Entscheidungsdatum
30.03.2020Norm
AsylG 2005 §11Spruch
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX auch XXXX geboren am XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 26.11.2015 in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung am 27.11.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu an, dass er aus der Provinz Takestan stamme, Paschtune sei und zuletzt in der Provinz Paktia gelebt habe. Er sei verheiratet und habe zwei Söhne und zwei Töchter. Er habe Afghanistan verlassen, weil er bei der afghanischen Polizei gearbeitet habe. Selbst nachdem er diese Tätigkeit beendet habe, sei er weiterhin von den Taliban bedroht worden. Seine Familie und er seien in Gefahr. Der BF legte seine Tazkira in Kopie vor.
Am 23.01.2018 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu. Er sei in Pakistan geboren und habe bis zu seinem 12. Lebensjahr dort gelebt. Seine Familie stamme jedoch aus der Provinz Paktia. Er habe sechs Brüder und vier Schwestern. Nach seiner Tätigkeit bei der Regierung habe er einen Laden aufgemacht, dies in der Hoffnung, dass die Taliban ihn in Ruhe lassen würden. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen, weswegen er gezwungen gewesen sei, aus Afghanistan zu fliehen. Der BF legte eine Reihe von Unterlagen vor.
Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG (Spruchpunkt III.), erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).
Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass festgestellt habe werden können, dass der BF in der Provinz Paktia Probleme mit den Taliban gehabt habe. Er unterliege keiner Verfolgung durch staatliche Organe. Eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Paktia sei nicht möglich, er könne jedoch in die Provinz Balkh, genauer in die Stadt Mazar-e Sharif zurückkehren. Es bestehe kein schützenswertes Familien- oder Privatleben in Österreich, weswegen eine Rückkehrentscheidung zulässig sei und kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde. Die Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig.
Der BF erhob mit Eingabe vom 08.05.2018, bevollmächtigt vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie-Volkshilfe, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass der Bescheid vollinhaltlich angefochten werde. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geblieben, die Länderfeststellungen seien mangelhaft. Die belangte Behörde habe unrichtige Feststellungen getroffen, auch die rechtliche Beurteilung sei unrichtig. Aufgrund der von den Taliban ausgehenden Bedrohungen hätte die belangte Behörde dem BF internationalen Schutz zu gewähren gehabt. Eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative stehe dem BF nicht zur Verfügung. Jedenfalls würden die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes vorliegen, eine Abschiebung nach Afghanistan würde daher eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Eine Rückkehrentscheidung sei auf Dauer für unzulässig zu erklären.
Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 22.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) in der Gerichtsabteilung W210 ein.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 19.09.2019 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W210 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugeteilt.
Aus dem vom BVwG am 20.02.2020 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass der BF in Österreich strafrechtlich unbescholten ist.
Aus dem am selben Tag eingeholten GVS System ist ersichtlich, dass der BF seit 15.12.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.
Das BVwG führte am 26.02.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Der BF wurde im Beisein seiner Rechtsvertreterin, eines Vertreters der belangten Behörde und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte eine Reihe von weiteren Integrationsunterlagen und eine umfangreiche Stellungnahme zu den Länderinformationen vor.
Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 13.11.2019, die UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, die EASO Guidelines Afghanistan vom Juni 2019, das ecoi.net Themendossier zu Afghanistan vom 15.01.2020 und den Landinforeport zu Afghanistan "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Feststellungen zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der BF führt den Namen XXXX , er ist am XXXX in XXXX in Pakistan geboren. Er ist afghanischer Staatsbürger, Paschtune und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der BF ist Mitglied des paschtunischen Stammes XXXX . Er spricht auch Dari, Urdu, etwas Farsi und etwas Deutsch. Der BF ist gesund.
Sein Vater heißt XXXX , er ist Landwirt. Seine Mutter heißt XXXX , sie ist Hausfrau. Der BF hat vier Schwestern und sechs Brüder, welche in seinem Heimatdorf leben.
Der BF ist seit dem Jahr 2006 mit XXXX verheiratet. Der Ehe entstammen vier Kinder, die Söhne XXXX , er ist ca. 12 Jahre alt, und XXXX , er ist ca. sechs Jahre alt, und die beiden Töchter, XXXX , sie ist ca. neun Jahre alt und XXXX , sie ist ca. acht Jahre alt.
Die Familie des BF lebt im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Paktia im eigenen Haus der Familie. Ein Teil seiner Brüder arbeitet und diese sorgen für die Familie. Die Familie des BF besitzt Grundstücke im Ausmaß von ca. 80 Jirib, welche bewirtschaftet werden. Der BF hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie.
