzeit des BF wurde im Hinblick auf das Strafausmaß berücksichtigt.

Der BF hat den Ausführungen im Urteil zufolge angegeben, dass er bei der Polizei zu einem Geständnis gezwungen worden sei, er habe beim Gericht die Wahrheit gesagt und sei alles einvernehmlich passiert, zu einem Geschlechtsverkehr per se sei es nicht gekommen. Das Opfer hat demgegenüber - da sie damals verlobt war und bald heiraten wollte - zwar vorerst die Anzeige zurückgezogen, hielt ihre Angaben in der Beschwerdeverhandlung jedoch aufrecht.

Der BF hat gegen dieses Urteil am XXXX 2012 Rekurs erhoben. Die Oberstaatsanwaltschaft beantragte im Schreiben vom XXXX 2013 den Rekurs abzuweisen und die Entscheidung zu bestätigen.

Der BF befand sich von XXXX in einem türkischen Gefängnis in Haft.

Festgestellt wird, dass der BF aufgrund seiner Verurteilung wegen Vergewaltigung in der Türkei und dem damit gesetzten Verhalten einen Ausschlussgrund iSd § 6 AsylG gesetzt hat.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Zusammenhang mit der oben genannten strafgerichtlichen Verurteilung einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen war. Das Verbrechen der qualifizierten Vergewaltigung Minderjähriger ist auch nach österreichischem Recht strafbar.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF von den zuständigen türkischen Gerichten einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der ihm zur Last gelegten Straftaten ausgesetzt wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei Verbüßung seiner Haftstrafe von türkischen Sicherheitskräften misshandelt oder gefoltert wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der Ehegattin und den Kindern kann es zugemutet werden, den BF in die Türkei zu begleiten.

1.3. Die Lage im Herkunftsstaat im Herkunftsstaat Türkei

1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen (die Quellen wurden dem BF gegenüber offengelegt):

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur

Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen,

6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und

Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen. Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen. Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP 10.9.2015).

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).

1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes (PW 21.1.2015).

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend der Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei (ÖB 10.2017).

Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen (BMI-D 6.2016).

Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben (bpb 10.4.2018).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich (BMIBH 7.2018). Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab (BBC 4.11.2016). Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde (HDN 9.6.2016).

3. Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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