Entscheidungsdatum
18.10.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2210157-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2018, Zl. 1089734108-151479425, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 02.10.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes des Stadtpolizeikommandos Linz am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Irak geboren und habe dort zuletzt in Bagdad gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, Moslem und ledig.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 25.09.2015 von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Istanbul sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und in der Folge auf dem Landweg nach Österreich verbracht worden.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, die Mieten im Irak wären sehr hoch und es gäbe keine Arbeit. Ständig sei es in der Nähe zu terroristischen Anschlägen kommen, er sei dabei aber nicht verletzt worden. Er habe im Irak keine Zukunft, er habe für den Kampf gegen den Islamischen Staat spenden müssen und es würden sich auch immer wieder Entführungen ereignen.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 11.04.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.
Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, einvernahmefähig zu sein und die arabische Sprache zu verstehen. Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, er bekenne sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung und sei Faili-Kurde. Seine Eltern wären mit ihm nach Österreich gereist und würden sich derzeit in Vöcklabruck aufhalten. Er habe auch einen Bruder und eine Schwester, beide lebten in Australien. Im Irak würden sich noch seine Onkel väterlicherseits in Bagdad bzw. der autonomen Region Kurdistan aufhalten.
Er selbst habe im Irak die Grundschule und eine weiterführende Schule besucht, diese jedoch nicht abgeschlossen. Nach dem Schulbesuch habe er zunächst bei seinem Vater als Schweißer und dann bis zur Ausreise auf dem Basar im Logistikbereich gearbeitet und Kartons manipuliert.
Den Irak habe er verlassen, da die Lage dort sehr schlecht sei und er nicht auf die Unterstützung eines Stammes in Anspruch nehmen könne. Er habe immer nur in Miete gelebt und sich kein Haus im Eigentum leisten können. Zuletzt habe sich nur einhundert Meter entfernt eine Explosion ereignet. Der Anschlag sei jedoch nicht gegen ihn gerichtet gewesen.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person aus, der Beschwerdeführer haben den Irak ausweislich seines Vorbringens aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlassen. Eine drohende individuelle Gefährdung liege nicht vor. Die Sicherheitslage stelle sich zwar als unzureichend dar, eine Rückkehr in den Herkunftsstaat sei dem Beschwerdeführer dessen ungeachtet möglich und zumutbar.
4. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 02.11.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht im Wege der gewillkürten Vertretung des Beschwerdeführers eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die Rückkehrentscheidung und den Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung aufzuheben bzw. dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilten. Eventualiter wird eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und die Festsetzung einer "möglichst langen Frist" für die freiwillige Ausreise begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer vor, die Faili-Kurden im Irak würden einem der Beschwerde beigeführten Bericht aus dem Jahr 2013 zufolge schon sehr lange unterdrückt und teilweise nicht als Staatsangehörige des Irak angesehen. Insbesondere das Regime von Saddam Hussein habe die Faili-Kurden verfolgt, da sich diese zum schiitischen Islam bekennen würden. Ihr Glaube werde ihnen auch in der autonomen Region Kurdistan angekreidet. Nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum wären Faili-Kurden von Isolierung und Erniedrigung betroffen und diskriminiert, sodass dem Beschwerdeführer die Existenzgrundlage entzogen sei. Er werde über die alltäglichen Benachteiligungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht berichten.
6. Die Beschwerdevorlage langte am 26.11.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
7. Das belangte Bundesamt setzte das Bundesverwaltungsgericht am10.05.2019 davon in Kenntnis, dass sich der Beschwerdeführer für eine freiwillige Rückkehr in den Herkunftsstaat angemeldet habe und die Übernahme der Heimreisekosten bewilligt werde.
8. Am 16.05.2019 wiederrief der Beschwerdeführer die Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr.
9. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.10.2019 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung der Beschwerdeführer aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak übermittelt und die Abgabe einer Stellungnahme freigestellt.
10. Das belangte Bundesamt übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht am 09.10.2019 eine Bestätigung der International Organization for Migration, wonach der Beschwerdeführer am 01.10.2019 das Bundesgebiet verlassen hat und freiwillig unter Gewährung von Rückkehrhilfe in den Herkunftsstaat zurückgereist ist. Am 10.10.2019 ging dem Bundesverwaltungsgericht eine Verständigung des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers zu, dass dieser freiwillig in den Herkunftsstaat zurückgekehrt sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer gehört der Minderheit der Faili-Kurden (Feyli-Kurden) an. Er wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort zuletzt gemeinsam mit seinen Eltern im Bezirk XXXX . Der Beschwerdeführer bekennt sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung, er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer ist gesund, er war nicht in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung.
Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule und die Mittelschule im Gesamtausmaß von zwölf Jahren, erlangte jedoch keinen Abschluss. Nach dem Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Erwerbsleben ein und erlernte zunächst den Beruf des Schweißers, den er gemeinsam mit seinem Vater ausübte. Zuletzt war er auf dem XXXX -Basar in seinem Heimatbezirk im Logistikbereich tätig und manipulierte Kartons mit Waren.
