TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/25 W119 2128291-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.02.2020
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Entscheidungsdatum

25.02.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W119 2128291-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie-Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 2. 5. 2016, Zl 1070430506/150547635 RD NÖ, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin stellte gemeinsam mit ihrem Ehemann (Zl W119 2128299) und ihrem minderjährigen Sohn (Zl W119 2128298) am 22. 5. 2015 jeweils Anträge auf internationalen Schutz. Für ihren am XXXX geborenen Sohn und ihre am XXXX geborene Tochter wurden ebenfalls solche Anträge gestellt.

In der am 24. 5. 2015 durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG gab die Beschwerdeführerin an, dass sie aus XXXX stamme, der Religionsgemeinschaft der Sikhs angehöre und traditionell verheiratet sei. Sie habe keine Ausbildung erhalten. Nach ihrer Verehelichung habe sie in XXXX gelebt. Zu ihrem Fluchtgrund führte sie aus, dass sie und ihre Familie in Afghanistan aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bedroht und misshandelt worden seien. Sie seien aufgefordert worden zum Islam zu konvertieren. Sie sei auch mehrmals sexuell belästigt worden.

Am 18. 8. 2015 wurde die Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Dort gab sie eingangs an, lediglich Punjabi zu beherrschen und in XXXX gelebt zu haben, bis sie nach ihrer Eheschließung vor fünf Jahren nach Jalalabad übersiedelt sei. Auf die Frage, ob sie den Tempel besucht habe, gab sie an, dass sie diesen nur in Begleitung ihres Ehemannes besucht habe. Sie könne die Frage nach politischen bzw kriegerischen Ereignisse nicht beantworten. Sie habe keine Schule besucht.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt, gab sie an, dass ihr Leben in Gefahr gewesen sei. Sie seien angegriffen und bespuckt worden. Sie seien auch von muslimischen Männern sexuell belästigt worden.

Das Bundesamt bestellte Dr. Sarajuddin RASULY zum länderkundigen Sachverständigen.

Mit Schreiben vom 19. 8. 2015 beauftragte das Bundesamt diesen Sachverständigen ein schriftliches Gutachten darüber zu erstellen, ob die Beschwerdeführerin der Religionsgemeinschaft der Sikhs angehöre, ob aktuell bzw in absehbarer Zeit eine Verfolgungsgefahr in Afghanistan bestehe sowie, ob die Beschwerdeführerin nicht aus einem anderen Herkunftsstaat als Afghanistan stamme.

Der länderkundige Sachverständige erstattete mit Schriftsatz vom 1. 10. 2015 ein schriftliches Gutachten, das zusammenfassend zum Ergebnis gelangte, dass sowohl in XXXX als auch in XXXX Ermittlungen angestellt worden seien und diese ergeben hätten, dass die Beschwerdeführerin und ihr Vater in der Sikh-Community der genannten Städte nicht bekannt seien.

Am 11. 2. 2016 wurde die Beschwerdeführerin beim Bundesamt neuerlich niederschriftlich einvernommen, wo das erstattete Gutachten erörtert wurde.

Dazu gab die Beschwerdeführerin an, dass sie eine Frau sei und sich kaum auf der Straße aufgehalten habe. Sie verstehe zwar Farsi, könne es aber nicht sprechen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 2. 5. 2016, Zl 1070430506/150547635 RD NÖ, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß §§ 57 und 55 AsylG wurde ihr ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Mit Verfahrensanordnung vom 3. 5. 2016 wurde der Beschwerdeführerin die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberaterin zur Seite gestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 17. 5. 2016 Beschwerde, in der beantragt wurde, die beiden in Großbritannien lebenden Schwestern der Beschwerdeführerin als Zeuginnen einzuvernehmen. Zudem wurde auf die Lage der Frauen in Afghanistan hingewiesen. Weiters wurde ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

Am 9. 5. 2017 und am 7. 11. 2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

In der am 9. 5. 2017 abgehaltenen Verhandlung, an der das Bundesamt als weitere Partei des Verfahrens nicht teilnahm, gab die Beschwerdeführerin an, dass ihre Ehe arrangiert worden sei. Sie habe zuerst in XXXX gelebt, wo sich sehr viele Sikhs aufhalten würden. Ihr Vater habe in einem Textilgeschäft gearbeitet. Ihr Ehemann habe in XXXX gelebt. Sie spreche Kabuli. Dabei handle es sich um eine Sprache, die Punjabi ähnlich sei.

In der Verhandlung erklärte die Richterin, Frau Mina ASEF-HAMEED als Sachverständige dem Verfahren beizuziehen, wozu die Rechtsberaterin und die Beschwerdeführerin ihre Zustimmung erteilten.

