Entscheidungsdatum
08.10.2019Norm
BFA-VG §21 Abs5Spruch
L521 2223525-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2019, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
1. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass gemäß § 21 Absatz 5 BFA-VG festgestellt wird, dass die aufenthaltsbeendende Maßnahme zum Zeitpunkt der Erlassung rechtmäßig war.
2. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird Folge gegeben und Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Türkei, wurde am 06.04.2019 anlässlich ihrer Ausreise in den Herkunftsstaat von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Ausreisekontrolle unterzogen. Dabei wurde festgestellt, dass seitens der Beschwerdeführerin die höchstzulässige Aufenthaltsdauer überschritten wurde.
Wider die Beschwerdeführerin wurde aufgrund dieses Sachverhaltes Anzeige wegen einer Übertretung des § 120 Abs. 1a FPG erstattet und ihr anschließend die Ausreise in die Türkei gestattet.
2. Die Anzeigeerstattung wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 08.04.2019 zur Kenntnis gebracht.
3. Mit Note vom 07.05.2019 brachte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Beschwerdeführerin den sich aus der Anzeige ergebenden Sachverhalt zur Kenntnis, kündigte die Erlassung einer aufenthaltsbeenden Maßnahme an und legte die anzuwendenden Rechtsvorschriften dar. Der Beschwerdeführerin wurde darüber hinaus die Beantwortung von Fragen insbesondere zu ihrem Privat- und Familienleben aufgetragen.
4. Eine Reaktion der Beschwerdeführerin auf die ihr vor dem 06.06.2019 zugestellte Note erfolgte nicht.
5. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2019, Zl. XXXX , wurde wider die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG erlassen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 3 FPG 2005 wurde außerdem wider die Beschwerdeführerin eine auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.)
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe des Verfahrensgangs und den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin insbesondere aus, die Beschwerdeführerin habe die höchstzulässige Aufenthaltsdauer ihres Visum C überschritten und sich dermaßen 44 Tage unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Die Beschwerdeführerin verfüge über keinen Aufenthaltstitel und habe das Bundesgebiet am 06.04.2019 verlassen.
Aufgrund des in Rede stehenden Sachverhaltes sei wider die Beschwerdeführerin mit Strafverfügung vom 08.04.2019 rechtskräftig eine Geldstrafe von EUR 500,00 verhängt worden. Die Beschwerdeführerin habe damit § 53 Abs. 2 Z. 3 FPG 2005 verwirklicht und es sei wider die Beschwerdeführerin ein Einreisverbot zu erlassen, da ihr Verhalten verwerflich sei und "innerhalb der österreichischen Bevölkerung ... für Unruhe und Unzufriedenheit" sorge.
6. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2019 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
7. Gegen den vorstehend angeführten und der Beschwerdeführerin am 02.09.2019 eigenhändig zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2019, Zl. XXXX , richtet sich die fristgerecht am 16.09.2019 eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, die Rückkehrentscheidung ebenso wie das verhängte Einreiseverbot aufzuheben. Eventualiter wird beantragt, die Dauer des Einreisverbotes "erheblich zu verkürzen".
In der Sache bringt die Beschwerdeführerin - nach Wiederholung des bisherigen Verfahrensganges - im Wesentlichen vor, sie besuche regelmäßig ihre Familienangehörigen im Bundesgebiet. Ihr Schwiegersohn gebe dabei regelmäßig Verpflichtungserklärungen für sie ab. Bislang wären der Beschwerdeführerin ihre Visa stets nur für etwa drei Monate erteilt worden, sodass eine Überschreitung der höchstzulässigen Aufenthaltsdauer von 90 Tagen nicht habe unterlaufen können. Zuletzt sei ihr allerdings ein Visum C mit mehr als fünf Monaten Gültigkeit ausgestellt worden und sie sei deshalb rechtsirrig davon ausgegangen, dass sie sich innerhalb der Gültigkeitsdauer in Österreich aufhalten dürfe. Dass die höchstzulässige Aufenthaltsdauer überschritten worden sei, werde nicht angezweifelt, beruhe aber auf einem Irrtum der rechtskundigen und der Deutschen Sprache nicht mächtigen Beschwerdeführerin.
Auf die Note des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.05.2019 habe die Beschwerdeführerin nicht reagiert, da sie den Inhalt nicht verstanden habe. Auch die Strafverfügung habe sie infolge unzureichender Deutschkenntnisse nicht verstanden. Ihre Familie habe ihr den Sachverhalt schließlich erklärt und die Geldstrafe entrichtet.
