TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/1 W102 2207914-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.04.2020
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Entscheidungsdatum

01.04.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W102 2207914-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Caritas, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 01.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.11.2018 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 29.12.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 30.12.2015 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, er habe sein Land wegen der schlechten Sicherheits- und Wirtschaftslage verlassen.

In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 16.05.2018 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass es in Afghanistan keine Sicherheit gebe, dort seien zuvor schon die Taliban gewesen, dann sei der IS dazu gekommen, in letzter Zeit seien immer öfter Anschläge gewesen, die Lage habe sich verschlechtert. Außerdem hätte er in Afghanistan ein freies Leben haben wollen, er wolle seine Frau selbst aussuchen und sei von den Brüdern des Vaters beschimpft worden, weil er nicht gebetet habe, er habe auch nicht beten oder fasten wollen, selbst wenn er Muslim sei. Er wolle ein richtiger Mensch sein und niemandem schaden. Er lebe seit zweieinhalb Jahren im Ausland und die Leute würden deshalb meinen, er sei nicht mehr Moslem, er würde gesteinigt werden. Seine Eltern seien nicht mehr in Afghanistan und er hätte keine Unterstützung. Er sei nicht in die Moschee gegangen und habe auch die Fastenzeit nicht eingehalten.

Am 01.06.2018 langte eine Stellungnahem des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer habe einen westlichen Lebensstil verinnerlicht und schon als Kind islamische Tradition und Regeln nicht befolgt, damals sei er jedoch klein gewesen und man habe Nachsicht mit ihm gehabt. Wenn er jetzt aus dem Westen nach Afghanistan zurückkehre und die islamischen Regeln wie täglich beten, fasten im Ramadan und die Freitagsgebete in der Moschee nicht achte, werde er Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Verstöße gegen islamische Vorgaben würden mit aller Härte geahndet. Er sei bereits in Afghanistan und im Iran nicht sonderlich religiös gewesen. Im Bundesgebiet sei er nie in der Moschee gewesen und habe nie mehr gebetet, das Konzept des Glaubens sei ihm fremd. Er sei Atheist. Er finde die Regeln des Islam zu streng und lebe seit seiner Ankunft in Österreich frei. Insbesondere das ungezwungene Verhalten gegenüber Frauen könne in Afghanistan zum großen Problem werden, er wolle sich mir Frauen normal unterhalten dürfen, ohne, dass diese Probleme zu befürchten hätten. Im Herkunftsstaat müsse er diesen verinnerlichten westlichen Lebensstil ablegen und er wisse nicht, ob ihm das möglich sei. In Afghanistan habe der Beschwerdeführer keine Familie mehr, der Bruder des Vaters würde den Beschwerdeführer aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam nicht aufnehmen. Er würde als verwestlicht wahrgenommen werden. Ihm würde von den Taliban Ungläubigkeit unterstellt und drohe ihm deshalb jedenfalls religiöse Verfolgung. Er sei auch Minderheitsangehöriger. Staatlicher Schutz bestehe nicht und sei eine innerstaatliche Fluchtalternative ausgeschlossen. Die Sicherheitslage sei schlecht und seien landesweit jederzeit Kampfhandlungen möglich. Die humanitäre Situation sei prekär.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 01.10.2018, zugestellt am 04.10.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). XXXX .

3. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.10.2018 richtet sich die am 15.10.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde, in der ausgeführt wird, dem Beschwerdeführer drohe im Herkunftsstaat wegen seiner Ablehnung des Islam asylrelevante Verfolgung. Staatlicher Schutz bestehe nicht und fehle es dem Beschwerdeführer zur Gänze an familiärer Unterstützung und sozialen Anknüpfungspunkten vor Ort. Er würde in eine existenzbedrohende Lage geraten. Der Beschwerdeführer habe westliche Werte angenommen.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 27.11.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin, eine im Akt namentlich genannte Zeugin und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er glaube nicht mehr an den Islam und werde deshalb im Herkunftsstaat verfolgt im Wesentlichen aufrecht.

Am 27.12.2018 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 11.02.2020 übermittelte die belangte Behörde nach Aufforderung durch das Bundesverwaltungsgericht die Mitteilung des Lehrverhältnisses des Beschwerdeführers gemäß § 55a FPG.