Die Eltern des Beschwerdeführers reisten gemeinsam mit diesem in das Bundesgebiet ein und stellten ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie kehrten am 15.05.2019 in den Herkunftsstaat zurück. Der Bruder des Beschwerdeführers und dessen Schwester leben den Angaben des Beschwerdeführers zufolge in Australien. Im Irak verfügt der Beschwerdeführer noch über vier Onkel väterlicherseits, von denen zwei in Bagdad und zwei in der autonomen Region Kurdistan leben. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Angehörigen in Kontakt.
Am 26.09.2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal von Bagdad ausgehend gemeinsam mit seinen Eltern in die Türkei. In weiterer Folge gelangte er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und von dort nach Österreich, wo er am 02.10.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 01.10.2019 hat der Beschwerdeführer freiwillig unter Gewährung von Rückkehrhilfe das Bundesgebiet verlassen und ist in den Irak zurückgereist.
Der Antrag der Eltern des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde im Instanzenzug mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.01.2019, L524 2210158-1/5E und L524 2210160-1/5E, abgewiesen. Die Eltern des Beschwerdeführers verließen das Bundesgebiet während des Revisionsverfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof freiwillig am 15.05.2019 und kehrten in den Irak zurück. Ihre gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.01.2019 erhobene Revision wurde daraufhin mit Beschluss vom 08.07.2019, Ra 2019/20/0081 bis 0082-11, wegen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses zurückgewiesen.
1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine individuelle Gefährdung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines schiitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsstaat aufgrund der schlechten Sicherheitslage und zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation.
1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
1.4. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder und arbeitsfähiger Mensch mit grundlegender Ausbildung in der Schule und mehrjähriger Berufserfahrung. Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
1.5. Der Beschwerdeführer hielt sich vom 02.10.2015 bis zum 01.10.2019 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, war Asylwerber und verfügte über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezog seit der Antragstellung bis zur Ausreise Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war in einer Unterkunft für Asylwerber in der Stadtgemeinde Vöcklabruck untergebracht. Der Beschwerdeführer war nicht legal erwerbstätig und verrichtete keine gemeinnützigen Tätigkeiten. Er verfügte über eine Einstellungszusage eines Umzugsunternehmens für eine nicht näher definierte Tätigkeit in diesem Unternehmen.
Der Beschwerdeführer hatte in Österreich seit der freiwilligen Rückkehr seiner Eltern am 15.05.2019 keine Verwandten und pflegte im Übrigen normale soziale Kontakte. Er war für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und im Bundesgebiet alleinstehend.
Der Beschwerdeführer legte am 21.12.2016 ein Prüfung über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau A1. Im Jahr 2017 besuchte von der Volkshochschule Oberösterreich organisierte Deutschkurse.
1.6. Der Beschwerdeführer verfügt über ein irakisches Ausweisdokument im Original (Personalausweis).
1.7. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.8. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten Quellen getroffen:
1. Aktuelle Ereignisse
20.05.2019: Am 13.05.2019 wurde bei der Explosion eines improvisierten Sprengsatzes im Ort Umm al-Masayed in der Provinz Ninawa ein irakischer Soldat getötet, drei weitere Soldaten wurden verletzt. Am 15.05.2019 und 16.05.2019 wurden in Kirkuk bei zwei Anschlägen von Kämpfern des Islamischen Staates sieben irakische Sicherheitskräfte getötet. Am 17.05.19 wurden bei zwei Bombenanschlägen in der Provinz Diyala, in dem umstrittenen Distrikt Khanaqin, zwei Zivilpersonen getötet.
Am 18.05.19 tötete die irakische Armee in der Provinz Salah ad-Din sechs Kämpfer des Islamischen Staates und zerstörte ihre Verstecke.
Am 19.05.2019 schlug in der hoch gesicherten sogenannten Grünen Zone in Bagdad eine Katjuscha-Rakete ein. Dem irakischen Militär zufolge habe es keine Verletzten gegeben. Die Straßen, die zur Grünen Zone führen, sollen kurzzeitig gesperrt gewesen sein. Erst im Dezember 2018 hatte die irakische Regierung die Grüne Zone wieder teilweise für den öffentlichen Verkehr freigegeben. Die Explosion ereignete sich inmitten erhöhter Spannungen zwischen den USA und dem Iran. Am 15.05.2019 hatten die US den Abzug aller bis auf unverzichtbarer Botschaftsmitarbeitenden aus der amerikanischen Botschaft in Bagdad und dem Generalkonsulat in Erbil angeordnet.
Nachdem mehrere Korruptionsfälle von der Sadr-Bewegung nahestehenden Geschäftsmännern bekannt wurden, kam es in mehreren Städten im Süd-Irak zu Protesten. Muqtada as-Sadr hatte zu Demonstrationen gegen Korruption aufgerufen. Neben friedlichen Kundgebungen sollen Demonstranten betroffene Büros und Geschäfte angegriffen haben. In Nadschaf schossen Wachmänner eines Einkaufszentrums auf die Demonstrierenden. Dabei wurden vier Personen getötet und weitere 17 verletzt. Irakischen Medien zufolge wurden in diesem Zusammenhang fünf Wachmänner verhaftet.