Mit Beschluss vom 9. 6. 2017 wurde Frau Mina ASEF-HAMEED gemäß § 52 Abs 2 AVG iVm § 17 VwGVG zur Sachverständigen aus dem Fachgebiet Afghanistan bestellt und sie beauftragt, ein schriftliches Gutachten zur Frage, ob die Beschwerdeführerin in XXXX der Gemeinschaft der Sikhs angehöre zu erstatten, wobei ersucht wurde, Mitglieder der Sikh-Community einer Befragung zu unterziehen.

Mit Schriftsatz vom 29. 10. 2019 wurde ein ärztlicher Befundbericht übermittelt, aus dem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin an einer Anpassungsstörung mit depressiver Begleitsymptomatik leide.

Mit Schriftsatz vom 20. 10. 2019 erstattete die länderkundige Sachverständige das Rechercheergebnis mit folgendem Inhalt:

"Zur Durchführung der Recherchen bezüglich der Beschwerdeführerin, Frau XXXX , beauftragte ich zunächst meine in Kabul lebende Kontaktperson, Herrn XXXX , vor Ort in XXXX Informationen einzuholen. Herr XXXX fuhr in dieses Stadtviertel und befragte Bewohner der Sikh-Gemeinschaft. Viele der befragten Personen zeigten sich kooperativ und waren bereit, auf die Fragen von Herrn XXXX zu antworten. Zunächst wurde ein Herr, namens XXXX befragt. Dieser gab an, in XXXX geboren und aufgewachsen zu sein. Er sagte, dass er ein Gewürzgeschäft in der Stadt auf dem Großen Markt von XXXX führe. Herr XXXX führte aus, dass es in XXXX nach wie vor eine Gemeinschaft der Hindus und Sikhs gibt. Allerdings sei die Einwohnerzahl dieser Gemeinde im Zuge des Krieges seit 1992 aufgrund von Auswanderungen massiv geschrumpft. Er gab an, dass es in Kabul einen Rat der Sikh- und Hindu- Gemeinde gebe, welcher die Sikhs und Hindus auf staatlicher Ebene vertrete.

Befragt nach Frau XXXX und deren Vater XXXX , gab Herr XXXX an, dass er Herrn XXXX nicht persönlich kannte und riet meiner Kontaktperson, mit dem Vater von Herrn XXXX zu sprechen, da dieser ihn kennen könnte. Herr XXXX ergänzte informativ, dass die Minderheiten untereinander zerstritten sei und er zur Meidung von gröberen Konflikten nicht allzu sehr mit der Sikh- Community in Kontakt stehe, sondern sich vielmehr um das Geschäft und seine alten Eltern kümmere. Er fügte hinzu, dass er über Frau XXXX ebenfalls keine Angaben machen könne, da die Frauen in der afghanischen Sikh-Gemeinschaft nicht mit fremden Männern bekannt gemacht werden und diese meist sehr zurückgezogen leben.

Herr XXXX und Herr XXXX vereinbarten ein Treffen mit dem Vater des Herrn XXXX im Geschäft in XXXX . Der Vater der befragten Person zeigte seine Bereitschaft, die Fragen zu beantworten.

Der Vater von Herrn XXXX begann zunächst von sich aus über die Situation der Sikhs in XXXX zu sprechen. Er bestätigte die Aussage seines Sohnes, indem er angab, dass es innerhalb der Sikh-Gemeinde Konflikte gebe. Er ergänzte, dass es ein "Komitee des Haupttempels XXXX " gebe, das für die Aufrechterhaltung des Tempels, für die Strom- und Wasserversorgung, sowie für die Sicherstellung von Brennholz für die Bestattung der Toten im Holzfeuer, zuständig sei. Befragt nach dem Vater von Frau XXXX , dem Herrn XXXX , gab der befragte ältere Herr an, diesen Namen gehört zu haben, jedoch nicht wisse, um wen genau es sich dabei handle. Er ergänzte, dass es jemand sein könnte, der im Zuge der großen Auswanderung der Sikh- und Hindu- Minderheit, die im Jahr 1992 nach der Machtübernahme durch die Mujaheddin und dem Beginn des Bürgerkrieges stattgefunden habe, wie Tausende andere, ausgewandert sein könnte. Mit großem Bedauern erzählte der Vater des Herrn XXXX , dass die Minderheiten - Gemeinden vor 1992 sehr wohlhabend gewesen seien und Villen in XXXX besessen haben, diese jedoch im Zuge des Bürgerkrieges zerstört und geplündert worden seien. Befragt nach Frau XXXX , gab der befragte Herr an, dass er ein Mitglied der Gemeinde, die diesen Namen führe, nicht kenne, ergänzte jedoch informativ, dass die Sikh-Frauen im Allgemeinen keine Kontakte zu Männern der Gemeinde pflegen, sehr wohl sich aber die Frauen untereinander treffen. Herr XXXX bat den befragten Herrn, seine Frau zu fragen, ob diese eine Frau XXXX oder deren Mutter Frau XXXX kannte. Nach einiger Zeit wurde Herr XXXX von Herrn XXXX angerufen und darüber informiert, dass auch seine Mutter niemanden mit den beiden genannten Namen kenne.