Mit Schreiben vom 13.02.2020 brachte das Bundesverwaltungsgericht Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Stellungnahme des Beschwerdeführers langte am 03.03.2020 am Bundesverwaltungsgericht ein.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

* Lehrvertrag des Beschwerdeführers

* Pflichtschulabschlussprüfungszeugnis des Beschwerdeführers

* Bestätigungen und Zertifikate für Deutschkurse und andere Bildungsangebote

* Hilfeplanvereinbarung

* Medizinische Unterlagen

* Zahlreiche Empfehlungsschreiben

* Bestätigung über ehrenamtliche Arbeit des Beschwerdeführers

* Einige Zeitungsartikel

* Schulzeugnisse des Beschwerdeführers

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren im Jahr XXXX in XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er gehört keine Religionsgemeinschaft an. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Deutsch.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer lebte die ersten acht Jahre seines Lebens in Kabul, dann reiste die Familie in den Iran aus. Er hat im Herkunftsstaat und im Iran acht Jahre die Schule besucht.

Als der Beschwerdeführer etwa 13 Jahre alt war, kehrte die Familie wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus im Iran nach Kabul zurück. Die erneute Ausreise aus dem Herkunftsstaat erfolgte im Jahr 2015 Familienverband. Der Beschwerdeführer wurde unterwegs von seiner Familie getrennt und reiste alleine weiter. Die Familie verblieb im Iran. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seiner Familie.

Der Beschwerdeführer hat vor seiner Einreise in das Bundesgebiet nicht gearbeitet, er wurde von seinem Vater versorgt. Dieser war als Maurer tätig.

Die Familie des Beschwerdeführers bestehend aus seinen Eltern, einer jüngeren Schwester und einem jüngeren Bruder ist im Iran aufhältig. Zu ihnen besteht Kontakt.

Auch weitere Angehörige des Beschwerdeführers sind im Iran aufhältig, ein Onkel väterlicherseits lebt in Kabul.

Im Bundesgebiet hat der Beschwerdeführer die Schule, einige Deutsch- und andere Kurse besucht und den Pflichtschulabschluss nachgeholt. Seit April 2018 absolviert er eine Lehre als Einzelhandelskaufmann und besucht die Berufsschule. Zunächst lebte der Beschwerdeführer in einem Quartier für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, seit April 2018 lebt der Beschwerdeführer im Haushalt seiner "Pflegemutter". Er spielt außerdem in einem Fußballverein

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Herkunftsstaat im Jahr 2015 erfolgte aufgrund der schlechten Sicherheitslage. Die Entscheidung zur Ausreise traf der Vater des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer empfand bereits im Herkunftsstaat im Jugendalter eine Abneigung gegen gewisse religiöse Pflichten im Islam. So wollte er nicht fasten und beten und auch die Moschee nicht besuchen. Darüber geriet er auch mit seinem Onkel väterlicherseits in Konflikt.

Seit seiner Einreise in das Bundesgebiet haben sich die religiösen Zweifel des Beschwerdeführers intensiviert. Mittlerweile hat sich der Beschwerdeführer aus freier Überzeugung vom Islam abgewandt und lebt nicht nach den Regeln des Islam. Er besucht keine Moschee, lebt nicht nach den Regeln des Islam, trinkt Alkohol, isst Schweinefleisch und weigert sich, zu fasten und zu beten. Diese Lebensweise möchte er beibehalten.

Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen dem Beschwerdeführer Übergriffe von privater Seite sowie staatliche strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe, falls er sich zu seiner Abwendung vom Islam bekennt. Diese Gefahr besteht landesweit.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner Muttersprache ergeben sich aus den gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren. Auch die belangte Behörde legte diese Angaben des Beschwerdeführers ihrer Entscheidung zugrunde. Zur Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers siehe sogleich unter 2.2.

Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen beruht insbesondere auf den vorgelegten Bestätigungen. So brachte der Beschwerdeführer (neben anderen derartigen Belegen) eine Prüfungsbestätigung für die "interne IFS Deutschprüfung B1" (Beilage 3 zum Einvernahmeprotokoll vom 16.02.2018) in Vorlage. Diese ist zwar nicht geeignet, ein bestimmtes Niveau des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen festzustellen, allerdings ist in Zusammenschau mit den übrigen vorgelegten Unterlagen davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer Deutsch spricht. So ist dem Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung des Beschwerdeführers zu entnehmen, dass er im Fach "Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft" mit "Befriedigend (grundlegenden Allgemeinbildung" abgeschlossen hat (Beilage 3 zum Einvernahmeprotokoll vom 16.02.2018). Auch in den aktuellen mit Stellungnahme vom 03.03.2020 in das Verfahren eingebrachten Schulnachrichten ist der Beschwerdeführer im Fach "Deutsch und Kommunikation" mit der Note 3 bewertet. Sein Arbeitgeber attestiert dem Beschwerdeführer sich stetig verbessernde Sprachkenntnisse im Kontakt mit Kunden und Kollegen (Empfehlungsschreiben vom 16.11.2018, Beilage zum Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2018; Empfehlungsschreiben vom 28.02.2020, in Vorlage gebracht am 03.03.2020), wobei dies insbesondere aufgrund der Tätigkeit des Beschwerdeführers im Einzelhandel plausibel erscheint. Damit konnte festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Deutsch spricht.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

Die Feststellungen zum Lebenswandel des Beschwerdeführers im Iran und im Herkunftsstaat beruhen auf seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben.

Insbesondere erweist sich die Beweiswürdigung der Behörde zur "Schulzeit" des Beschwerdeführers (angefochtener Bescheid S. 96) als widersprüchlich und dient offenkundig lediglich der Konstruktion einer persönlichen Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers. So lässt es Behörde auch mit ihrer Feststellung "Sie sind eine unglaubwürdige Person." (angefochtener Bescheid, S. 14) dem Anschein nach an Sachlichkeit mangeln und offenbart (auch) an dieser Stelle, dass sie sich ergebnisorientiert auf die intendierte Abweisung des Antrages konzentriert, statt sich ergebnisoffen tatsächlich auf eine Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers einzulassen und ihre Entscheidung auf dieser Grundlage zu treffen.

So führt die Behörde zunächst aus, es werde nicht angezweifelt, dass der Beschwerdeführer eine achtjährige Schulbildung genossen habe und über Berufserfahrung verfüge (angefochtener Bescheid, S. 95), wobei in diesem Kontext nicht klar ist, ob die Behörde sich nun auf Berufserfahrung im Herkunftsstaat bezieht, oder auf die Lehre des Beschwerdeführers im Bundesgebiet. Im Gegensatz dazu sind auf der folgenden Seite die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Schulzeit plötzlich völlig unglaubhaft, weil der Beschwerdeführer angegeben habe, die Schule in Kabul besucht zu haben, obwohl er doch gleichzeitig von seinem achten bis zum 13. Lebensjahr im Iran aufhältig gewesen sei und hält dies für "völlig unmöglich". So könne der Beschwerdeführer maximal vier Jahre in Kabul zur Schule gegangen sein. Der Beschwerdeführer hätte, wenn er im Iran gelebt hätte - was die belangte Behörde im Übrigen zunächst auch für glaubhaft hält und feststellt (angefochtener Bescheid, S. 95) - wohl auch dort die Schule besucht. Auch sei unklar, was der Beschwerdeführer, wenn er die achte Klasse Ende 2014 abgeschlossen habe, bis zu seiner Ausreise gemacht habe (angefochtener Bescheid, S. 96). Es wird zwar vor dem Hintergrund der Reisebewegungen der Familie zutreffen, dass der Beschwerdeführer Teile seiner Schullaufbahn im Iran und Teile in Kabul absolviert hat, allerdings hätte die Behörde - wenn sie diese Details für so wichtig erachtet - die Einvernahme hinsichtlich der Schullaufbahn umfassender gestalten müssen, statt hinterher auf Grundlage von Spekulationen die persönliche Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers daraus zu konstruieren. Gleiches gilt im Übrigen für die Altersangaben betreffend die Familie des Beschwerdeführers. So ist zunächst kein Beweggrund ersichtlich, aus dem der Beschwerdeführer die Alterung seiner Angehörigen verschleiern, Namen und Verbleib jedoch gleichbleibend abgeben sollte. Zudem hätte der Beschwerdeführer konfrontiert mit dieser Verschleierung die einvernehmenden Beamten der Behörde vermutlich darauf hinweisen können, dass seine Angehörigen sehr wohl gealtert sind und dieser hätte die mutmaßlich in Vorbereitung der Einvernahme aus der Erstbefragung kopierten Angaben des Beschwerdeführers aktualisieren können. Hinsichtlich der ebenso zur Konstruktion der persönlichen Unglaubwürdigkeit herangezogenen Übergabe des Schleppers von EUR 300,- an den Beschwerdeführer ist die von der Behörde statuierte Widersprüchlichkeit nicht erkennbar. Zunächst handelt es sich bei der Methode, eine Schleppung über einen Gewährsmann des Schleppers im Inland nach Ankunft des Geschleppten am Ziel zu bezahlen, um ein bekannte Zahlungsmodalitäten. Dass diese Vorgehensweise auch gewählt werden könnte, um dem unplanmäßig von seiner Familie getrennten Beschwerdeführer Gelmittel zukommen zu lassen, ist nicht per se unplausibel. Der von der belangten Behörde in diesem Zusammenhang behauptete Widerspruch ist im Übrigen aktenwidrig. So hat der Beschwerdeführer nicht angegeben, der Vater habe dem Schlepper das Geld "nachträglich" zurückgezahlt (angefochtener Bescheid, S. 97), es ist viel mehr protokolliert "Mein Vater hat dies dann an den Schlepper zurück bezahlt" (Einvernahmeprotokoll, S. 7), wobei sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes aus dieser Formulierung im Kontext nicht zwingend eine Reihenfolge der Geldzahlungen ergibt. Weiter verfügte der Schlepper durchaus über eine Sicherheit, das Geld zurückzubekommen, so hatte er den damals minderjährigen Beschwerdeführer in seiner Gewalt.