27.05.2019: Am 22.05.2019 wurden bei der Explosion einer Sprengfalle in der Provinz Ninawa ein Zivilist getötet und drei weitere verletzt. Sicherheitsquellen zufolge zielte die Sprengvorrichtung auf Bauern ab, die ihre Felder bebauen wollten. Am 22.05.2019 wurden bei einem Angriff des Islamischen Staates in der Provinz Salah ad-Din ein Polizist getötet und fünf weitere verletzt. Am 26.05.2019 wurden auf einem Markt in Rabia in der Provinz Ninawa fünf Menschen getötet und acht weitere verletzt, als eine Autobombe explodierte.
Am 26.05.2019 starb ein Mitglied der sunnitischen Miliz Hashd al-Ashairi, als eine Sprengvorrichtung am Straßenrand bei Ramadi in der Provinz Anbar explodierte.
In mehreren Provinzen kam es zur Verbrennung landwirtschaftlicher Flächen. Medienberichten zufolge soll der Islamische Staat Felder von Bauern angezündet haben, die nicht mit ihm kooperierten oder die geforderten Steuern nicht zahlten. Am 23.05.2019 soll sich der Islamische Staat in seiner Zeitung Al-Naba zur Brandstiftung in den Provinzen Kirkuk, Diyala, Ninewa und Salah ad-Din und in Provinzen in Syrien bekannt haben. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour. Das irakische Ministerium für Landwirtschaft richtete am 20.05.2019 einen Krisenstab ein.
Lokalen, kurdischen Medienberichten zufolge kam es in der Provinz Kirkuk vermehrt zu Spannungen zwischen kurdisch- und arabischstämmigen Irakern. Den Berichten zufolge sollen Kurden gezwungen worden sein, ihre Häuser zu verlassen. Der Gouverneur von Kirkuk wurde beschuldigt, die Räumungsverordnungen zu billigen. Am 20.05.2019 traf sich der irakische Premierminister Adel Abdul-Mahdi mit Vertretern der kurdischen Regionalregierung, um die Beziehungen der beiden Regierungen und die Lage in Kirkuk sowie die sichere Rückkehr von im Oktober 2017 vertriebenen Kurden zu besprechen.
03.06.2019: Am 30.05.2019 kam es im Zentrum von Kirkuk zu einer Reihe von Explosionen. Dabei wurden mindestens drei Menschen getötet und 16 weitere verletzt. Die Sicherheitskräfte entschärften zwei weitere Sprengvorrichtungen, bevor es zu Explosionen kam.
Lokalen Medienberichten zufolge erhielt der irakische Parlamentssprecher al-Halbousi einen Drohbrief. Grund für die Bedrohung sei seine Position als Vermittler in der Krise zwischen Washington und Teheran. Hinweise deuten darauf hin, dass die Drohung von Seiten der irakischen Hizbollah-Brigade ausging.
Der lokal bekannte Journalist und Leiter der irakischen Nachrichtenagentur Baghdad Today, Nabil Jassim, erhielt am 26.05.2019 Drohanrufe. Zuvor hatte die Nachrichtenagentur eine Reihe von Dokumenten veröffentlicht, welche die Korruption eines Politikers beweisen sollen. Die irakische Journalistengewerkschaft verurteilte die Bedrohungen und forderte in einer Stellungnahme das irakische Innenministerium zu Ermittlungen auf. Die irakischen Sicherheitsbehörden teilten in einer Stellungnahme mit, dass die Quelle der Drohanrufe unbekannt sei.
Der Parteivorsitzende der kurdischen Oppositionspartei "Neue Generation", Shaswar Abdulwahid, wurde gegen Kaution aus der Haft entlassen. Fünf andere Parteimitglieder sollen ebenfalls entlassen werden. Ein Gerichtsurteil steht noch aus.
17.06.2019: Am 06.06.2019 griffen IS-Kämpfer ein Dorf in der Provinz Salahuddin an und töteten zwei Zivilpersonen, zwei weitere wurden verletzt. Am selben Tag wurden bei einer Bombenexplosion nordöstlich von Mossul vier Feuerwehrleute verletzt. Am 08.06.19 wurden bei drei Anschlägen in der Provinz Kirkuk insgesamt acht Menschen getötet und verletzt. Bei einer Bombenexplosion in der Provinz Anbar wurde ein Polizist verwundet. In der Provinz Diyala starben infolge von Bombenexplosionen im Zeitraum vom 08.06.2019 bis 12.06.2019 mindestens zwei Zivilpersonen, mindestens eine weitere wurde verletzt. Am 11.06.2019 wurde bei einem Granatenangriff nordöstlich von Bagdad ein Angehöriger der Sicherheitskräfte getötet und vier weitere verletzt. Am 13.06.2019 wurden bei einem Selbstmordanschlag auf ein Spirituosengeschäft im Zentrum von Bagdad zwei Zivilisten verletzt. Am 15.06.19 wurden nordwestlich von Hilla zwei Angehörige der Popular Mobilization Forces (PMF) bei einer Autobombenexplosion verletzt.
Die irakische Armee startete am 16.06.2019 - unterstützt von der Bundespolizei (Federal Police) und den PMF - eine groß angelegte Militäroperation nordöstlich von Baquba, um Kämpfer des Islamischen Staates aufzuspüren.