Herr XXXX befragte überdies noch weitere Sikh-Bewohner in XXXX , die in der Umgebung des Tempels lebten, aber auch Verkäufer der Stoff - und Gewürzgeschäfte im Stadtteil XXXX . Manche der befragten Personen kooperierten nicht, andere wiederum beantworteten die gestellten Fragen entsprechend ihres Wissensstandes. Die meisten von ihnen gaben an, einen Herrn XXXX und dessen Tochter Frau XXXX nicht zu kennen.

Während Herr XXXX die Recherchen in XXXX durchführte, beauftragte ich Herrn XXXX -eine weitere Kontaktperson von mir- im Zusammenhang mit den Angaben von Frau XXXX , in XXXX Informationen zum gegenständlichen Fall aus der dortigen Hindu- und Sikh- Gemeinschaft einzuholen.

Zunächst besuchte Herr XXXX die beiden noch bestehenden Tempel der Sikhs im Zentrum von XXXX sowie bei XXXX mit den Namen " XXXX " und " XXXX ". Er erzählte nach seiner Wahrnehmung, dass nur mehr wenige Sikhs zum Beten in ihre Gebetsstätte kommen, weil sie Angst vor Anschlägen in den Tempeln haben. Es war ihm aber dennoch möglich einige Leute zu befragen. Frau XXXX ist in der Sikh-Gemeinschaft in der Stadt XXXX weitgehen unbekannt. Auch kennt niemand Ihren Vater. Befragt nach dem Ehemann von Frau XXXX , bestätigte eine Person, dass er einen Mann namens XXXX gekannt habe, der über eine längere Zeit in Indien gewesen sei und dann aber nach XXXX zurückgekehrt sei. Er habe in XXXX ein Geschäft geführt und sei wegen der schlechten Sicherheitslage wieder aus Afghanistan geflüchtet. Er vermutete, dass er nach Indien ausgewandert sei.

Herr XXXX war danach im Stadtteil XXXX , um weitere Informationen einzuholen. Er musste feststellen, dass der Tempel in XXXX geschlossen ist. Es wird nicht mehr von den Sikhs in XXXX besucht. Als Grund dafür, warum ausgerechnet dieser Tempel geschlossen wurde, gab ein Angehöriger der Sikh-Gemeinde an, dass die Anzahl der Sikhs in XXXX seit den jüngsten gezielten Angriffen auf diese Gemeinde im Jahr 2018 dazu geführt haben, dass viele Sikhs die Region verlassen haben und die meisten, seines Wissen nach, nach Indien ausgewandert sind, massiv zurückgegangen ist. Befragt nach Frau XXXX und deren Vater XXXX , gab Herr XXXX an, dass ihm beide Namen nicht bekannt sind. Er kenne einen XXXX , der um die 20 Jahre alt sei und keine Kinder habe. Der Ehemann von Frau XXXX war ihm namentlich bekannt. Herr XXXX leitet selbst ein Stoffgeschäft in XXXX . Als Geschäftsmann war ihm der Name des Beschwerdeführers nicht bekannt und ergänzte, dass der Name unter den XXXX häufig vorkommt und er nicht ausschließen kann, dass jemand mit diesem Namen in XXXX gelebt hat.

Zusammenfassend führten die Erhebungen betreffend Frau XXXX in XXXX und XXXX zu dem Ergebnis, dass Frau XXXX weder in XXXX , wo sie ihren Angaben zufolge geboren sein soll noch in XXXX , wo sie behauptet, gelebt zu haben, bei den befragen Personen bekannt ist. Dies wurde damit begründet, dass die Sikh-Frauen ein eher zurückgezogenes Leben in Afghanistan führen und folglich der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. An den Vater von Frau XXXX konnten sich die befragten Personen in XXXX nicht erinnern und in XXXX ist er weitgehend unbekannt. Hingegen konnte nicht ausgeschlossen werden, dass Herr XXXX , der Ehemann von Frau XXXX in XXXX aufhältig gewesen ist.