Bei ihren Ausführungen, bei der angegebenen Rückkehr handle es sich um eine vorgetäuschte, um einen Fluchtgrund mit aktuellem Afghanistanbezug präsentieren zu können (angefochtener Bescheid, S. 97), übersieht die Behörde, dass der Beschwerdeführer sich auf einen Nachfluchtgrund stützt. Übergriffe im Herkunftsstaat sowie, dass er sich bereits im Herkunftsstaat endgültig vom Islam abgewandt hätte, hat der Beschwerdeführer gar nicht behauptet. Dagegen gab er bereits in seiner niederschriftlichen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.12.2015 an, die letzten beiden Jahre in Kabul gelebt zu haben (Erstbefragungsprotokoll, S. 3), wobei eine Rückkehr im Angesicht eines unsicheren Aufenthaltes im Iran, wie vom Beschwerdeführer angegeben, auch plausibel erscheint. Zudem ist die Beweiswürdigung der belangten Behörde auch in diesem Teil unschlüssig, nachdem sie zunächst beweiswürdigend ausführt, der Behauptung, dass der Beschwerdeführer in Kabul und im Iran gelebt habe, könne Glauben geschenkt werden und habe der Beschwerdeführer hier keine widersprüchlichen Angaben gemacht (angefochtener Bescheid, S. 95).

Folglich wurde der Lebenswandel des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat und im Iran auf Grundlage der plausiblen Angaben des Beschwerdeführers festgestellt und teilt das Bundesverwaltungsgericht die Einschätzung der belangten Behörde hinsichtlich der persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers nicht.

Den Verbleib seiner Angehörigen im Iran gab der Beschwerdeführer ebenso durchgehend und plausibel im Verfahren an, wobei er im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 nochmals den aufrechten regelmäßigen Kontakt bestätigte (Verhandlungsprotokoll, S. 4). Seither wurde anderslautendes Vorbringen nicht erstattet. Auch dass ein Onkel väterlicherseits in Kabul lebt, hat der Beschwerdeführer durchgehend angegeben und nochmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bestätigt.

Dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat (bzw. im Iran) nicht gearbeitet hat, hat er selbst angegeben und erscheint dies angesichts seines Alters und dem ebenso angegebenen Schulbesuches auch plausibel.