Aufgrund schwerer Brände auf Weizen- und Gerstenfeldern in der Gegend um Sinjar, Provinz Ninawa, schätzungsweise flohen 700 Familien nach Mossul. Zwei Bauern seien ums Leben gekommen. Irakische Sicherheitskräfte machen Kämpfer des IS für die Brände verantwortlich. In der vorangegangenen Woche habe es auf landwirtschaftlichen Flächen in der Region mehrmals gebrannt.
Am 10.06.2019 wurde Nechirvan Barzani, Neffe des langjährigen Präsidenten Massud Barzani, als Präsident der Kurdischen Region-Irak vereidigt. Das kurdische Regionalparlament hatte Barzani vor zwei Wochen zum Präsidenten gewählt.
Anfang Juni 2019 verurteilte ein irakisches Gericht zwei weitere mutmaßliche IS-Kämpfer aus Frankreich. Irakischen Justizkreisen zufolge seien damit nun mehr als neun Franzosen wegen Mitgliedschaft in der Terrormiliz IS zum Tode verurteilt worden. Gegen die Urteile kann Berufung eingelegt werden.
24.06.2019: In Irak kommt es weiterhin zu Anschlägen. So wurde in der vergangenen Woche von Raketen-, Mörser- und IED-Angriffen insbesondere in den Provinzen Diyala, Ninive, Bagdad und Babil berichtet. Allein in Bagdad wurden am 21.06.19 bei einem Selbstmordanschlag auf eine schiitische Moschee im Distrikt Sadr City mindestens zehn Menschen getötet und mindestens 17 weitere verletzt.
In der Nähe der Stadt Basra schlug am Sitz mehrerer Ölkonzerne am 19.06.19 eine Rakete des Typs Katjuscha ein. Dabei wurden drei Menschen verletzt.
08.07.2019: Irakische Sicherheitskräfte starteten am 06.07.19 einen großangelegten Einsatz gegen den Islamischen Staat. Angaben des Generalleutnants Abdul Amir Rasheed Yarallah zufolge betreffe die Operation "Will of Victory" die Provinzen Anbar und die zentralen und nördlichen Regionen von Salah ad-Din und Ninawa. Im Fokus stehen die Provinzen an der Grenze zu Syrien. Der Einsatz werde mehrere Tage dauern.
15.07.2019: Laut Executive Order No. 37 der irakischen Regierung vom 01.07.2019 sollen die PMF-Militen (Hashd al-Shaabi) vollständig in die irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert werden. Die betroffenen Milizen haben bis zum 31.07.2019 Zeit, die Anordnung umzusetzen, z.B. durch Schließung der Milizenbüros. Formal unterstehen die PMF-Milizen seit 2016 der Befehlsgewalt des Premierministers.
Am 03.07.19 veröffentliche die irakische Nationale Journalistengewerkschaft ihre Bedenken gegenüber dem Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Journalisten in Basra. Ein Mitglied der Sicherheitskräfte hätte angekündigt, Journalisten verhaften zu lassen, die über nicht genehmigte Demonstrationen berichteten. Zuletzt sei mindestens ein Journalist des irakischen Senders al-Sumaria verhaftet worden. In Basra war es wie im vergangenen Jahr zu Protesten gegen die schlechte Versorgungslage, Arbeitslosigkeit und Korruption gekommen.
22.07.2019: Am 17.07.19 wurde ein türkischer Konsulatsmitarbeiter in einem Restaurant in Erbil erschossen. Ein irakischer Staatsbürger wurde ebenfalls getötet und ein weiterer erlag seinen Verletzungen. Die kurdische Regionalregierung bezeichnete den Vorfall als geplanten Terroranschlag. Am 20.07.2019 wurde ein Verdächtiger von kurdischen Sicherheitskräften verhaftet.
Der Direktor des Al-Jazeera Büros in Erbil, Ahmad al-Zawiti, soll laut einer Stellungnahme des Senders während der Berichterstattung vor Ort von Sicherheitskräften zusammengeschlagen worden sein. Der irakischen Beobachtungsstelle für Pressefreiheit zufolge wurden in diesem Jahr 139 Fälle von Verletzungen der Pressefreiheit in der KR-I dokumentiert.
Am 10.07.19 berichten kurdische Medien von einer bei einem Luftangriff der iranischen Revolutionsgarde getöteten Zivilistin. Zwei ihrer Brüder wurden bei dem Angriff verletzt. Medienberichten zufolge führt die iranische Revolutionsgarde gelegentlich Luftangriffe gegen kurdische Gruppen, wie die Demokratische Partei des Iranischen Kurdistans (PDKI), durch.
Am 12.07.19 kündigte der türkische Verteidigungsminister den Beginn der Militäroperation Claw 2 in der Autonomen Region Kurdistan an. Am 27.05.19 begann die Militäroperation gegen PKK-Stellungen mit Luft- und Bodentruppen. Dem türkischen Verteidigungsministerium zufolge wurden zwischen dem 27.05.19 und 15.07.19 mindestens 71 PKK-Kämpfer getötet. Laut Pressemitteilungen des irakischen Verteidigungsministeriums und der kurdischen Regionalregierung sind auch Zivilisten unter den Opfern.