In rechtlicher Hinsicht wendet sich die Beschwerdeführerin ausschließlich gegen das wider sie verhängte Einreiseverbot. Die Beschwerdeführerin verweist insbesondere darauf, dass die schlichte Übertretung fremdenrechtlicher Bestimmungen ein Einreiseverbot nicht trage und ein Versehen auch keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Die vom belangten Bundesamt angestellte Gefährdungsprognose stelle sich außerdem als überschießend dar und bestehe aus unpassenden Textbausteinen.
8. Die Beschwerdevorlage langte am 18.09.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist Staatsangehörige der Türkei. Die Beschwerdeführerin wurde am XXXX in der Stadt XXXX in der Provinz Erzurum geboren. Derzeit lebt die Beschwerdeführerin in der Stadt XXXX in der Provinz Izmir.
Die Beschwerdeführerin ist der deutschen Sprache nicht mächtig.
1.2. Im Bundesgebiet leben zwei Töchter der Beschwerdeführerin, nämlich XXXX und XXXX , die beide in XXXX (Gemeinde XXXX ) ansässig sind. Die Beschwerdeführerin reist regelmäßig in das Bundesgebiet, um ihre Töchter und ihre Enkelkinder zu besuchen (nämlich im Jahr 2014 für etwa vier Wochen und im Jahr 2018 für etwa zweieinhalb Monate). Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin einen über fallweise Aufenthalte zur Urlaubs- und Besuchszwecke hinausgehenden (dauernden) Aufenthalt im Bundesgebiet anstrebt.
1.3. Zuletzt reiste sie unter Verwendung eines vom österreichischen Generalkonsulat in Istanbul am 21.11.2018 für eine Aufenthaltsdauer von 90 Tagen ausgestellten und vom 24.11.2018 bis zum 15.05.2019 gültigen Visum C am 24.11.2018 rechtmäßig von der Türkei in das Bundesgebiet ein.
Die Beschwerdeführerin unterhielt vom 04.12.2018 an bis zum 17.04.2019 einen Nebenwohnsitz bei ihrer Tochter XXXX in XXXX .
Am 05.04.2019 verließ sie das Bundesgebiet im Wege des Flughafens Schwechat und kehrte in die Türkei zurück. Sie ging zuvor irrigerweise davon aus, dass ihr bis zum 15.05.2019 gültiges Visum C ein Aufenthaltsrecht bis zum Ablauf der Gültigkeit vermittelt.
1.4. Mit rechtskräftiger Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 08.04.2019, VStV/919300625827/2019, wurde wider die Beschwerdeführerin eine Geldstrafe von EUR 600,00 verhängt, da die Beschwerdeführerin sich seit dem 22.02.2019 aufgrund des Ablaufs der höchstzulässigen Aufenthaltsdauer unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten und damit gegen § 120 Abs. 1a FPG 2005 verstoßen habe.
Davon abgesehen ist die Beschwerdeführerin unbescholten. Sie wurde insbesondere nicht strafgerichtlich verurteilt.
1.5. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführerin festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
Die Beschwerdeführerin verfügt in ihrem Herkunftsstaat über eine gesicherte Existenzgrundlage. Sie leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.
Die Beschwerdeführerin verfügt über ein türkisches Reisedokument (Reisepass) im Original.
1.6. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).
Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).
Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. Marz hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019
2. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).
Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).
Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).
Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
3. Allgemeine Menschenrechtslage
Die Türkei gehört dem Europarat an und ist Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, des 1. Zusatzprotokolls (Grundrecht auf Eigentum) sowie des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, des 11. (obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), des 13. (uneingeschränkte Aufhebung der Todesstrafe) und des 14. Zusatzprotokolls. Allerdings hat die türkische Regierung unter Berufung auf den Notstandsfall den Europarat am 22.07.2016 über eine allg. Derogation nach Art. 15 EMRK notifiziert sowie über eine entsprechende Derogation vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Eine Notifizierung über die Rücknahme der Derogation nach Aufhebung des Notstandes steht noch aus. Die Türkei ist weiterhin Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Sie gehört neben dem Europarat auch der OSZE an. Für sie gelten die menschenrechtsrelevanten Dokumente dieser Organisationen, vor allem das Kopenhagener Dokument von 1990. Der Europarat ist im Rahmen von Justizprojekten in der Türkei tätig. Darüber hinaus gehört die Türkei zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (11.05.2011), das für die Türkei zum 01.08.2014 in Kraft getreten ist (AA 03.08.2018).
Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt. Davon waren u. a. Journalisten. politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt. doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen. die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung. die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden. gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).
Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche. die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen. die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907. darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft. und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).
Die türkische Menschenrechtsvereinigung (IHD) verlautbarte am 23.1.2017, dass 2016 ein katastrophales Jahr für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gewesen sei, da fast 50.000 Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden, vor allem seit der Erklärung des Notstandes nach dem gescheiterten Staatsstreich. Besonders betroffen waren die südöstlichen Provinzen der Türkei (TP 24.1.2017). Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen verstärkt vor. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt (AA 03.08.2018).
Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte. einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten. insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017).
In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).
Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands bis zur Aufhebung am 18.7.2018 hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt - von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vgl. ZO 20.3.2018).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Der EGMR sieht nunmehr Beschwerden aus der Türkei erst dann als zulässig an, wenn der nationale Rechtsweg einschließlich Individualbeschwerde ausgeschöpft wurde, was zu einer deutlichen Verringerung der Neuverfahren vor dem EGMR führte. Allerdings ist es fraglich, ob es bei dieser Einschätzung des EGMR bleiben wird, da ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.01.2018, in dem es die Freilassung der sich Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay anordnete, von den Instanzengerichten nicht umgesetzt wurde; u.a. mit dem Argument, das Verfassungsgericht habe seine Kompetenzen überschritten und wie eine Tatsacheninstanz agiert (AA 03.08.2018). Seit September 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 75 Fällen eine oder mehrere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt, die vor allem das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, friedliche Versammlungsfreiheit, Verbot der Diskriminierung und Schutz des Eigentums. Insgesamt wurden 2.075 neue Anträge einem Entscheidungsgremium zugeteilt, wodurch die Zahl der anhängigen Anträge auf 7.982 anstieg. Die EU hat die Türkei aufgefordert, ihre Anstrengungen zur Umsetzung aller Urteile des EGMR zu intensivieren. Die Türkei hat 938 Fälle im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens anhängig (EC 9.11.2016).
Die EMRK ist aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar. EMRK und Rechtsprechung des EGMR werden jedoch bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht ausreichend berücksichtigt. Das türkische Justizministerium bemüht sich gemeinsam mit EU und Europarat auch durch Fortbildungen für Richter und Staatsanwälte um Abhilfe. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats mit der Türkei aufgrund nicht umgesetzter Urteile wie Ülke/Türkei (Wehrdienstverweigerung) oder Xenides-Arestis/Türkei (Eigentumsfragen in Nord-Zypern) (AA 03.08.2018).
4. Todesstrafe
Die Türkei ist Vertragspartei des Protokolls Nr. 13 der EMRK zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen. Die problematischste Situation besteht nach wie vor im Südosten des Landes angesichts der mangelnden Untersuchungen der gemeldeten Tötungen durch Sicherheitsorgane im Kontext von Sicherheitsoperationen und PKK- Angriffen (EC 17.4.2018).
Zwar gab es nach dem Putschversuch eine immer wieder aufflammende Debatte um ihre Wiedereinführung. Diese ist aller Voraussicht nach derzeit nicht zu erwarten (AA 03.08.2018). Anlässlich einer Konferenz zum 12. Welttag gegen die Todesstrafe (2014) unterzeichnete der türkische Außenminister den Appell zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe (WCADP 9.10.2014).
5. Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung werden gesetzlich garantiert, die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen für Zehntausende von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen wird. Die Bewegungsfreiheit ist auch im Osten und Südosten des Landes angesichts des Konfliktes zwischen Sicherheitskräften und der PKK sowie deren Unterstützer ein Problem. Beide Konfliktparteien errichten Kontrollpunkte und Straßensperren. Die Regierung schuf spezielle Sicherheitszonen und rief Ausgangssperren in mehreren Provinzen als Reaktion auf die PKK-Angriffe aus. Flüchtlinge, die den Status des bedingten Asyls haben sowie Syrer, denen sog. temporärer Schutz gewährt wurde, erfahren ebenfalls Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Flüchtlinge mit bedingtem Schutzstatus bedürfen einer Erlaubnis der örtlichen Behörden, um in andere als die ihnen zugewiesenen Städte reisen zu können. Syrern ist das Verlassen der auf ihrer Registrierungskarte vermerkten Provinz ohne Genehmigung verboten (USDOS 20.4.2018).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Seit dem Putschversuch verhängen türkische Behörden vermehrt Ausreiseverbote. Diese werden an allen Land-, See- und Luftgrenzübergängen überprüft. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.8.2018).