Der BF hat zwei Onkle väterlicherseits und elf Cousins in Paktia.
Der BF lebte bis zu seinem 12. Lebensjahr in Pakistan, danach ging er mit seiner Familie nach Afghanistan, genauer in das Dorf XXXX . Dort besuchte der BF zwei Jahre lang die Grundschule. Er arbeitete zweieinhalb Jahre lang bei einer Firma, welche Brunnen für PRT (Provincial Reconstruction Team) bohrt. Dort bediente der BF die Maschine, mit welcher man nach Wasser bohrt. Danach war der BF drei Jahre lang als normaler Soldat bei der ANA (Afghan National Army) in Kabul tätig. Er absolvierte zuerst seine Ausbildung im Ausbildungszentrum XXXX der ANA und bewachte danach die Hauptstraße des Bezirkes Baghram bis nach XXXX , das ist ein Stadtteil in Kabul. Nach Beendigung dieser Tätigkeit war der BF für zwei bis zweieinhalb Jahre als Privatangestellter bei einer Firma tätig, welche für ausländische Streitkräfte Waren zwischen Maidan Shahr, Ghazni, Paktika, Zabul und Kandahar transportierte. Der BF arbeitete bei dieser Firma als bewaffnete Eskorte. Danach war der BF ca. dreieinhalb Jahre lang Caterpillarfahrer bei einer privaten Firma, welche für die Regierung arbeitete, tätig. Danach arbeitete der BF für ca. 10 Monate seinen eigenen Lebensmittelladen in seinem Heimatdorf.
Der BF verließ im September 2015 Afghanistan, weil er von den Taliban mehrfach bedroht wurde. Es ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem BF von den Taliban im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen wird. Die staatlichen Behörden können dem BF weder in seiner Heimatregion noch in einem anderen Teil Afghanistans Schutz vor diesen Bedrohungen durch die Taliban bieten. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
1.2 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der BF stellte am 26.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im November 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit 15.12.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.
Er besuchte Deutschkurse. Der BF leistete in der Zeit zwischen 2018 und 2020 laufend gemeinnützige Tätigkeiten für Asylwerber/innen für die Gemeinde XXXX .
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.3 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 13.11.2019 (LIB), in UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019) und in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.3.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
1.3.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.3.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
1.3.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.1).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 17.1).
1.3.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).
1.3.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1). Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.3.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).
1.3.8. Provinzen und Städte
1.3.8.1. Paktiya/Paktia:
Paktia liegt im Osten Afghanistans. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken. In Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, lebt eine kleine schiitische Gemeinschaft, die Sadats (Sayyeds). Diese haben mit ihrem sunnitischen Nachbarn keine Konflikte. Außerdem leben in der Provinz größtenteils sunnitische Tadschiken. Die Provinz hat 601.230 Einwohner (LIB, Kapitel 3.26).
Sowohl die Taliban als auch das Haqqani-Netzwerk sind in gewissen unruhigen Distrikten der Provinz aktiv; in diesen Distrikten versuchen sie terroristische Aktivitäten gegen Regierungs- und Sicherheitsinstitutionen auszuführen. Die Provinz beherbergt viele ehemalige Mujahedin-Kommandanten, die Mitglieder der Harakat-e Enqelab-e Islami-e Afghanistan (The Islamic Revolutionary Movement of Afghanistan) sind. Auch al-Qaida versucht im Distrikt Barmal Fuß zu fassen, dieser wird vom Haqqani-Netzwerk beansprucht. Versuche des ISKP die Provinz Paktia einzunehmen blieben erfolglos. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch afghanische und ausländische Sicherheitskräfte. Es kamen dabei auch Zivilisten zu Schaden. Im Jahr 2018 gab es 428 zivile Opfer (152 Tote und 276 Verletzte) in der Provinz Paktia. Dies entspricht einem Rückgang von 13% gegenüber 2017. Die Hauptursachen für Opfer waren Selbstmord-/komplexe Angriffe, gefolgt von Boden- und Luftangriffen (LIB, Kapitel 3.26).
In der Provinz Paktia reicht eine "bloße Präsenz" in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.3.9. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten":
...
c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;
...
e) Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;
f) Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;
g) Kollaborateure des ausländischen Militärs - praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;
...
Außer den Personen der oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich fehlverhalten die Chance, Reue und Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen der Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Im Grunde steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein "Übeltäter" ist, und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können (Landinfo).