Mit Schriftsatz vom 6. 11. 2019 wurde mitgeteilt, dass aufgrund einer Anzeige der Beschwerdeführerin bei ihrem Ehemann am 28. 3. 2019 eine Wegweisung durch die Polizei erfolgt sei und die Beschwerdeführerin nunmehr mit ihren drei Kindern alleine in der Wohnung lebe. Sie sei psychisch sehr belastet, da sie sehr großem Druck durch die Community ausgesetzt sei, da sie ihren Ehemann wegen wiederholter Gewaltanwendung angezeigt habe. Ihre Kinder würden sehr darunter leiden. Sie würde es begrüßen, wenn ihre Kinder ihren Vater wiedersehen könnten.

Am 7. 11. 2019 fand eine fortgesetzte Verhandlung in Anwesenheit der länderkundigen Sachverständigen statt, wozu das Bundesamt als weitere Partei des Verfahrens nicht teilnahm. Die Beschwerdeführerin legte zunächst einen ärztlichen Befundbericht, eine Stellungnahme des "Vereines Wohnen", Empfehlungsschreiben, zahlreiche Fotos, eine Deutschkursbestätigung, Kindergartenbestätigungen sowie ein Schulzeugnis des älteren Sohnes der Beschwerdeführerin vor.

Nach erfolgter Übersetzung des in das Verfahren eingeführten Rechercheergebnisses wurde die Sachverständige dazu befragt, ob sie unter Zugrundelegung des Rechercheergebnisses ausschließen könne, dass die Beschwerdeführerin jemals in Afghanistan gelebt habe. Diese führte dazu aus, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden könne. Dass die Beschwerdeführerin den befragten Personen nicht bekannt sei, werde damit erklärt, dass Frauen in der Sikh-Gemeinschaft ein sehr zurückgezogenes Leben führen würden und somit von der Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen seien.

Die Rechtsberaterin der Beschwerdeführer berichtete von dem am gestrigen Tag durchgeführten Beratungsgespräch, das in Anwesenheit einer Punjabi-Dolmetscherin geführt worden sei. Diese habe zeitweilig Mühe gehabt, die Beschwerdeführerin zu verstehen, weil sie afghanisches Punjabi sprechen würde. Diese Aussage steht im Einklang mit der in der Verhandlung anwesenden aus Indien stammenden Dolmetscherin, die die dieselbe Wahrnehmung gemacht hatte.

Die Beschwerdeführerin bestätigte die Ausführungen der Sachverständigen, wonach sie zu Hause sehr zurückgezogen gelebt habe, sodass Menschen aus ihrem Stadtviertel Frauen oftmals nicht kennen würden.

Befragt, welche Probleme sie in Afghanistan gehabt habe, gab sie an, dass sie einerseits das Haus nicht alleine habe verlassen dürfen und andererseits Sikhs als Ungeziefer und als Kafire (Ungläubige) bezeichnet werden würden. Sie seien auch beschimpft und beleidigt worden. Dies habe sie erlebt, wenn sie einmal im Monat in Begleitung ihrer männlichen Familienangehörigen zum Tempel gegangen sei. In Jalalabad sei das Leben unerträglich und furchtbar gewesen.

Sie habe in Afghanistan die Schule nicht besuchen dürfen, obwohl sie sehr gerne Bildung erworben hätte. Sie sei sehr stolz, wenn sie ihr achtjähriges Kind beim Lesen und Schreiben beobachte. Sie lebe derzeit von ihrem Ehemann getrennt, sie persönlich komme damit zurecht, für ihre Kinder hingegen sei es schwieriger. Diese würden nach ihrem Vater fragen und weinen. Sie sei nunmehr für alles selbst verantwortlich, wie Behördenwege und Arztbesuche.

Gleichberechtigung sei für sie sehr wichtig, sie sei ein freier Mensch und wolle alle jene Dinge tun, die ihr in Afghanistan verwehrt gewesen seien. Sie erleide auch großen Druck durch die Sikh-Community, weil sie ihren Ehemann angezeigt und sich in weiterer Folge von ihm getrennt habe. Sie habe für diesen Schritt sehr viel Mut benötigt. Sie habe in der Nachbarschaft österreichische Freunde, sie würden sich gegenseitig besuchen. Sie würde sehr gerne als Küchenhilfe oder Schneiderin arbeiten. Die erkennende Richterin hielt fest, dass bei der Beschwerdeführerin durchaus nennenswerte Deutschkenntnisse vorhanden seien.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurden der Rechtsberaterin der Beschwerdeführerin die Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan übergeben, wozu diese sogleich eine Stellungnahme abgab und ausführte, dass die Beschwerdeführerin eine Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur religiösen Gruppe der Sikhs im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten habe. Überdies habe sie glaubhaft dargelegt, dass sie eine westliche Einstellung besitze und ein eigenständiges Leben führe, zumal sie seit über sechs Monaten von ihrem Ehemann getrennt lebe und aus diesem Grund großem Druck der Sikh-Comunity ausgesetzt sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige und gehört der Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Die Beschwerdeführerin spricht jenes Punjabi, das in Afghanistan gesprochen wird. Wenngleich sich die Dauer des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin in Afghanistan zeitlich nicht einordnen lässt, hat die Beschwerdeführerin in Afghanistan gelebt, wo sie weder eine Schule besuchen noch einen Beruf erlernen durfte. Sie durfte ebenso wenig ohne Begleitung ihrer Familienangehörigen das Haus verlassen. In Afghanistan empfand sie die dort befehligenden Einschränkungen als sehr belastend. Sie heiratete einen afghanischen Staatsangehörigen, der derselben Religionsgemeinschaft angehört und mit dem sie drei gemeinsame Kinder hat.