2. Politische Lage
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat mit allen Merkmalen der Gewaltenteilung (AA 12.01.2019), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).
Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Am 002.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 02.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).
Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018). Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).
In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).
Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt. Im Führungsgremium der Kommission für die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen 2018 waren nur Schiiten, Sunniten und Kurden vertreten. Jeweils ein Turkmene und ein Christ waren nicht-stimmberechtigte Mitglieder. (AA 12.01.2019).
Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).
Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 12.01.2019). Die ethnische und religiöse Zusammensetzung der einzelnen Regionen des Irak ist aus der Grafik im Punkt Minderheiten ersichtlich.
Die infolge der Parlamentswahlen im Jahr 2018 neu gebildete Regierung von Ministerpräsident Adel Abdul-Mahdi steht unter erheblichem Druck, Reformen zu implementieren, die staatlichen Dienstleistungen zu verbessern und Korruption zu bekämpfen. Gleichzeitig muss der Sicherheitssektor umfassend reformiert werden. Milizen agieren zwar formell größtenteils unter dem Premierminister als Oberbefehlshaber, sind jedoch oftmals der verlängerte Arm politischer Akteure. Es besteht weiterhin enormer Bedarf an Stabilisierung, Wiederaufbau und Versöhnung in den vom IS befreiten Gebieten(AA 12.01.2019).
2.1. Parteienlandschaft
Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).
Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018). Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)
Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018). Die Gorran-Bewegung ist ihrem Anspruch, eine politische Erneuerungsbewegung zu sein, bislang nicht gerecht geworden, was auch die Verluste der Partei bei den sowohl nationalen als auch regionalen Parlamentswahlen in diesem Jahr erklären kann (AA 12.01.2019).
Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).
Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).
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Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al-Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen, die daraufhin angeordnet wurde, ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ 9.10.2018). Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers, des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken - eine Entwicklung, die einen Bruch mit den üblichen, schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer, konfessioneller und ethnischer Linien, darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).
Nach den Parlamentswahlen am 12. Mai wurde der von der Verfassung vorgeschriebene Prozess zur Regierungsbildung - wenn auch mit einigen Umwegen - abgeschlossen. Am 03.09.2018 konstituierte sich das neue Parlament, am 15.09.2018 wurde der Parlamentspräsident Mohammad al-Halbousi gewählt, am 02.10.2018 folgte die Wahl des Staatspräsidenten Barham Salih. Es dauerte bis zum 24.10.2018, bis sich die divergierenden politischen Akteure auf einen Kompromisskandidaten für das Amt des Regierungschefs einigen konnten. Der neue Ministerpräsident Adel Abdul-Mahdi wurde nach langwierigen Verhandlungen gemeinsam mit 14 Ministern vom Parlament bestätigt. Die Besetzung weiterer acht Ministerposten steht weiterhin aus (AA 12.01.2019).
2.2. Protestbewegung
Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).
Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).
3. Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich merklich verbessert, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde (AA 12.01.2019, CRS 4.10.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv und ist die Sicherheitslage regional unterschiedlich (CRS 4.10.2018).
Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz Willen auch der neuen Regierung nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig (AA 12.01.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.01.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es weiterhin zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).
Die im Folgenden dargestellte Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und ziviler Opfer ist im Kontext der Bevölkerungsanzahl eines Gouvernements zu sehen. Im Folgenden findet sich eine Tabelle mit Schätzungen der Bevölkerungszahlen der irakischen Provinzen (herausgegeben von der Republik Irak, mit Stand 2009):
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(Quelle: Republik Irak, zitiert bei UK HO 3.2017)
3.1. Islamischer Staat (IS)
Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 03.07.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 06.10.2018).
Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 04.10.2018; vgl. ISW 02.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 04.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Rückzugsgebiete des IS, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und wo sich IS-Kämpfer tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 06.10.2018). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).
Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 06.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.08.2018).
Der Islamische Staat (IS) ist im Irak weitestgehend auf Zellen von Aufständischen reduziert worden, die meist aus jenen Gebieten heraus operieren, die früher unter IS-Kontrolle standen, d.h. aus den Gouvernements Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din. Laut dem Institute for the Study of War (ISW) werden nur die Distrikte Shirqat und Tuz in Salahaddin, Makhmour in Erbil, Hawija und Daquq in Kirkuk, sowie Kifri und Khanaqin in Diyala als umkämpft angesehen (EASO 3.2019). Es kommt zu einer Rückbesinnung auf die Fähigkeiten der asymmetrischen Kriegsführung des Islamischen Staates (AA 12.01.2019). Das ganze Jahr 2018 über führten Kämpfer des Islamischen Staates Streifzüge nach Anbar, Bagdad und Salah ad-Din durch, zogen sich dann aber im Winter aus diesen Gouvernements zurück. Die Anzahl der verzeichneten Übergriffe und zivilen Todesopfern sank daher im Vergleich zu den Vormonaten deutlich ab (Joel Wing 2.1.2019).