Die Feststellungen zum Lebenswandel des Beschwerdeführers im Bundesgebiet beruhen auf den in Vorlage gebrachten Bestätigungen des Beschwerdeführers sowie auf seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. So hat der Beschwerdeführer zahlreiche Kursbestätigungen, sein Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Zeugnis, seinen Lehrvertrag und einige Empfehlungsschreiben in Vorlage gebracht, die seine Angaben bestätigen. Die "Pflegemutter" des Beschwerdeführers taucht im Verfahren zudem wiederholt als Vertrauensperson auf, so war sie auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 anwesend. Pflegemutter ist lediglich deshalb unter Anführungszeichen gesetzt, weil der Beschwerdeführer zwischenzeitig volljährig ist, das enge Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner "Pflegemutter" soll dadurch jedoch nicht in Zweifel gezogen werden.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Feststellung zur Ausreise im Jahr 2015 aufgrund der schlechten Sicherheitslage sowie, dass die Ausreiseentscheidung vom Vater des Beschwerdeführers getroffen wurde, beruht auf den plausiblen Angaben des Beschwerdeführers im Lauf des Verfahrens, die er im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 nochmals bestätigte (Verhandlungsprotokoll, S.4). Auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 16.05.2018 gab der Beschwerdeführer an, die Ausreise sei erfolgt, weil die Lage sich verschlechtert habe (Einvernahmeprotokoll, S. 8)

Die Feststellungen zur religiösen Überzeugung des Beschwerdeführers bzw. deren Wandel beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers im Lauf des Verfahrens.

Zur von der belangten Behörde statuierten Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen Erstbefragung und Einvernahme, der Beschwerdeführer habe in der Erstbefragung lediglich allgemein über die schlechte Sicherheitslage gesprochen und dies als Grund für die Ausreise angegeben (angefochtener Bescheid, S. 97), ist auszuführen, dass der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde nicht behauptet hat, dass seine Abwendung vom Islam bereits im Herkunftsstaat (oder im Iran) erfolgt sei. So gab der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme am 16.05.2018 zwar an, er sei von den Brüdern des Vaters beschimpft worden, weil er nicht habe beten oder fasten wollen, auch wenn er Muslim sei (Einvernahmeprotokoll S. 8) und habe mit seinem Vater nicht zur Moschee gehen wollen (Einvernahmeprotokoll S. 9), er sei als Muslim geboren, weil seine Eltern Muslime seien (Einvernahmeprotokoll S. 8). Hierin zeichnet sich zwar eine ablehnende Haltung gegenüber gewissen islamischen Pflichten ab, was der Beschwerdeführer jedoch nicht behauptet, ist, dass er sich bereits im Herkunftsstaat (oder im Iran) endgültig vom Islam abgewandt habe. Auch im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 stellt der Beschwerdeführer den Wandel seiner religiösen Überzeugung nicht als Ereignis im Herkunftsstaat dar, sondern beschreibt lediglich eine gewisse Abneigung gegen manche Aspekte der Religion, die er bereits damals verspürt habe (Verhandlungsprotokoll, S. 4). Demnach konnte der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.12.2015 noch nicht angeben, dass er sich vom Islam abgewandt hatte und handelt es sich hierbei nicht um eine Steigerung des Fluchtvorbringens, wie die belangte Behörde vermeint. Insbesondere lag zwischen Erstbefragung am 30.12.2015 und niederschriftlicher Einvernahme am 18.05.2018 ein Zeitraum von immerhin zweieinhalb Jahren, der eine Weiterentwicklung religiöser Überzeugung durchaus erlaubt. Richtig ist, dass der Beschwerdeführer - wie auch die belangte Behörde beweiswürdigend anmerkt - in der Erstbefragung am 30.12.2015 etwa seinen Konflikt mit dem Onkel nicht erwähnt. Allerdings wurde der damals 15-jährige Beschwerdeführer ohne Beisein eines gesetzlichen Vertreters einvernommen und dauerte die Erstbefragung lediglich 45 Minuten. Dies deutet nicht darauf hin, dass dem damals minderjährigen Beschwerdeführer umfassend erklärt wurde, welche Angaben zum Fluchtgrund relevant sind. Dass ihm, der er bis dahin in Gesellschaften gelebt hat, in denen aufoktroyierte Treue Religionstreue Teil der Normalität ist, allenfalls nicht klar war, dass auch diesbezügliche Angaben relevant sein könnten, erscheint durchaus denkbar.

