TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/7 L519 1420541-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.08.2019
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Entscheidungsdatum

07.08.2019

Norm

AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L519 1420537-3/8E

L519 1420538-3/8E

L519 1420539-3/7E

L519 1420540-3/8E

L519 1420542-3/6E

L519 1420541-3/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

5.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

6.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. VEIT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 30.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1, § 8 Abs. 4, § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als "BF1" bis "BF6" bezeichnet), sind Staatsangehörige der Türkei und brachten nach rechtswidriger Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich am 13.09.2010 bei der belangten Behörde Anträge auf internationalen Schutz ein.

Die verheirateten BF 1 und 2 sind die Eltern der BF 3 bis 6.

I.2. Erstbefragt gab die BF 2 an, dass sie diverse Feinde gehabt habe, welche mehrfach gewalttätig ihr gegenüber geworden wären. Die anderen BF stützten sich im Wesentlichen auf die Fluchtgründe der BF 2.

I.3. In der Folge wurde amtswegig sowohl ein psychiatrisches als auch ein allgemeinmedizinisches Gutachten eingeholt. Das psychiatrische Gutachten ergab, dass die BF 2 an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit mittelgradiger depressiver Symptomatik leiden würde. Es bestehe im Falle einer Abschiebung eine nicht auszuschließende Gefährdung im lebensbedrohlichen Ausmaß. Es bestehe auch die Gefahr einer zunehmenden Suizidalität. Das allgemeinmedizinische Gutachten wiederum ergab, dass die Rücken- und Beinbeschwerden der Beschwerdeführerin mit den vorgebrachten Misshandlungen nicht in Verbindung gebracht werden konnten. Die Beschwerdeführerin würde aktuell an Übergewicht, an einer Verstopfungsneigung, an einer chron. rez. Lumboischialgie rechtsbetont (eine Kombination aus "Hexenschuss" und Schmerzen im Bereich der Lendenwirbel) und an geringgradigen Cox- und Gonarthosen beidseits (degenerative Erkrankung des Hüft- und Kniegelenks) leiden.

I.4. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.07.2011 wurden die Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde den BF der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) sowie unter Anwendung des § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12.07.2012 erteilt (Spruchpunkt III).

Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer ob der zahlreichen Widersprüche nicht glaubwürdig sei. Jedoch wurde vom Bundesasylamt festgehalten, dass die BF 2 derzeit noch in einem angespannten psychischen Zustand sei und alles darauf hindeute, dass sich dies vor dem Hintergrund der allgemeinen Situation in der Türkei dermaßen auswirken würde, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen würden, die einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung entgegenstehen würden. Aus diesem Grund wurde der Beschwerdeführerin der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Die befristeten Aufenthaltsberechtigungen wurden in der Folge mehrfach verlängert. Die BF stellten fristgerecht Anträge auf Verlängerung der letzten, bis 12.07.2018 befristeten Aufenthaltsgenehmigungen.

I.5. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies der Asylgerichtshof mit Entscheidung vom 31.05.2012 die Beschwerden gemäß § 3 AsylG hinsichtlich aller BF ab.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die BF 2, gemäß Feststellungen eine Türkin kurdischer Abstammung und alevitischen Glaubens in der Türkei einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt war.

Beweiswürdigend wurde vom Asylgerichtshof unter anderem festgehalten:

Die Beschwerdeführerin brachte vor dem Bundesasylamt und dem Asylgerichtshof vor, dass sie aus Angst vor den Feinden ihrer Familie die Türkei verlassen habe, zumal es insgesamt zu drei konkreten Vorfällen gekommen sei, wobei die Beschwerdeführerin zwei Mal ein ungeborenes Kind verloren habe und anlässlich des dritten Vorfalles sei versucht worden, sie zu vergewaltigen. Der Grund für die Übergriffe auf die Beschwerdeführerin sei, dass Dorfschützer ihren damals noch minderjährigen Bruder getötet hätten, worauf hin der Vater der Beschwerdeführerin seinerseits einen Dorfschützer getötet habe. In der Folge sei wiederum der Vater der Beschwerdeführerin von Dorfschützern umgebracht worden. Da alle Geschwister der Beschwerdeführerin das Land nach dem Tod des Vaters verlassen hätten und nur mehr sie und ihre Mutter zurückgeblieben seien, hätten die Dorfschützer die Beschwerdeführerin belästigt.