Die Taliban haben ein Netzwerk an Spitzeln in Afghanistan, allein in der Stadt Kabul sind drei verschiedene Taliban Nachrichtendienste nebeneinander aktiv. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Selbst die, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. Die Taliban behaupten, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, regelmäßig Berichte darüber zu erhalten, wer neu ins Land einreist (Landinfo).
In dem Maße, in dem das System der Taliban Gestalt annahm und ihre Verhaltenskodizes ausgefeilter wurden, wurden auch Regeln eingeführt, die vorschrieben, dass die Taliban Kollaborateure mindestens zweimal warnen mussten, bevor sie gegen sie vorgingen. Dieses Verfahren galt wohl ab 2009 oder 2010. Von der Regel ausgenommen sind lediglich "schlimme Kriminelle", wie führende Persönlichkeiten in der Regierung. Daher gilt folgendes Verfahren für das Vorgehen gegen einen bestimmten Kollaborateur:
1. Person identifizieren;
2. Kontaktdaten herausfinden (Adresse oder Telefonnummer);
3. Person mindestens zweimal warnen;
4. verhören und vor Taliban-Gerichte stellen;
5. Person auf die schwarze Liste setzen, wenn sie sich weigert, den Anordnungen der Taliban Folge zu leisten;
6. Günstige Gelegenheit abwarten, um zuzuschlagen.
Teil 4 wird ausgesetzt, wenn die Umstände Verhöre oder Inhaftierung nicht zulassen. So können die Taliban zum Beispiel in der Stadt Kabul normalerweise keine Verdächtigen oder Täter festnehmen, daher gibt es die beiden Alternativen, die Verdächtigen zu überwachen, bis sie Kabul verlassen und sie dann festzunehmen (die Taliban behaupten, 2015/16 350 solcher Festnahmen durchgeführt zu haben) oder die Mordkommandos zum Einsatz zu bringen, ohne den Umweg über ein Gerichtsverfahren (Landinfo).
Die praktische Durchführung von Schritt 6 hängt normalerweise von den Fähigkeiten des lokalen Verfolgungsteams ab, dessen Arbeitsauslastung und dem mit der Vollstreckung des 'Urteils' verbundenen Risiko. Eine geschützte Zielperson bzw. eine in einem Gebiet, das von den Behörden stark bewacht wird, könnte zwar für die Taliban wichtig sein, bei ihrer Liquidierung bestünde aber andererseits auch ein hohes Risiko, dass das Mordkommando die Operation nicht überlebt. Eine weniger wichtige Zielperson, die in einem leicht zugänglichen Gebiet mit guten Fluchtmöglichkeiten wohnt, könnte von den Taliban eher liquidiert werden, als eine bedeutendere, die besser geschützt ist. Die Nachrichtendienste der Taliban geben ihre Listen der Verdächtigen an die Militär-Kommission (im Falle der Quetta Shura, an den Schattengouverneur; im Falle der Miran Shah Shura an den Provinzverteter des Haqqani-Netzes) weiter, die dann darüber entscheidet, welche von diesen Personen auf die schwarze Liste gesetzt werden. Jeder nachrichtendienstlichen Abteilung in den Provinzen ist ein Team (Istakhbarati Karwan) zugeordnet, das in Absprache mit der Militär-Kommission Kollaborateure verfolgt. In den meisten Provinzen besteht das Team aus 20 Mitgliedern, ist aber an Orten wie Kabul größer. Die meisten Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verfolgung einer Zielperson werden von den Karwan ausgeführt, weitere Gefahr droht ihnen jedoch durch die Kontrollstellen der Taliban und deren Patrouillen in den Dörfern, die jeweils über Auszüge der Liste der Zielpersonen verfügen (Landinfo).
Obwohl die politische Führung der Taliban anscheinend großen Wert auf die von ihr eingeführten Regeln legt und will, dass sie eingehalten werden, geben die meisten Taliban zu, dass es immer noch willkürliche Hinrichtungen gibt. Gelegentlich nehmen die Taliban Hinrichtungen aus Wut wegen Luft- und Nachtangriffen auf sie vor. Da er nichts dagegen unternehmen kann, könnte ein Taliban-Kommandant einige der Dorfbewohner zu Sündenböcken machen, insbesondere, wenn man sie sowieso schon in Verdacht hatte, den Taliban gegenüber nicht loyal zu sein. Außerdem leidet die Informationsbeschaffung der Taliban, genau wie die ihrer Gegner - der afghanischen Regierung und der ISAF - unter Falschinformationen, die durch Fehden oder Vendetten motiviert sind (Landinfo).