Die folgende Karte des Institute for the Study of War (ISW) vom 16.04.2019 weist neben Unterstützungszonen des Islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien auch Gebiete aus, in denen Angriffe und Manöver vom IS ausgeführt wurden, sowie Gebiete, in denen Änderungen in der Vorgehensweise des IS beobachtet wurden. Weiters werden Gebiete, die sowohl von der kurdischen Regionalregierung als auch von der irakischen Zentralregierung für sich beansprucht werden (die sogenannten "umstrittenen Gebiete") dargestellt (in grau schattierten Linien):
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Nachdem der IS am 23.3.2019 in Syrien das letzte von ihm kontrollierte Territorium verloren hatte (ISW 19.4.2019), kündigte er Anfang April einen neuen Feldzug an, um den Gebietsverlust in Syrien zu rächen (Joel Wing 3.5.2019). Der IS vergrößerte so seine "Unterstützungszonen" [Anm. eine Kategorie des ISW für Gebiete, in denen der IS aktive und passive Unterstützung durch die lokale Bevölkerung lukrieren kann] im Irak und weitete seine Angriffe in bedeutenden Städten, wie Mossul und Fallujah, sowie in Kurdistan aus (ISW 19.4.2019). Neu wiederorganisierte IS-Zellen verstärkten ihre Operationen und Angriffe in den Gouvernements Anbar, Babil, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninawa und Salah ad-Din (UNSC 2.5.2019). Das führte zu einem starken Anstieg der Angriffe in der zweiten Woche des Monats April. So erfolgten alleine in der zweiten Aprilwoche 41 der im gesamten Monat verzeichneten 97 sicherheitsrelevanten Vorfälle. Danach gingen die Vorfälle jedoch wieder auf das niedrige Niveau der Vormonate zurück (Joel Wing 3.5.2019). Für Mai 2019 wurden im Zuge der Frühjahrsoffensive des IS wieder die höchsten monatlichen Angriffszahlen seit Oktober 2018 verzeichnet (Joel Wing 5.6.2019). Es gab tägliche Berichte über IS-Kämpfer, die Hit-and-Run-Angriffe auf Sicherheitspersonal und Infrastruktur sowie Entführungen und Tötungen von lokalen Beamten und Zivilisten in Gebieten mit massiven Sicherheitslücken durchführten - vor allem in den Wüstenregionen Anbars, nahe der Grenze zu Syrien, als auch in den umstrittenen Gebieten, in denen es "Lücken" zwischen den irakischen und kurdischen Truppen gibt (Rudaw 9.5.2019). Irakische Einheiten führten wiederholt Operationen in Rückzugsgebieten des IS durch (Rudaw 9.5.2019). Beispielsweise am 11.4.2019 in den Hamrin Bergen (ISW 19.4.2019; vgl. Kurdistan 24 11.4.2019) und am 5.5.2019 in den Gouvernements Anbar, Salahaddin und Ninewa (Xinhua 6.5.2019). Solche Operationen hatten jedoch nur begrenzten Erfolg, da sie die Operationsmöglichkeiten des IS nur geringfügig einschränkten. Eine große Herausforderung für die irakischen Streitkräfte besteht in Versäumnissen ihrer Geheimdienste. Unzureichende Ausbildung, Finanzierung, schlechte Kommunikation zwischen den Behörden des Sicherheitsapparats und damit einhergehend die mangelnde Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und zu nutzen, behindern die Aufklärungsarbeit (Rudaw 9.5.2019).
Einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2019 zufolge kontrolliert der IS immer noch zwischen 14.000 und 18.000 Kämpfer im Irak und in Syrien (UNSC 1.2.2019). Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums, unter Berufung auf Geheimdienstquellen, verfügt der IS noch über 20.000 bis 30.000 Angehörige - Kämpfer, Anhänger und Unterstützer - im Irak und in Syrien (USDOD 7.5.2019).
3.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 06.02.2018).
So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 06.10.2018).
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt, im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im dritten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak im dritten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 12.11.2018).
Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017).
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Für Dezember 2018 sind 155 zivile Todesopfer im Irak ausgewiesen. Im Jänner 2019 wurden von IBC 323 und im Februar 2019 271 getötete Zivilisten im Irak dokumentiert (IBC 3.2019).
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(IBC - Iraq Body Count (7.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 17.7.2019)
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(IBC - Iraq Body Count (7.2018): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 17.7.2019)
Der sich im Jahr 2018 bereits in der ersten Jahreshälfte abzeichnende Trend einer sich stetig verbessernden Sicherheitslage setzte sich bis zuletzt fort, was aus den untenstehenden Grafiken ersichtlich ist.