Am 12.12.2017 verkündete der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, dass seit dem Putschversuch 234.419 Pässe als Teil der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung annulliert worden sind (TM 12.12.2017). Die Annullierung erfolgte mit dem Notverordnungsgesetz Nr.667 mit der Begründung, dass die entlassenen Angestellten des öffentlichen Sektors und andere Mitarbeiter eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen und sie eine Mitgliedschaft, Zugehörigkeit oder Verbindung zu terroristischen Organisationen haben. Per Dekret Nr.673 wurden die Pässe der Ehegatten der Betroffenen ebenfalls annulliert. Tausende Pässe wurden auch jenseits des Rechtsrahmens für ungültig erklärt, wo keinerlei vermeintliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen und somit eine Gefährdung der nationalen Sicherheit vorlagen (PPJ 10.3.2018). Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das türkische Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. TM 25.7.2018).
Die türkische Regierung hat Anfang Jänner 2017 ein Dekret erlassen, dank dem sie im Ausland lebende Türken unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft entziehen kann. Die entsprechenden Notstandsdekrete gelten für Personen, die schwerer Straftaten (etwa Putschversuche, Gründung einer bewaffneten Organisation) beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren (ZO 7.1.2017).
Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst. Schleuserorganisationen gelingt es trotzdem in einer Vielzahl von Fällen, Menschen auf dem Land-, Luft- oder Seeweg nach Deutschland und Westeuropa zu bringen. Drehscheiben der Schleusungskriminalität für ausländische Staatsangehörige, die sich als Flüchtlinge in der Türkei aufhalten, sind Istanbul und die Seewege. Neben bereits etablierten Überfahrten nach Griechenland gewinnen nach Erkenntnissen in- und ausländischer Sicherheitsbehörden neuerdings Überfahrten nach Italien steigende Bedeutung. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Seit dem Putschversuch vom 15.07.2016 verhängen türkische Behörden vermehrt Ausreiseverbote. Diese werden an allen Land-, See- und Luftgrenzübergängen überprüft (AA 3.8.2018).
6. Grundversorgung/Wirtschaft
Für die Türkei werden Marktturbulenzen. starke Währungsabwertungen und erhöhte Unsicherheiten erwartet. die Investitionen und die Konsumnachfrage belasten und eine deutliche negative Korrektur der Wachstumsaussichten rechtfertigen. In der Türkei führten die Besorgnis über die zugrunde liegenden Fundamentaldaten und die politischen Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu einer starken Abwertung der Währung (27% zwischen Februar und Mitte September 2018) und sinkenden Vermögenswerten. Das Wachstum in der Türkei war 2017 und Anfang 2018 sehr stark. dürfte sich aber deutlich abschwächen. Das reale BIP-Wachstum wird für 2018 mit 3.5% prognostiziert. soll aber entgegen den positiven ursprünglichen Prognosen 2019 auf 0.4% sinken. Die türkische Wirtschaft ist nach wie vor sehr anfällig für plötzliche Veränderungen der Kapitalströme und geopolitischen Risiken (IMF 8.10.2018).
Die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem und verharrt trotz leichter Erholung bei knapp 11% (September 2017). Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt. können dort aber nicht vollständig absorbiert werden. Die bereits hohe Jugendarbeitslosigkeit stieg 2017 gegenüber dem Vorjahr weiterhin an. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung daher weiterhin in die Städte und industriellen Zentren ab. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bleiben der weiterhin hohe Anteil der Schwarzarbeit und die niedrige Erwerbsquote von Frauen. Dabei bezieht der überwiegende Teil der in Industrie. Landwirtschaft und Handwerk erwerbstätigen Arbeiter und Arbeiterinnen weiterhin den offiziellen Mindestlohn. Er wurde für das Jahr 2017 auf 1.777.50 Lira brutto festgesetzt. Die Entwicklung der Realeinkommen hält mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt. so dass insbesondere die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten empfindlich am Rande des Existenzminimums leben (AA 10.2017c).