Zumindest teilweise hat das Justizsystem der Taliban den Zweck, deutlich zu machen, dass ihre Bewegung einen Schattenstaat darstellt. Es liegt den Taliban daher viel daran, die Kontinuität zwischen der aktuellen Bewegung von Aufständischen und dem Taliban-Emirat von 1996-2001 zu betonen; tatsächlich bezeichnen sich die Taliban selbst immer noch als das Islamische Emirat Afghanistan. Daher gelten alle Urteile, die die Taliban für jegliches Verbrechen einmal gesprochen haben, immer noch weiter, einschließlich derer, die vor dem Fall des Emirates ergingen. Tatsächlich befinden sich, laut den Taliban-Quellen, auf der 15.000 Personen umfassenden schwarzen Liste, immer noch 3.000, die zu Zeiten des Emirats verurteilt wurden (die Gerichtsunterlagen wurden nach Pakistan geschafft, als das Emirat fiel). Es ist naheliegend, dass diejenigen, die den Urteilen der Taliban damals entgingen, sich im Ausland aufhielten, daher wurden recht viele dieser Personen (ca. 200) von den Taliban erst 2002-2016 gefasst (Landinfo).
Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr. (Landinfo)
2. Beweiswürdigung:
2.1 Zu den Feststellungen zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.
Die Feststellungen zu den Gründen des BF für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom BF vor der belangten Behörde und im Beschwerdeverfahren, insbesondere auf die in der mündlichen Verhandlung am 26.02.2020, getroffenen Aussagen.
Die Aussagen des Asylwerbers stellen, wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkennt, häufig die zentrale Erkenntnisquelle dar, die auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen ist. So ist das Vorbringen eines Asylwerbers als glaubhaft anzusehen, wenn es nachstehende Grunderfordernisse erfüllt:
1. Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Das Ergebnis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen.
2. Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
3. Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist u.a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen.
Als fluchtauslösendes Ereignis brachte der BF in allen seinen Einvernahmen in diesem Verfahren stets - auf Nachfragen ausführlicher - vor, dass er von den Taliban bedroht wird, weil er jahrelang als Soldat bei der ANA bzw. für Firmen arbeitete, welche die nach Ansicht der Taliban "Ungläubigen" unterstützen.
Auch die belangte Behörde glaubte dem BF sein Vorbringen, wie dies aus den Feststellungen des angefochtenen Bescheides ersichtlich ist (vgl. AS 263 "Es konnte festgestellt werden, dass Sie, im Falle Ihrer Rückkehr in Ihre Heimatprovinz Paktia, Probleme mit den Taliban bekommen könnten"). Das Vorbringen des BF ist auch für das BVwG glaubhaft, plausibel im Lichte der Länderinformationen, schlüssig und nachvollziehbar. Nachdem diese Feststellung unbestritten blieb, kann eine weitere Auseinandersetzung damit unterbleiben.
Die belangte Behörde begründete die Nichtzuerkennung des Status des International Schutzberechtigten im Wesentlichen damit, dass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Provinz Balkh, genauer in der Stadt Mazar-e Sharif offen stehe.
Entgegen der Ansicht der belangten Behörde geht das BVwG jedoch zum Ergebnis, dass der BF keine innerstaatliche Schutzalternative hat, dies aus folgenden Gründen:
Wie aus den zitierten Länderinformationen ersichtlich, verfolgen die Taliban jene Personen, die in deren Visier geraten sind. Der BF geriet unbestritten ins Visier der Taliban. Die Taliban haben in ganz Afghanistan ein Netzwerk an Spitzeln und Nachrichtendiensten, wie dies aus den Länderfeststellungen hervorgeht.
Es ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es den Taliban gelingen wird, den BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu finden und es sich herumsprechen würde, dass er von seiner Flucht zurückgekehrt ist und ihm bei einer Rückkehr in weiterer Folge Gewalt von Seiten der Taliban droht. Dies insbesondere aus dem Grund, weil die Ehefrau und die Kinder, auch die Eltern und Geschwister des BF nach wie vor in deren Heimatdorf leben. Es ist dem BF nicht zuzumuten, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht wieder Kontakt mit diesen aufzunehmen. Sobald der BF Kontakt mit seiner Familie hat, wird es sich schnell herumsprechen, dass der BF wieder in Afghanistan ist, und auch sein Aufenthaltsort wird nicht lange geheim bleiben (können). Auch wenn der belangten Behörde Recht zu geben ist, dass der BF als einfacher Soldat bei der ANA und Eskorte von Transporten für internationale Streitkräfte nicht in "High Level" Positionen tätig war, geht selbst die belangte Behörde, wie das BVwG auch, davon aus, dass der BF von den Taliban nach wie vor bedroht wird. Dass der afghanische Staat derzeit landesweit nicht in der Lage ist, den BF vor dieser Bedrohung hinreichend zu schützen, zeigt sich aus den Länderberichten, wonach die Taliban im gesamten Staatsgebiet wieder an Einfluss gewinnen und viele Teile des Landes unter ihrer Kontrolle haben.