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(MOI - Musings on Iraq (12.2018): http://musingsoniraq.blogspot.com/2018/12/large-drop-in-violence-in-iraq-november.html, Zugriff 04.12.2018)
Im November 2018 wurde die geringste Anzahl ziviler Opfer im Irak seit sechs Jahren verzeichnet (UNAMI 3.12.2018). Im Dezember 2018 wurde neuerlich ein Rekordtief an Sicherheitsvorfällen registriert (Joel Wing 2.1.2019). Anfang 2019 ist diese Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wieder leicht angestiegen, wobei die Monate Jänner und Februar in etwa die gleichen Zahlen an Angriffen und Opfern aufweisen (Joel Wing 4.3.2019). Für März 2019 wurde die niedrigste, je vom Irak-Experten Joel Wing registriere Zahl von Sicherheitsvorfällen verzeichnet (Joel Wing 3.4.2019), im Lauf des Monats April 2019 99 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 105 Toten und 100 Verletzten. 36 Tote gingen dabei auf Funde älterer Massengräber im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im April auf 69 reduziert werden kann. Die meisten Opfer gab es in den Gouvernements Diyala und Ninewa (Joel Wing 3.5.2019).
Im Mai 2019 verzeichnet Joel Wing 137 sicherheitsrelevante Vorfälle, von denen 136 auf den Islamischen Staat (IS) zurückgehen (Joel Wing 5.6.2019). Bei einem dieser Vorfälle handelte es sich um einen Raketenbeschuss der "Green Zone" in Bagdad durch eine mutmaßlich pro-iranische Gruppe (Joel Wing 5.6.2019; vgl. DS 19.5.2019). Insgesamt wurden im Mai 163 Todesfälle und 200 Verwundete registriert, wobei 35 Tote auf einen Massengräberfund im Bezirk Sinjar in Ninewa zurückgehen (Joel Wing 5.6.2019).
Im Mai 2019 hat der Islamische Staat (IS) im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern zu erheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salahaddin - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und wegen lokalen Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019).
Im Juni 2019 wurden von Joel Wing 99 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet. Sechs Vorfälle werden proiranischen Gruppen zugeschrieben, die mutmaßlich wegen der Spannungen zwischen den USA und dem Iran ausgeführt wurden (Joel Wing 1.7.2019). Das irakische Militär und die Koalitionstruppen [Anm. die Truppen der von den USA geführten Koalition westlicher Staaten im Irak] führten eine Reihe von Angriffen gegen den IS durch, insbesondere im Gouvernement Anbar (ACLED 11.6.2019) und in den Hamrin Bergen (ISW 19.4.2019; vgl. Kurdistan 24 11.4.2019; Jane's 1.5.2019).
3.3. Sicherheitslage Bagdad
Die Provinz Bagdad ist die kleinste und am dichtesten bevölkerte Provinz des Irak, mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen während des Bürgerkrieges von 2006-2007 aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen.
Die Sicherheit der Provinz obliegt dem "Baghdad Operations Command", das auf Kräfte aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zurückgreifen kann. Daneben werden auch schiitische Milizen eingesetzt, deren Bedeutung als steigend beschrieben wird (OFPRA 10.11.2017).
Im Jahr 2016 verzeichnete die Provinz Bagdad noch immer die höchste Zahl an Opfern im gesamten Land. Die Sicherheitslage verbesserte sich jedoch, als die Zurückeroberung Mossuls begann. Während Joel Wing im Januar 2016 in Bagdad noch durchschnittlich 11,6 Angriffe pro Tag verzeichnete, sank diese Zahl zwischen April und September 2017 stark ab auf durchschnittlich 3 Angriffe pro Tag (OFPRA 10.11.2017; vgl. Joel Wing 8.7.2017, Joel Wing 4.10.2017). Seit 2016 ist das Ausmaß der Gewalt in Bagdad stetig zurückgegangen. Es gab einen Rückgang an IS- Aktivitäten, nach den Vorstößen der irakischen Truppen im Nordirak, obwohl der IS weiterhin regelmäßig Angriffe gegen militärische und zivile Ziele durchführt, insbesondere, aber nicht ausschließlich, in schiitischen Stadtvierteln. Davon abgesehen sind sunnitische Bewohner weiterhin der Gefahr von Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt. Die Bedrohung durch schiitische Milizen stieg ab dem Jahr 2013 an und erreichte im Jahr 2015 ihren Höhepunkt (OFPRA 10.11.2017).
Terroristische und politisch motivierte Gewalt setzte sich das ganze Jahr 2017 über fort. Bagdad war besonders betroffen. UNAMI berichtete, dass es von Januar bis Oktober 2017 in Bagdad fast täglich zu Angriffen mit improvisierten Sprengkörpern kam. Laut UNAMI zielten einige Angriffe auf Regierungsgebäude oder Checkpoints ab, die von Sicherheitskräften besetzt waren, während viele andere Angriffe auf Zivilisten gerichtet waren. Der IS führte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung durch, einschließlich Autobomben- und Selbstmordattentate (USDOS 20.04.2018).
Laut Joel Wing kam es im Januar 2018 noch zu durchschnittlich 3,3 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bagdad pro Tag, eine Zahl die jedoch bis in den Juni 2018 signifikant abnahm und auf durchschnittlich 1,1 Vorfälle pro Tag sank (Joel Wing 3.7.2018). Seit Juni 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad langsam wieder auf 1,5 Vorfälle pro Tag im Juli, 1,8 Vorfälle pro Tag im August und 2,1 Vorfälle pro Tag im September gestiegen. Diese Angriffe bleiben Routine, wie Schießereien und improvisierte Sprengkörper und konzentrieren sich hauptsächlich auf die äußeren südlichen und nördlichen Gebiete der Provinz (Joel Wing 6.10.2018).