Da der Ehemann der Beschwerdeführerin gegenüber dieser gewalttätig wurde, erfolgte am 28. 3. 2019 eine Wegweisung durch die Polizei. Die Beschwerdeführerin lebt seitdem mit ihren Kindern getrennt von ihrem Ehemann. Die Kinder der Beschwerdeführerin leiden sehr unter der Trennung von ihrem Vater.

Der Ehemann der Beschwerdeführerin wurde mit Urteil des Landesgerichtes St. Pölten, Zl XXXX , vom XXXX wegen § 107 Abs 1 StGB zu einer bedingen Freiheitsstrafe von 5 Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren rechtskräftig verurteilt.

Die Beschwerdeführerin ist aufgrund der von ihr angestrebten Trennung von ihrem Ehemann Anfeindungen der Sikh-Community ausgesetzt, was sie auch sehr belastet.

Sie besucht dennoch Deutschkurse, besitzt österreichische Freunde und Freundinnen und verwaltet zudem das Haushaltseinkommen. Sie ist in der Lage Arzt- und Behördenwege auch eigenständig wahrzunehmen. Überdies ist sie als alleinerziehende Mütter für alle Belange, die ihre Kinder betreffen, selbst verantwortlich. Sie strebt den Beruf einer Küchenhilfe oder Schneiderin an. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine moderne und aufgeklärte Frau, die mit ihrer Flucht nach Österreich zudem ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will. Die Beschwerdeführerin würde im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund ihrer nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung, die sich vorrangig in ihrem Wunsch nach Bildung und Unabhängigkeit geäußert hatte, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein.

Zur Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom Juni 2018 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler, letzte Aktualisierung vom 22. 1. 2019):

Sikhs / Hindus

Schätzungen zufolge sind die Sikhs seit 500 Jahren in Afghanistan präsent. Bis 1992, als die Mujahedin die Oberhand gewannen, war die Sikh-Gemeinschaftt innerhalb der afghanischen Gesellschaft gut gefestigt und die Anzahl ihrer Mitglieder zählte in den 1940er Jahren mehr als 25.000 Personen landesweit (AH 20.8.2014). In Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar, lebte im Jänner 2017 weiterhin eine bedeutende Anzahl an Sikhs (AJ 1.1.2017). Berichten zufolge siedelten sich Sikhs und Hindus hauptsächlich in Kabul sowie in den Provinzen Nangarhar, Ghazni, Helmand, Khost und Kunduz an (HO U.K. 2.2017). Jahrzehntelange Instabilität und Intoleranz haben Migrationsströme verstärkt, und dadurch ist die Gemeinschaft landesweit zurückgegangen (HO U.K 2.2017; vgl. USCIRF 2017, AH 25.8.2016). Fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt ist laut Sikh-Führern der Hauptgrund für die Emigration. Sie berichten von einer verstärkten Emigration, nachdem sich die wirtschaftliche Lage für ihre Gemeinschaften verschlechtert habe und es zu erhöhten Sicherheitsbedenken gekommen sei (USDOS 15.8.2017). Die Gemeinschaft der Sikhs und Hindus in Afghanistan wird auf ca. 900 Mitglieder geschätzt (USDOS 20.4.2018).

Sikhs und Hindus sind Diskriminierungen ausgesetzt und berichten von ungleichem Zugang zu Regierungsposten und Belästigungen in Schulen sowie verbaler und physischer Misshandlung an öffentlichen Orten. Präsident Ashraf Ghani hat sich mit Sikhs und Hindus im September 2015 getroffen, um das Opferfest zu zelebrieren (HO U.K. 2.2017; vgl. USDOS 15.8.2017). Quellen zufolge sind Hindus weniger gefährdet als Sikhs; der Grund dafür ist das Fehlen sichtbarer charakteristischer Merkmale (z.B. Kopfbedeckung) bei den Hindus (USDOS 15.8.2017).