2.2 Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Betreffend das Privatleben und insbesondere die Integration des BF in Österreich wurden dessen Angaben in der Beschwerdeverhandlung sowie die im gesamten Asylverfahren vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt. Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.
2.3 Zu den Länderfeststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Die Parteien des Verfahrens haben alle genannten Länderinformationen mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme vom erkennenden Gericht übermittelt bekommen und haben von diesem Recht auch teilweise Gebrauch gemacht. Die vom BF in seinen Stellungnahmen zitierten Länderinformationen finden Großteils Deckung in dem von der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erstellten Länderinformationen zu Afghanistan. Insoweit es hier Abweichungen zu den dieser Entscheidung zugrunde gelegten Länderinformationen gibt, wird dem entgegengehalten, dass diese Länderinformationen der Staatendokumentation auf dem aktuellen Stand sind, und alle, für das gegenständliche Verfahren wesentlichen Aspekte berücksichtigen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Gemäß § 3 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (in der Folge GFK) droht.
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht, oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Im Rahmen der asylrelevanten Fluchtgründe iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK stellt das Anknüpfungsmerkmal der soziale Gruppe einen Auffangtatbestand dar, der eine sachlich nicht gerechtfertigte Repression umfasst, die ausschließlich Personen betrifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen und die somit nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten, sei es, dass dieses Merkmal unabänderlich ist, sei es, dass diesem Merkmal eine dermaßen bedeutsame Funktion für die Identitätsstiftung oder Gewissensbildung zukommt, dass den Gruppenmitgliedern ein Verzicht auf dieses Merkmal nicht zugemutet werden kann (vgl. VwGH 20.10.1999, 99/01/0197; VwSlg. 17.225 A/2007, jeweils mwN; vgl. auch Art 10 Abs 1 lit d Statusrichtlinie).
Ein unabänderliches Merkmal, das den Verfolgungstatbestand der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfüllt, kann auch die Zugehörigkeit zu einem Familienverband darstellen (s. VfGH 20.2.2014, U1067/2012) und zwar unabhängig davon, ob die Zugehörigkeit zu einem Familienverband den Grund für eine Verfolgung von staatlicher Seite darstellt (s. etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 24.6.2004, 2002/20/0165) oder ob auf Grund der Angehörigeneigenschaft Verfolgung von privater Seite droht, der Staat aber nicht fähig oder willig ist, dem Verfolgten Schutz zu gewähren (s. etwa VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508; 16.12.2010, 2007/20/1490). Eine derartige asylrelevante Verfolgung ist gegeben, wenn eine Person auf Grund ihrer Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied verfolgt wird, dem seinerseits aus anderen Konventionsgründen, etwa wegen seiner politischen Gesinnung, Verfolgung droht, mithin die Verfolgung auf das Familienmitglied "durchschlägt" (vgl. zur so genannten Sippenhaftung etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508). Der Fluchtgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie kann aber auch dann erfüllt sein, wenn der einzige Grund für die Verfolgung einer Person ihre Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied ist, bei dem selbst entweder gar keine asylrelevante Verfolgung oder ebenfalls nur die Zugehörigkeit zum Familienverband als Anknüpfungsmerkmal iSd GFK vorliegt (vgl. VwGH 21.3.2007, 2006/19/0083 bis 0085 mwN; 4.3.2008, 2006/19/0358; 26.5.2009, 2007/01/0077; 16.12.2010, 2007/20/1490; vgl. auch Aleinikoff, Protected characteristics and social perceptions: an analysis of the meaning of 'membership of a particular social group', in: Feller/Türk/Nicholson [Hrsg.], Refugee Protection in International Law, 2003, 263 [306]).