Insgesamt kam es im September 2018 in der Provinz Bagdad zu 65 sicherheitsrelevanten Vorfällen. Damit verzeichnete Bagdad in absoluten Zahlen höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im ganzen Land (Joel Wing 06.10.2018). Auch in der ersten und dritten Oktoberwoche 2018 führte Bagdad das Land in Bezug auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle an. Wenn man jedoch die Größe der Stadt und die Einwohnerzahl bedenkt, sind die Angriffe selten (Joel Wing 09.10.2018 und Joel Wing 30.10.2018).
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(MOI - Musings on Iraq (9.2018): http://musingsoniraq.blogspot.com/2018/09/violence-remained-steady-in-iraq-august.html, Zugriff 04.12.2018)
In Bezug auf die Opferzahlen war Bagdad von Januar bis März 2018, im Mai 2018, sowie von Juli bis September 2018 die am schwersten betroffene Provinz im Land (UNAMI 1.2.2018; UNAMI 2.3.2018; UNAMI 4.4.2018; UNAMI 31.5.2018; UNAMI 1.8.2018; UNAMI 3.9.2018; UNAMI 1.10.2018). Im September 2018 verzeichnete UNAMI beispielsweise 101 zivile Opfer in Bagdad (31 Tote, 70 Verletzte) (UNAMI 1.10.2018).
Aufständische haben mittlerweile die meisten ihrer Ressourcen aus Bagdad abgezogen, einst das Hauptziel des Terrorismus (Joel Wing 4.3.2019). Im Dezember 2018 wurden 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zehn Toten (Joel Wing 2.1.2019) verzeichnet, bzw. 17 Tote und drei Verwundete (UNAMI 3.1.2019). Im Jänner 2019 wurden zwölf sicherheitsrelevante Vorfälle mit 13 Toten erfasst (Joel Wing 4.2.2019), im Februar dagegen nur noch sieben Vorfälle mit sieben Toten (Joel Wing 4.3.2019) und im März vier Vorfälle mit fünf Toten und fünf verletzten (Joel Wing 3.4.2019). Dabei handelte es sich meist um Schießereien/Schussattentate in den Vorstädten und Dörfern des Gouvernements (Joel Wing 4.3.2019). Der IS behielt jedoch eine latente Präsenz nördlich von Bagdad und begann damit seine Unterstützungszone weiter auszubauen (ISW 7.3.2019). Er verfügt in Bagdad und den Bagdad Belts über mehrere aktive Zellen (EASO 3.2019). Der nördliche "Bagdad-Belt" dient dabei als Transferroute von Kämpfern zwischen den Gouvernements Anbar, Salah ad-Din und Diyala, während das sogenannte "Dreieck des Todes" im südlichen Bagdad-Belt IS-Gruppen in den Gouvernements Anbar, Bagdad und Babil verbindet. Irakische Sicherheitskräfte (ISF) haben seit Dezember 2018 mehrere IS-Kämpfer an Kontrollpunkten entlang der Autobahnen, die das Gouvernement Babil mit Bagdad verbindet, festgenommen und im Februar 2019 180 Personen mit Verbindungen zum IS verhaftet (ISW 7.3.2019).
Laut Joel Wing ist Bagdad ist eine weitgehend vergessene Front des Islamischen Staates (IS). Seit Anfang des Jahres 2019 wurden dort wochenweise überhaupt keine terroristischen Aktivitäten verzeichnet (Joel Wing 3.5.2019). Der IS versucht jedoch wieder in Bagdad Fuß zu fassen (Joel Wing 3.5.2019) und baut seine "Unterstützungszone" im südwestlichen Quadranten der "Bagdad- Belts" wieder auf, um seine Aktivitäten im Gouvernement Anbar mit denen in Bagdad und dem Südirak zu verbinden (ISW 19.4.2019). Alle im Gouvernement Bagdad verzeichneten Angriffe betrafen nur die Vorstädte und Dörfer im Norden, Süden und Westen (Joel Wing 3.5.2019; vgl. Joel Wing 1.7.2019). Während es sich dabei üblicherweise nur um kleinere Schießereien und Schussattentate handelte, wurden im Juni, bei einem kombinierten Einsatz eines improvisierten Sprengsatzes mit einem Hinterhalt für die den Vorfall untersuchenden, herankommenden irakischen Sicherheitskräfte, sechs Soldaten getötet und 15 weitere verwundet (Joel Wing 1.7.2019).
Im April 2019 wurden zehn sicherheitsrelevante Vorfälle im Gouvernement Bagdad verzeichnet (Joel Wing 3.5.2019). Diese führten zu sieben Toten und einer verwundeten Person (Joel Wing 1.5.2019). Auch im Mai 2019 wurden zehn Vorfälle erfasst, mit 16 Toten und 14 Verwundeten. Ein weiterer mutmaßlicher Vorfall, eine Autobombe in Sadr City betreffend, ist umstritten (Joel Wing 5.6.2019). Im Juni gab es 13 Vorfälle mit 15 Toten und 19 Verwundeten (Joel Wing 1.7