Staatliche Diskriminierung gibt es nicht, auch wenn der Weg in öffentliche Ämter für Hindus/Sikhs schon aufgrund fehlender Patronagenetzwerke schwierig ist (AA 5.2018). Trotz gesellschaftlicher Diskriminierung bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften weiterhin Regierungsposten auf Gemeindeebene sowie an der afghanischen Handelskammer und im Oberhaus (CRS 13.12.2017; vgl. USDOS 15.8.2017). Dieser Sitz ist zurzeit durch eine Frau der Sikh-Gemeinschaft, Anarkali Hunaryar, besetzt (AB 23.11.2017; vgl. RFE/RL 30.12.2016).

Berichten zufolge schicken Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaften ihre Kinder aus Angst vor Schikane durch ihre Mitschüler nicht in staatliche Schulen. In der Vergangenheit haben sie ihre Kinder in private Hindu- und Sikh-Schulen geschickt, jedoch sind heutzutage viele davon geschlossen. Grund dafür ist der Rückgang beider Gemeinschaften und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen für deren Mitglieder. In Kabul befindet sich eine staatlich finanzierte Schule für Sikh-Kinder. Die Regierung hat Schulen in den Provinzen Helmand und Ghazni geschlossen, nachdem die Zahl der Anmeldungen zurückgegangen war. Die Regierung stellt proportional weiterhin dieselben finanziellen Mittel für Lehrergehälter, Schulbücher und Schulerhalt zur Verfügung wie auch bei anderen Schulen. Das Bildungsministerium (MoE) stellt den Bildungsplan für die Sikh-Schule zusammen - ausgenommen davon ist der Religionsunterricht. Die Gemeinschaft bestellt einen Lehrer für den Religionsunterricht, der vom Bildungsministerium bezahlt wird. Eine privat finanzierte Sikh-Schule in Jalalabad wird von einer NGO, dem schwedischen Komitee für Afghanistan, unterstützt. Einige Sikh-Kinder besuchen internationale Privatschulen. An der medizinischen Universität in Kabul studiert ein Sikh. Da Hindus keine eigenen Schulen haben, gehen ihre Kinder in Sikh-Schulen (USDOS 15.8.2017).

Nichtmuslim/innen wie z. B. Sikhs, Hindu und Christen waren Belästigung ausgesetzt und in manchen Fällen sogar Gewalt (AJ 1.1.2017). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen. Hindus und Sikhs verlautbarten, es sei ihnen weiterhin möglich, ihre Religion öffentlich zu praktizieren; dennoch leiden sie unter gesellschaftlicher Diskriminierung (USDOS 15.8.2017; vgl. USCIRF 2017, CRS 13.12.2017). Es gibt drei aktive gurdwaras (Gebetsstätte für Sikhs) und fünf Hindu-mandirs (Tempel). Buddhistischen Ausländern ist es erlaubt, in hinduistischen Tempeln zu beten (CRS 13.12.2017).

Kremation:

Berichten zufolge werden Hindus und Sikhs von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung als Außenseiter (bzw. "Nicht-Afghanen") betrachtet (USDOS 15.8.2017; vgl. AA 5.2018). Viele Muslim/innen lehnen insbesondere die Feuerbestattung ab, die im Hinduismus und Sikhismus das zentrale Begräbnisritual darstellt (AA 5.2018). Hindus und Sikhs berichten weiterhin von Störungen während ihrer traditionellen Feuerbestattungen durch Anrainer/innen aus der Nähe ihrer Kremationsstätte (shamshan). Obwohl ihnen die Regierung Grund für eben diesen Zweck zur Verfügung gestellt hat, beschweren sich Sikhs, dass der Ort zu weit von urbanen Zentren entfernt liege und es somit u.a. wegen der schlechten Sicherheitslage unbenutzbar sei. Die Regierung stellt weiterhin Polizeiunterstützung für die Sikh- und Hindugemeinschaft zur Verfügung, während diese ihre Kremationsrituale abhält (USDOS 15.8.2017). Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft zeigten sich besorgt über Dispute bzgl. der Landvergabe für ihre Kremationsstätten (HO U.K. 2.2017). Aus Angst vor Vergeltung bevorzugen sie es, Entschädigungen nicht durch Gerichte einzuklagen. Mitglieder der beiden Gemeinden geben an, dass sie ihre Fälle allgemein nicht an ein ziviles Gericht herantragen, sondern sie es vorziehen, ihre Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde zu lösen. Sikhs und Hindus haben die Möglichkeit, sich an Schlichtungsstellen z.B. das Sondergericht für Land- und Besitzfragen ("Special Land and Property Court") zu wenden. Beide Gemeinschaften geben an, sich durch diese Mechanismen nicht geschützt zu fühlen. Auch wird oft von illegaler Aneignung der Sikh-Grundstücke durch staatliche Mitarbeiter berichtet. Laut Vertreter/innen dieser Minderheitenreligionen haben Gerichte Nichtmuslim/innen nicht dieselben Rechte wie Muslimen und Musliminnen zuerkannt und sie der hanafitischen Rechtsprechung unterstellt (USDOS 15.8.2017).