Zu den Zweifeln der belangten Behörde an der notwendigen geistigen Reife des Beschwerdeführers, dem sie "als 15-jähriger Knabe [...] Gedanken über ein freies Leben" (angefochtener Bescheid, S. 99) und 12-jährig "Gedanken [...], um sich dem Willen der Familie und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu widersetzen" (angefochtener Bescheid, S. 100) nicht zutraut, ist zunächst anzumerken, dass der österreichische Gesetzgeber Kindern bereits ab zehn Jahren die Einflussnahme auf Entscheidungen hinsichtlich ihrer religiösen Erziehung zugesteht. So ist gemäß § 2 Abs. 3 Bundesgesetz über die religiöse Kindererziehung 1985 bei Streitigkeiten der Eltern über die religiöse Erziehung das Kind zu hören. Gemäß § 5 leg. cit. kann das Kind gegen seinen Willen nicht in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden, wenn es das zwölfte Lebensjahr vollendet hat und steht dem Kind nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Nachdem beim Beschwerdeführer Hinweise auf eine verzögerte geistige Reifung nicht hervorgekommen sind und auch die Behörde nicht von derartigen Umständen ausgeht, ist wohl davon auszugehen, dass auch er, entgegen der Annahme der belangten Behörde, im Alter zwischen 13 und 15 bereits zur Reflexion religiöser Überzeugungen in der Lage war. Weiter entspricht eine Rebellion gegen den Willen der Familie und gesellschaftliche Gepflogenheiten entgegen der Einschätzung der belangten Behörde dieser Altersspanne der allgemeinen Lebenserfahrung nach durchaus. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht schilderte der Beschwerdeführer auch lebhaft die mit dem Lebensalter des Beschwerdeführers zunehmende strenge des Onkels väterlicherseits.

Seine letztendliche Abwendung vom Islam konnte der Beschwerdeführer schließlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 nachvollziehbar darlegen, wo er die Beweggründe für seine Abwendung vom Islam erläuterte und mit Überzeugungskraft die Veränderung in seinem Glauben schildert. Diese manifestiert sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch im Lebensstil des Beschwerdeführers im Bundesgebiet. So lebt der Beschwerdeführer mit seiner "Pflegemutter", einer nicht mit ihm verwandten österreichischen Staatsbürgern im gleichen Haushalt. Hierin zeichnet sich ein deutlicher Bruch mit den islamischen Traditionen des Herkunftsstaates ab. Zudem geht aus den in Vorlage gebrachten Empfehlungsschreiben klar hervor, dass er im Bundesgebiet umfassend vernetzt und sozial aktiv ist, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdeführer - nachdem er mit sozialer Ächtung wegen Missachtung des Islam nicht zu rechnen braucht - die von ihm dargelegte religiöse Überzeugung auch tatsächlich so leben kann und lebt, wie von ihm im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.11.2018 lebhaft geschildert (insbesondere Verhandlungsprotokoll, S. 7) und von seiner "Pflegemutter" in ihrem Schreiben vom 10.12.2018 beschrieben, wobei der Beschwerdeführer seine Ablehnung weiterhin konsistent insbesondere gegen religiöse Pflichten und Verbote (beten, fasten, Moscheebesuch, etc.) richtete. Damit bringt der Beschwerdeführer auch seine religiösen Kritikpunkte weiterhin gleichbleibend vor. Insgesamt kommt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer sich mittlerweile tatsächlich aus freier Überzeugung vom Islam abgewandt hat und - wie von ihm beschrieben - nicht nach den Regeln des Islam lebt und dies insbesondere auch beibehalten möchte.