Eine derartige Konstellation, in der die Angehörigeneigenschaft bei sämtlichen verfolgten Familienmitgliedern das einzige Anknüpfungsmerkmal iSd GFK ist, liegt vor, wenn sich die private Verfolgung auf Grund eines Verhaltens, das die Verfolger einem Familienmitglied anlasten, gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen Abstammung richtet (vgl. zur so genannten Blutrache VwGH 26.2.2002, 2000/20/0517; 22.8.2006, 2006/01/0251).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mehrfach mit dem im konkreten Fall relevanten Thema der Verfolgung durch die Taliban auseinandergesetzt und hat dazu folgende Kriterien im Hinblick auf die Asylrelevanz herausgearbeitet:
Nach den oben angeführten Länderberichten, insbesondere den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, denen nach der Rechtsprechung des VwGH besondere Beachtung zu schenken ist, gehört der BF zur Risikogruppe der "Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen."
Im gegenständlichen Fall geht die Unterstellung einer bestimmten politischen Gesinnung zwar nicht vom Staat aus, doch wäre eine solche Unterstellung seitens der Taliban, nämlich auf der Seite ihrer politischen Gegner zu stehen und sich damit gegen ihre Interessen zu stellen, ebenfalls von Bedeutung (vgl. dazu die Algerien betreffenden Erkenntnisse des VwGH vom 16.07.2003, 2000/01/0518; 22.08.2006, 2005/01/0728). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil auf Grund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256, VwGH 14.05.2002, 2001/01/0140; siehe weiters VwGH 24.05.2005, 2004/01/0576, VwGH 26.02.2002, 99/20/0509).
Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Berichtslage zur Aktivität der Taliban und mit Blick auf die dem BF bereits widerfahrene Bedrohung die Taliban, ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF bei einer Rückkehr Bedrohung und Verfolgung erheblicher Intensität einerseits durch Taliban zu gewärtigen hätte. Es ist auch nach Lage des Falles davon auszugehen, dass der BF in seiner Heimatprovinz Paktia der erheblichen Gefahr ausgesetzt war und ist, von diesem Personenkreis verfolgt zu werden. Aus diesen Umständen ergeben sich gewichtige und konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer aktuellen, ausreichend wahrscheinlichen Verfolgung des BF von Seiten der Taliban.
Die Prüfung, ob es dem BF möglich wäre, angesichts der im konkreten Fall zu befürchtenden Eingriffe, die eine Verfolgung von privater Seite darstellt, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen bzw. ob der Eintritt des zu befürchtenden Risikos - trotz Bestehens von Schutzmechanismen im Herkunftsstaat - wahrscheinlich ist, ergibt im konkreten Fall, dass eine solche Wahrscheinlichkeit zu bejahen ist. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat vor dieser Bedrohung durch die Taliban ist angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates (kein funktionierender Polizei- oder Justizapparat; im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber bestehen keine effektiven Mechanismen zur Verhinderung der dem Beschwerdeführer drohenden Verfolgung) sowie der instabilen Sicherheitslage nur theoretischer Natur. Es kann vor diesem Hintergrund nicht davon gesprochen werden, dass der afghanische Staat derzeit in der Lage wäre, dem BF effektiven Schutz zu gewähren. Fallbezogen ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF angesichts des ihn betreffenden Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.
Die Möglichkeit, sich insbesondere der Bedrohung durch die Taliban durch Ausweichen in eine andere Region Afghanistans zu entziehen, besteht für den BF im gegenständlichen Fall ebenfalls nicht, da aufgrund des Umstandes, dass die Taliban laut den zitierten Länderinformationen auch in anderen Provinzen Afghanistans über entsprechende Netzwerke verfügen, wie bereits dargestellt, nicht angenommen werden kann.
Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit für den BF gegeben, liegt doch der Grund für die Verfolgung des BF jedenfalls wesentlich in der Zugehörigkeit zu jenem Personenkreis, welchem von den Verfolgern (Taliban) eine oppositionelle politische oder religiöse Gesinnung unterstellt wird.
Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (Artikel 1 Abschnitt D, F der GFK und § 6 AsylG) oder eines Endigungsgrundes (Artikel 1 Abschnitt C der GFK) ist nicht hervorgekommen.
Dem BF ist daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt einem Fremden, der seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 stellte, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen, oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter.
Der BF stellte den Antrag auf internationalen Schutz am 26.11.2015, somit nach dem 15.11.2015, daher wird dem BF von der belangten Behörde eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen sein.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung politische Gesinnung private Verfolgung staatlicher Schutz unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W261.2196030.1.00Im RIS seit
24.09.2020Zuletzt aktualisiert am
24.09.2020