Auszug aus der ACCORD-Anfrage zu Afghanistan: Lage der Sikhs: Größe der Gemeinschaft, wirtschaftliche Situation, Diskrminierungen bzw Verfolgungshandlungen, Sicherheitslage der Sikh-Frauen, aktuelle Vorfälle vom 17. 7. 2018.

(..)

Frauen

Die vom Bundesverwaltungsgericht zitierte gutachterliche Stellungnahme von Dr. Sarajuddin Rasuly vom November 2016 enthält einen Absatz zur Lage der Sikh-Frauen in Afghanistan:

"[Die Sikh-Frauen] müssen sich seit Beginn der Herrschaft der Fundamentalisten, seit 1992 bis zur Gegenwart, wie die muslimische Frauen größere Kopftücher und Körperbedeckung tragen und sie gehen ohne männliche Begleitung nicht aus ihren Häusern. Wenn sie sich auf die traditionelle Gebiete, außerhalb der Großstädte, begeben, tragen sie teilweise auch Burqa, damit sie nicht angepöbelt und beschimpft werden. Außerhalb der Großstädte sind die Sikhs-Frauen derselben strengen Regeln verpflichtet, wie die muslimischen Frauen, sie in der Öffentlichkeit erscheinen." (BVwG, 15. Juni 2018)

Das britische Innenministerium (UK Home Office) zitiert in seinem Bericht vom Februar 2017 einen Bericht von Dr. Antonio Giustozzi, der mit 28. Februar 2015 datiert ist. Giustozzi schreibt in dem Bericht, dass die Sikh-Gemeinschaft fürchte, dass Frauen, die ihre Sikh-Bekleidung tragen, belästigt werden könnten, da diese nicht dem strengen islamischen Dresscode entspreche. Für Sikh-Männer sei es heutzutage undenkbar, dass sich ein weibliches Familienmitglied unbegleitet außerhalb des Hauses aufhalte.

(...)

In einem Artikel der englischsprachigen indischen Tageszeitung Hindustan Times vom August 2014 finden sich Informationen zu Frauen und Kindern der Sikhs. Über die Sikh-Frauen stellt der Artikel fest, dass diese nicht außer Haus gehen würden, da sie beleidigt und ausgelacht würden.

Das USDOS erwähnt in seinem Bericht, dass Frauen verschiedener religiöser Zugehörigkeiten über Belästigungen durch muslimische religiöse Führer auf Grund ihrer Kleidung berichtet hätten. Als Folge dessen hätten die Frauen laut eigenen Angaben in ländlichen Gebieten und in einigen urbanen Gebieten - einschließlich Kabul - in der Öffentlichkeit weiterhin Burkas getragen. Fast alle Frauen hätten berichtet, irgendeine Form von Kopfbedeckung zu tragen. Einige Frauen hätten gesagt, dass sie dies aus persönlicher Überzeugung tun würden. Viele hätten jedoch angegeben, es auf Grund von gesellschaftlichem Druck zu tun, und um Belästigungen zu entgehen und ihre eigene Sicherheit in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Das Ministerium für Hadsch und religiöse Angelegenheiten (MOHRA) und der Nationale Ulema-Rat hätten angegeben, dass es bezüglich der Kleidung keinen Druck von offizieller Seite auf Frauen gebe.

(....)

Die staatliche US-amerikanische Kommission für Internationale Religionsfreiheit (US Commission on International Religious Freedom, USCIRF), eine staatliche Körperschaft zur Beobachtung des Zustands der Meinungs- und Gewissens-, sowie der Religions- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem im April 2017 veröffentlichten Jahresbericht zur Religionsfreiheit (Beobachtungszeitraum Jänner 2016 bis Februar 2017), dass Frauen in Afghanistan in Gebieten unter Kontrolle der Taliban gezwungen würden, eine Burka zu tragen. 7/8 In Gebieten, die unter Kontrolle der Regierung seien, seien Frauen aufgrund von gesellschaftlichen Normen, die oft von Geistlichen durchgesetzt würden, mit Einschränkungen bezüglich ihrer Kleidung konfrontiert. Nichtmuslimische Frauen würden berichten, sie fühlten sich genötigt, Burkas oder andere Gesichtsschleier zu tragen.

(...).

Situation der Frauen in Afghanistan:

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o.D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen: Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).

Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in

den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

Reisefreiheit

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).