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe von privater Seite sowie staatliche strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe droht, weil er sich vom Islam abgewandt hat, beruht auf der vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 13.02.2020 in das Verfahren eingebrachten EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 16.Individuals considered to have committed blasphemy and/or apostasy, S. 68 f.). Dieser ist zu entnehmen, dass Apostasie mit Todesstrafe, Haftstrafe oder Konfiskation von Eigentum bestraft wird und als schwere Straftat einzustufen ist. Verfolgungsfälle sind in den vergangenen Jahren dokumentiert. Atheisten könnten ihre Ansichten bzw. ihr Verhältnis zum Islam nicht offen kundtun, ohne dem Risiko von Sanktionen oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch die Familie sei betroffen. Gleiches berichtet im Wesentlichen auch das ebenso mit Schreiben vom 13.02.2020 vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, demzufolge in Afghanistan unter dem Einfluss der Scharia unter anderem für Apostasie die Todesstrafe droht (Kapitel 15. Todesstrafe) und wo auch von Strafen für Apostasie (für Männer gilt die Enthauptung als angemessene Strafe) berichtet wird (Kapitel 16. Religionsfreiheit, insbesondere Unterkapitel 16.5. Apostasie, Blasphemie, Konversion). Die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel 5. Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen, Buchstabe b) Konversion vom Islam und c) Andere Handlungen, die gegen die Scharia verstoßen, S. 72 f.) - mit Schreiben vom 13.02.2020 in das Verfahren eingebracht - berichten ebenso davon, dass der Glaubensabfall mit Todesstrafe geahndet werde. Neben der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung wird auch von gesellschaftlicher Ächtung, Gewalt durch Familienangehörige und andere Mitglieder der Gemeinschaft, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte berichtet. Die Berichte nehmen keinen Teil des Staatsgebietes davon aus, weswegen festgestellt wurde, dass die Gefahr landesweit besteht. Von derartigen privaten Repressionen berichtet auch das Länderinformationsblatt (Kapitel 16. Religionsfreiheit, Unterkapitel 16.5. Apostasie, Blasphemie, Konversion).

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den "EASO-Richtlinien" verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail oben erfolgt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zum Fluchtvorbringen einer asylrechtlich relevanten Verfolgung wegen Apostasie

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person unter anderem, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Religion verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

Nach § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

§ 3 Abs. 2 AsylG 2005 ist Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes Abl L 337/9 vom 20.12.2011 (Statusrichtlinie), nachgebildet. Nach Art. 5 Abs. 2 Statusrichtlinie kann die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen seines Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

Der Verfassungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass asylrelevante Verfolgung gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Aktivitäten beruhen kann, die der Fremde seit dem Verlassen des Herkunftsstaats gesetzt hat (VfGH 12.12.2013, U 2272/2012).

Auch der Verwaltungsgerichtshof hat bereits erkannt, dass diese neuen Umstände, mit denen ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung nunmehr begründet, grundsätzlich zur Asylgewährung führen können. Sie sind daher zu überprüfen, wenn sie geeignet sind, die Annahme "wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung" zu rechtfertigen (VwGH 18.09.1997, 96/20/0323).

Der Beschwerdeführer macht mit seinem Fluchtvorbringen einer Abkehr vom Islam im Bundesgebiet einen subjektiven Nachfluchtgrund im Sinne der oben zitierten Bestimmungen und Judikatur geltend. Schon deshalb laufen die Ausführungen der belangten Behörde, denen zufolge sich aus den Angaben des Beschwerdeführers keine asylrelevanten Fluchtgründe ergeben würden, weil es nie eine Verfolgung gegeben habe, ins Leere. Zudem kommt es für die Asylgewährung nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Nicht zwingend erforderlich ist, dass der Betroffene bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde ("Vorverfolgung"). Entscheidend ist, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (zuletzt VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274).

Nach dem gemäß § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG unmittelbar anwendbaren Art. 10 Abs. 1 lit. b) Statusrichtlinie umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Geschützt ist demnach die Entscheidung aus innerer Überzeugung religiöse zu leben, aber auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jegliche religiöse Betätigung zu unterlassen (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht. § 3, K40).

Auch der Verwaltungsgerichtshof hat zum Religionsbegriff der GFK unter Verweis auf die oben zitierte Bestimmung der Statusrichtlinie bereits ausgesprochen, dass dieser auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395).

Asylrelevant kann demnach nicht nur die Konversion zu einer anderen Religion sein, sondern auch die bloße Abkehr von einer Glaubensgemeinschaft, ohne sich hernach einer anderen Glaubensgemeinschaft anzuschließen.