Das türkische Arbeitsrecht muss noch an die EU-Standards angepasst werden. Obwohl die nicht registrierte Beschäftigung auf 27.8% zurückgegangen ist. bestehen weiterhin große Unterschiede in Bezug auf Sektor. Beschäftigungsstatus und Geschlecht (BS 2018).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt unter zentraler Zugrundelegung des Vorbringens der Beschwerdeführerin sowie des Inhaltes der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde einschließlich der im Verfahren vorgelegten Urkunden sowie die amtswegig eingeholten Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und dem Strafregister die Beschwerdeführerin betreffend.
2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verfahrensakts der belangten Behörde.
Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin sowie deren persönliche und familiäre Umstände im Hinblick auf ihren Aufenthalt im Bundesgebiet ergeben sich aus den Vorbringen der Beschwerdeführerin im Beschwerdeschriftsatz, dem keine anderweitigen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens entgegenstehen. Dass sich die Beschwerdeführerin bei ihren Aufenthalten im Bundesgebiet bei ihren Töchtern in XXXX aufhalten, folgt schon aus dem von der belangten Behörde eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.
Die Identität der Beschwerdeführerin steht in Anbetracht ihres im Original bei der Ausreisekontrolle und im Zuge der Erlangung ihre Visum C vorgewiesenen türkischen Reisedokumentes zweifelsfrei fest.
2.3. In Anbetracht des der Beschwerdeführerin zuletzt zum Zweck des Besuchs von Familienangehörigen erteilten Visum C, der vorangehenden Aufenthalte im Bundesgebiet in den Jahren 2014 und 2018 sowie des Umstandes, dass Töchter und Enkelkinder der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet niedergelassen sind, steht aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes fest, dass die Aufenthalte der Beschwerdeführerin Urlaubs- und Besuchszwecken dienen. Weitergehende Absichten, etwa sich dauerhaft im Bundesgebiet niederzulassen, können nicht erkannt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin nach wie vor in der Türkei befindet.
2.4. Dass die Beschwerdeführerin bei ihrem letzten Aufenthalt im Bundesgebiet die höchstzulässige Aufenthaltsdauer von 90 Tage überschritten hat und ihr Aufenthalt demgemäß ab dem 22.02.2019 unrechtmäßig war wird in der Beschwerde zugestanden.
Die Beschwerdeführerin bringt in diesem Zusammenhang vor, dass sie irrigerweise davon ausging, bis zum Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visum C am 15.05.2019 in Österreich bleiben zu können. Bislang wären ihre Visa immer exakt für den Zeitraum der höchstzulässigen Aufenthaltsdauer ausgestellt worden, sodass es gar nicht zu einer Überschreitung habe kommen können. Da die sie der deutschen Sprache nicht mächtig sei, habe sie die Angaben auf der Visaetikette nicht verstanden. Ihr sei auch seitens des Konsulates nicht mitgeteilt worden, dass die Gültigkeit des Visum C nunmehr nicht mit der höchstzulässigen Aufenthaltsdauer übereinstimme.
Das dahingehende Beschwerdevorbingen ist im Zweifel als wahr zu erachten. Richtig ist zunächst, dass die vorangehenden Aufenthalte der Beschwerdeführerin keinen Grund zur Beanstandung boten. Ferner trifft es zu, dass die Gültigkeitsdauer der ihr zuvor erteilten Visa jeweils mit der höchstzulässigen Aufenthaltsdauer korrespondierte. Schließlich kann das Bundesverwaltungsgericht keinen Grund erkennen, weshalb die Beschwerdeführerin aus anderweitigen Motiven als aufgrund eines Irrtums die höchstzulässige Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet überschreiten sollte. Es ist jederzeit eine neuerliche Einladung möglich und die vorsätzliche Missachtung fremdenrechtlicher Vorschriften im Hinblick auf beabsichtigte weitere Besuche der Kinder und der Enkelkinder als hinderlich anzusehen. Der Sachverhalt bietet insgesamt keinen Anlass für die Annahme, dass eine vorsätzliche Übertretung fremdenrechtlicher Vorschriften vorliegt, mag die Beschwerdeführerin auch die gegen sie ergangene Strafverfügung unbekämpft gelassen haben.