Rechercheergebnis der länderkundigen Sachverständigen vom 20. 10. 2019:

"Zur Durchführung der Recherchen bezüglich der Beschwerdeführerin, Frau XXXX , beauftragte ich zunächst meine in XXXX lebende Kontaktperson, Herrn XXXX , vor Ort in XXXX Informationen einzuholen. Herr XXXX fuhr in dieses Stadtviertel und befragte Bewohner der Sikh-Gemeinschaft. Viele der befragten Personen zeigten sich kooperativ und waren bereit, auf die Fragen von Herrn XXXX zu antworten. Zunächst wurde ein Herr, namens XXXX befragt. Dieser gab an, in XXXX geboren und aufgewachsen zu sein. Er sagte, dass er ein Gewürzgeschäft in der Stadt auf dem Großen Markt von XXXX führe. Herr Ma XXXX führte aus, dass es in XXXX nach wie vor eine Gemeinschaft der Hindus und Sikhs gibt. Allerdings sei die Einwohnerzahl dieser Gemeinde im Zuge des Krieges seit 1992 aufgrund von Auswanderungen massiv geschrumpft. Er gab an, dass es in Kabul einen Rat der Sikh- und Hindu- Gemeinde gebe, welcher die Sikhs und Hindus auf staatlicher Ebene vertrete.

Befragt nach Frau XXXX und deren Vater XXXX , gab Herr XXXX an, dass er Herrn XXXX nicht persönlich kannte und riet meiner Kontaktperson, mit dem Vater von Herrn XXXX zu sprechen, da dieser ihn kennen könnte. Herr XXXX ergänzte informativ, dass die Minderheiten untereinander zerstritten sei und er zur Meidung von gröberen Konflikten nicht allzu sehr mit der Sikh- Community in Kontakt stehe, sondern sich vielmehr um das Geschäft und seine alten Eltern kümmere. Er fügte hinzu, dass er über Frau XXXX ebenfalls keine Angaben machen könne, da die Frauen in der afghanischen Sikh-Gemeinschaft nicht mit fremden Männern bekannt gemacht werden und diese meist sehr zurückgezogen leben.

Herr XXXX und Herr XXXX vereinbarten ein Treffen mit dem Vater des Herrn XXXX im Geschäft in XXXX . Der Vater der befragten Person zeigte seine Bereitschaft, die Fragen zu beantworten.

Der Vater von Herrn XXXX begann zunächst von sich aus über die Situation der Sikhs in Kabul zu sprechen. Er bestätigte die Aussage seines Sohnes, indem er angab, dass es innerhalb der Sikh-Gemeinde Konflikte gebe. Er ergänzte, dass es ein "Komitee des Haupttempels Kart-e Parwan" gebe, das für die Aufrechterhaltung des Tempels, für die Strom- und Wasserversorgung, sowie für die Sicherstellung von Brennholz für die Bestattung der Toten im Holzfeuer, zuständig sei. Befragt nach dem Vater von Frau XXXX , dem Herrn XXXX , gab der befragte ältere Herr an, diesen Namen gehört zu haben, jedoch nicht wisse, um wen genau es sich dabei handle. Er ergänzte, dass es jemand sein könnte, der im Zuge der großen Auswanderung der Sikh- und Hindu- Minderheit, die im Jahr 1992 nach der Machtübernahme durch die Mujaheddin und dem Beginn des Bürgerkrieges stattgefunden habe, wie Tausende andere, ausgewandert sein könnte. Mit großem Bedauern erzählte der Vater des Herrn Manjeet, dass die Minderheiten - Gemeinden vor 1992 sehr wohlhabend gewesen seien und Villen in Kart-e Parwan besessen haben, diese jedoch im Zuge des Bürgerkrieges zerstört und geplündert worden seien. Befragt nach Frau XXXX , gab der befragte Herr an, dass er ein Mitglied der Gemeinde, die diesen Namen führe, nicht kenne, ergänzte jedoch informativ, dass die Sikh-Frauen im Allgemeinen keine Kontakte zu Männern der Gemeinde pflegen, sehr wohl sich aber die Frauen untereinander treffen. Herr XXXX bat den befragten Herrn, seine Frau zu fragen, ob diese eine Frau XXXX oder deren Mutter Frau XXXX kannte. Nach einiger Zeit wurde Herr XXXX von Herrn XXXX angerufen und darüber informiert, dass auch seine Mutter niemanden mit den beiden genannten Namen kenne.

Herr XXXX befragte überdies noch weitere Sikh-Bewohner in Kart-e Parwan, die in der Umgebung des Tempels lebten, aber auch Verkäufer der Stoff - und Gewürzgeschäfte im Stadtteil Mandai. Manche der befragten Personen kooperierten nicht, andere wiederum beantworteten die gestellten Fragen entsprechend ihres Wissensstandes. Die meisten von ihnen gaben an, einen Herrn XXXX und dessen Tocht

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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