Nach dem mit "Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" übertitelten Art. 10 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 202 vom 7.6.2016, S. 389-405, umfasst dieses Recht die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

Im Wesentlichen inhaltsgleich gewährt auch Art. 9 EMRK als in der EMRK gewährleistetes Grundrecht, die gemäß Art. 6 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

Nach diesen normativen Vorgaben (auch unter Berücksichtigung der bereits zitierten Bestimmungen der Statusrichtlinie) umfasst der Religionsbegriff des Art. 1 Abschnitt A, Z 2 GFK damit nicht nur die individuelle Glaubensfreiheit als Kern der Religionsfreiheit ("forum internum"), sondern auch das öffentliche Bekenntnis und die Freiheit zur Ausübung (bzw. Nichtausübung) der Religion ("forum externum"). Demnach ist es einem Asylwerber für den Rückkehrfall nicht zumutbar, seine innere Überzeugung verstecken zu müssen.

Damit verkennt die belangte Behörde mit ihren rechtlichen Ausführungen, denen zufolge es einem Atheisten zumutbar sei, den Schein zu wahren und sich ein wenig an die Traditionen der islamischen Glaubensgemeinschaft zu halten, die Rechtslage völlig.

In Bezug auf die asylrechtliche Relevanz von Konversionen setzt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur voraus, dass der Betroffene einen inneren Entschluss zum Glaubenswechsel gefasst hat (zuletzt VwGH 07.05.2018, Ra 2018/20/0186). Die bloße Behauptung eines "Interesses am Christentum" reicht zur Geltendmachung einer asylrechtlich relevanten Konversion zum Christentum nicht aus (VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0076).

Das Bundesverwaltungsgericht geht angesichts der bereits näher erläuterten Gleichstellung von theistischen, atheistischen und nichttheistischen Glaubensüberzeugungen durch die Statusrichtlinie und die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs von der Übertragbarkeit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs zur Konversion auch auf Fälle der bloßen Abkehr vom Glauben aus. Voraussetzung für die Asylrelevanz einer solchen Abkehr vom Glauben ist daher, dass diese aufgrund eines inneren Entschlusses erfolgt.

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass er sich aus freier Überzeugung vom Islam abgewandt hat, nicht in die Moschee geht, nicht nach den Regeln des Islam lebt, Alkohol trinkt und Schweinefleisch isst und sich weigert, zu fasten und zu beten. Wie ebenso festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt drohen dem Beschwerdeführer deshalb - wenn er seiner inneren Überzeugung im Herkunftssaat in seiner täglichen Lebensführung folgt und etwa seine Ablehnung des Islam kundtut - im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe von privater Seite sowie strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe wegen seiner Abkehr vom Islam. Damit konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass ihm im Sinne der oben zitierten Bestimmungen und Rechtsprechung im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung droht.

Es sind im Verfahren auch keine Asylausschlussgründe gemäß § 6 AsylG hervorgekommen.

3.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative

Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.

Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann.

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt bezieht sich die Gefährdung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Abkehr vom Islam auf das gesamte Staatsgebiet des Herkunftsstaates. Damit steht dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG nicht zur Verfügung.

3.3. Zur Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG

Zu Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 ist anzumerken, dass die Bestimmung nach § 75 Abs. 24 AsylG auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, nicht anzuwenden ist. Nachdem der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz am 29.12.2015 gestellt hat, kommt daher § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 zur Anwendung.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter hat somit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erfolgen. Auch gemäß § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 kommt dem Asylberechtigten eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung zu, ohne dass eine darüberhinausgehende Erteilung dieser Berechtigung vorzunehmen wäre (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

Dem Beschwerdeführer war daher spruchgemäß nach § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Ihm kommt damit unmittelbar kraft Gesetzes (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373) eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, die (vorerst) für drei Jahre gilt.

4. Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt in seiner rechtlichen Beurteilung der möglichen Asylrelevanz der Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam der unter A) zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge der Religionsbegriff der GFK auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395), wobei sich das Bundesverwaltungsgericht zusätzlich an der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Notwendigkeit des Vorliegens eines inneren Entschlusses bei Konversionen (etwa VwGH 07.05.2018, Ra 2018/20/0186, VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0076 und VwGH 29.05.2019, Ra 2019/20/0230) orientieren konnte. Ansonsten waren - insbesondere für die Frage, ob der Beschwerdeführer das Vorliegen einer inneren Glaubensüberzeugung glaubhaft machen konnte - beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich.

Schlagworte

Apostasie Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung Religionsfreiheit religiöse Gründe staatlicher Schutz Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W102.2207914.1.00

Im RIS seit

24.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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