2.5. Der Inhalt der Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 08.04.2019, VStV/919300625827/2019, ergibt sich zweifelsfrei aus der im Verwaltungsakt aufliegenden Kopie. Die Bestrafung wird von der Beschwerdeführerin zugestanden. Ihre gerichtliche Unbescholtenheit in Österreich ergibt sich aus dem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug vom 18.09.2019.
2.6. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, ergibt sich einerseits daraus, dass die Beschwerdeführerin im bisherigen Verfahren diesbezüglich keinerlei Angaben getätigt hat.
Da sie über einen Wohnsitz in der Türkei verfügt und dorthin am 06.04.2019 freiwillig zurückkehrte, ist von einer bestehenden Existenzgrundlage im Herkunftsstaat auszugehen. Hinweise auf eine der Beschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr drohende Gefährdung kamen im Verfahren nicht hervor und wurden auch nicht vorgebracht.
Darüber hinaus stehen der Beschwerdeführerin die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigte offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.
2.7. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom belangten Bundesamt herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, die im angefochtenen Bescheid der Beschwerdeführerin gegenüber offengelegt wurden. Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Die Beschwerdeführerin ist den bereits vom belangten Bundesamt getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat in der Beschwerde nicht entgegen getreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Wird gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht erhoben und hält sich der Fremde zum Zeitpunkt der Erlassung der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet auf, so hat das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 21 Abs. 5 BFA-VG festzustellen, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme zum Zeitpunkt der Erlassung rechtmäßig war.
Die Beschwerdeführerin hat noch vor Erlassung des angefochtenen Bescheides das Bundesgebiet am 06.04.2019 verlassen und ist in den Herkunftsstaat zurückgekehrt. Sie hält sich demnach im Zeitpunkt der Erlassung der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet auf, sodass die Rechtsmäßigkeit der gegen die Beschwerdeführerin gerichteten aufenthaltsbeendende Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Erlassung zu prüfen ist.
Gemäß § 52 Abs. 1 Z. 2 FPG 2005 hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
Im Verfahren kam nicht hervor, dass die Beschwerdeführerin über einen Aufenthaltstitel verfügt, der ihr einen rechtmäßigen Aufenthalt im Schengenraum verschafft. Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin zuletzt zum Zeitpunkt ihrer Ausreise über ein gültiges Visum verfügte. Die höchstzulässige Aufenthaltsdauer ihres Visum C vom 21.11.2018 war vielmehr bereits am 22.02.2019 erreicht und hätte die Beschwerdeführerin bereits an diesem Tag das Bundesgebiet verlassen müssen. Zuletzt war ihr Aufenthalt im Bundesgebiet bis zur tatsächlichen Ausreise am 06.04.2019 somit nicht rechtmäßig.
Da die Verfahrenseinleitung innerhalb der § 52 Abs. 1 Z. 2 FPG 2005 erfolgte, war das belangte Bundesamt somit grundsätzlich zur Erlassung eines Rückkehrentscheidung befugt.
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Türkei, sodass außerdem zu prüfen ist, ob sie sich auf auf Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation berufen kann.
In dieser Hinsichtlich ist zunächst wesentlich, dass die Beschwerdeführerin keine Genehmigung zur Einreise erhalten hat. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. April 1997, C-351/95, genießen die türkischen Staatsangehörigen nach dem ARB 1/80 keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft, sondern besitzen nur bestimmte Rechte in dem Aufnahmemitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sie rechtmäßig eingereist sind und in dem sie eine bestimmte Zeit lang eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt haben oder in dem sie, wenn es sich um Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers handelt, die Genehmigung erhalten haben, zu dem Arbeitnehmer zu ziehen, und während des in Artikel 7 Satz 1 erster und zweiter Spiegelstrich vorgesehenen Zeitraums ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz hatten (VwGH 14.03.2013, Zl. 2010/22/0105). Die Beschwerdeführerin kann sich im Kontext dieser Ausführungen nicht darauf berufen, dass sie eine Genehmigung zur Einreise erhalten hat. Ein Visum C ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nämlich keine solche behördliche Genehmigung (VwGH 16.12.2014, Ra 2014/22/0127; 22.01.2015, Ra 2014/21/0019).
Einer Berufung auf Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 steht entgegen, dass diese Bestimmung (wie der gesamte Beschluss) die Integration von Arbeitnehmern und somit nicht von selbständig Erwerbstätigen zum Gegenstand hat und die Beschwerdeführerin keiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nachgegangen ist.
Anderweitige Hinweise darauf, dass der Besc