In den Eckpfeilern ihres Vorbringens machte die Beschwerdeführerin mehr oder weniger konsistente Angaben, wobei festgehalten werden muss, dass die Ausführungen die Vorfälle betreffend eher kurz, ohne Details und eher floskelhaft wiedergegeben wurden. Abgesehen davon verwickelte sich die Beschwerdeführerin in Widersprüche und Unplausibilitäten, die sie nicht aufzulösen vermochte.

Ganz allgemein ist es für den Asylgerichtshof nicht nachvollziehbar, wenn die Beschwerdeführerin ausführt, dass sie etwa 1998 das erste Mal aufgrund von Schlägen durch Dorfschützer ein Kinder verloren habe, in der Folge aufgrund dessen in die Stadt XXXX gegangen sei, jedoch in weiterer Folge erneut, ohne besonderen Grund, in das Heimatdorf zurückgekehrt sei. Bei dieser Rückkehr sei es jedoch nicht geblieben. Nachdem die Beschwerdeführerin neuerlich nach XXXX gezogen sei, sei sie nach einiger Zeit wiederum in das Heimatdorf zurückgegangen. Diese erneute Rückkehr ist auch deshalb nicht plausibel, zumal die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, dass sie nach dem Vorfall, als sie von Dorfschützern und einem Soldaten aus ihrem Heimatdorf in der Stadt XXXX derart in der Öffentlichkeit geschlagen worden sei, sodass sie wieder ein Kind verloren habe, in ihr Heimatdorf gefahren sei. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen der Beschwerdeführerin ist es nicht plausibel, dass eine Person, die durch Personen ihres Dorfes Misshandlungen ausgesetzt war, immer wieder in dieses Dorf zurückkehrt. Einem entsprechenden Vorhalt in der Beschwerdeverhandlung vermochte die Beschwerdeführerin auch nichts Qualifiziertes entgegenzusetzten, zumal sie ausführte, dass sie gedacht habe, dass sie im Dorf von ihrem Schwiegervater einen Rückhalt erhalten werde (VH-Protokoll S 8). Dies entbehrt jedoch jeglicher Logik, zumal der Schwiegervater schon 1998, als es zum ersten Vorfall gekommen sei, anlässlich dessen die Beschwerdeführerin ein Kind verloren habe, diese vor Übergriffen nicht zu schützen vermocht habe. Auch ist es nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin in ihr Heimatdorf zurückkehren sollte (erste Rückkehr), obschon ihr in XXXX nichts passiert sei. In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass es nicht plausibel erscheint, dass der Ehegatte der Beschwerdeführerin anlässlich seiner Asylantragstellung in Frankreich im Jahr 2003 - der Grund für die Rückkehr der Beschwerdeführerin ins Heimatdorf - kein Wort hinsichtlich der Probleme mit den Dorfschützern erwähnt hat, obschon er danach in der Beschwerdeverhandlung gefragt selbst ausführte, dass dies der Beweggrund für seinen Weggang aus der Türkei gewesen sei (VH-Protokoll S 15). Darüber hinaus ist es absolut nicht nachvollziehbar, dass der Ehegatte der Beschwerdeführerin, bei Wahrunterstellung der geschilderten damaligen Umstände, die Beschwerdeführerin nicht ins Ausland mitnimmt, sondern vielmehr ins Heimatdorf, wo die Feinde gewohnt hätten, zurückbringt.

Weiters war auffällig, dass die Beschwerdeführerin immer wieder versuchte, konkret gestellten Fragen in der Beschwerdeverhandlung auszuweichen, indem sie beispielsweise Kopfschmerzen ins Treffen führte, sobald Wiedersprüche vorgehalten wurden. Beispielsweises als vorgehalten wurde, dass ein zeitliches Loch zwischen dem ersten Weggang aus dem Heimatdorf und der Rückkehr dorthin bestehen würde. Auch war es im gesamten Verfahren fast unmöglich, ungefähre Zeitangaben - unabhängig vom jeweiligen Ereignis - von der Beschwerdeführerin in Erfahrung zu bringen.

Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin die behaupteten Vorfälle zwar immer gleich, teilweise sogar mit denselben Worten beschrieb, jedoch fehlt es diesen Ausführungen an Substanz. Beispielsweise wurde der erste Vorfall, anlässlich dem sie ihr erstes Kinder verloren habe, von der Beschwerdeführerin derart geschildert, indem sie Folgendes ausführte: "Das erste Mal als ich schwanger war und ich meiner Mutter Essen bringen wollte, haben sie mich unterwegs getroffen und mich geschlagen. Ich habe so mein erstes Kind verloren, ich war damals frisch verheiratet. Ich kann kein Datum nennen. Ich weiß nicht genau wann ich geheiratet habe. Gleich nach den Tod meines Vaters." oder "Ich wollte meiner Mutter Essen bringen. Ich wurde von Hinten geschlagen und dann fiel ich zusammen. Ich habe so mein Baby verloren. Nach diesem Vorfall hat mein Schwiegervater gesehen, dass wir in der Gemeinde nicht mehr leben können, er hat für uns in der Stadt XXXX eine Wohnung gekauft. Während dieser Zeit habe ich 2 Söhne und eine Tochter bekommen, ich hatte dort keine Probleme. Als ich meinen ältesten Sohn von der Schule in XXXX abholen wollte, war ich hoch schwanger, als ich mich auf den Weg zur Schule machen wollte, habe ich gesehen dass 2 Zivilisten und 1 Soldat von der anderen Familie in der Nähe meiner Wohnung waren. Ich war hoch schwanger ich konnte nicht weglaufen. Sie haben mich geschupst, ich bin hingefallen und sie haben gegen meinen Bauch getreten und gesagt, dass ich für ihre Familie mehr Feinde machen würde." (VH-Protokoll S 7).

In diesem Zusammenhang ist jedenfalls auch festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin diese Umstände völlig emotionslos dargebracht hat. Bei derart traumatischen Ereignissen ist jedoch davon auszugehen, dass Emotionen, in welcher Form auch immer, bei den Erzählungen sichtbar werden. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit mittelgradiger depressiver Symptomatik leidet, wobei im Gutachten als Trauma auslösend das letzte Ereignis, nämlich die Entführung, festgemacht wurde, so ist jedoch zu erwarten, dass die Verluste zweier Kinder detaillierter dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist auch festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin bisher kein einziges medizinisches Dokument aus der Türkei in Vorlage gebracht hat, obschon auf dessen Wichtigkeit bereits in den Einvernahmen vor dem Bundesasylamt hingewiesen wurde. Auch vermochte es die Beschwerdeführerin bei näherer Nachfrage in der Beschwerdeverhandlung nicht, genaue Angaben zu den Krankenhäusern, in denen sie in der Türkei aufgrund ihrer Verletzungen aufhältig gewesen sei, zu machen (VH-Protokoll S 12).

Hinsichtlich des letzten Vorfalles etwa sechs Monate vor der Ausreise aus der Türkei, bei welchen es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein soll, muss festgehalten werden, dass die Beschwerdeführerin selbst ausführte, dass es zu keiner Vergewaltigung gekommen sei. Abgesehen davon, ob vollendet oder nicht, stellt ein behaupteter Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung für sich genommen noch keinen asylrelevanten Anknüpfungspunkt dar. Hinsichtlich der behaupteten Verletzungen durch die Misshandlungen, Rücken- und Beinprobleme, wurde vom vom Bundesasylamt amtswegig bestellten Gutachter festgehalten, dass die Probleme im Rücken- und Beinbereich nicht mit den geschilderten Misshandlungen vereinbar seien. Weiters hätten auch keine Verletzungen am After festgestellt werden können. Aus diesem Grund ist es mehr als zweifelhaft, dass es tatsächlich zu einer derartigen Misshandlung gekommen ist. Abgesehen davon ist es für den Asylgerichtshof nicht nachvollziehbar, weshalb die Beschwerdeführerin derart gequält werden sollte. Dies deshalb, zumal die Beschwerdeführerin selbst ausführte, dass ihr Bruder etwa 1978/79 getötet worden sei, ihr Vater 1983 aus diesem Grund jemanden getötet habe und letztlich er selbst etwa 1997 umgebracht worden sei. Für den Asylgerichtshof ist nicht ersichtlich, aus welchem Motiv heraus die Beschwerdeführerin in den Blickpunkt dieser Personen geraten sein sollte, zumal sie selbst ausführte, dass sowohl ihr Vater als auch die Person, die ihren Vater getötet habe, jeweils mit einer Gefängnisstrafe bestraft worden seien. Auch die Beschwerdeführerin selbst vermochte es nicht, in diesem Zusammenhang eine plausible Erklärung darzutun, zumal sie diesbezüglich in der Beschwerdeverhandlung lediglich ausführte, dass diese Menschen unberechenbar und wild seien (VH-Protokoll S 11). Darüber hinaus ist auch festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin nicht einmal in der Lage war, ihre "Feinde" konkret zu beschreiben. Sie erging sich diesbezüglich in oberflächlichen Darstellungen, wie beispielsweise dass es viele Männer gewesen seien.

Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin als nicht glaubwürdig zu bewerten, zumal es für den Asylgerichtshof auch nicht nachvollziehbar ist, warum die Beschwerdeführerin nicht schon viel früher die Türkei verlassen hat. Danach gefragt meinte sie lapidar:

"VR: Warum haben Sie nicht schon viel früher die Türkei verlassen?

BF: Ich hatte keine Möglichkeit. Mir ist es in der Türkei auch gut gegangen.

VR: Sie haben 2 massive Vorfälle vorgebracht. Warum haben Sie nicht spätestens nach dem 2. Vorfall die Türkei verlassen?

BF: Was sollte ich tun, ich konnte nichts machen.

VR: 2006 haben sie das 4. Kind verloren, warum konnten Sie damals noch nicht ausreisen, aber 2010?

BF: In diesen 6 Monaten hat mein Mann für uns Geld besorgt bzw. unser Auto verkauft.

VR wiederholt die Frage.

BF: Mir ist es finanziell gut gegangen, ich hatte gehofft, dass sie mich in Ruhe lassen."

Abgesehen von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens der Beschwerdeführerin würde es sich bei der behaupteten Verfolgung um eine seitens Dritter handeln, zumal diese Handlungen, auch wenn es sich dabei tatsächlich um Dorfschützer bzw Soldaten gehandelt habe, nicht dem Staat zuzurechnen sind. Dass eine GFK relevanter Anknüpfungspunkt bestehen würde, konnte die Beschwerdeführerin überdies - wie bereits oben ausgeführt - nicht plausibel darlegen. Aus diesem Grund wäre das Vorgebrachte allenfalls unter dem Aspekt des Refoulementschutzes zu berücksichtigen, was im gegenständlichen Fall jedoch obsolet ist, zumal der Beschwerdeführerin aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.

Der Vollständigkeit halber muss noch darauf verwiesen werden, dass die Beschwerdeführerin auch hinsichtlich einer etwaigen Anzeige bei den türkischen Sicherheitsorganen unterschiedliche bzw unplausible Angaben gemacht hat. Vor dem Bundesasylamt führte die Beschwerdeführerin nämlich noch aus, dass sie sich nach allen drei Vorfällen an die Sicherheitsbehörden gewandt habe, diese sie jedoch nicht angehört hätten. In der Beschwerdeverhandlung führte sie hingegen aus, dass sie nur die Entführung angezeigt habe. Abgesehen davon ist es für den Asylgerichtshof auch nicht nachvollziehbar, wenn die Beschwerdeführerin ausführt, dass anlässlich des Vorfalles in XXXX Sicherheitsorgane zwar ins Krankenhaus gekommen seien und sie auch befragt hätten, jedoch hätten diese nichts gemacht bzw ihr gesagt, dass sie mit ihren Feinden leben müsse. Als Grund dafür nannte die Beschwerdeführerin den Umstand, dass alle Sicherheitsorgane zusammenarbeiten würden. Dies vermag jedoch den Asylgerichtshof nicht zu überzeugen.

Andere Gründe, vor allem eine Verfolgung von staatlicher Seite, wurden von der Beschwerdeführerin nicht dargetan. Auch wurden von der Beschwerdeführerin keine individuellen Schwierigkeiten aufgrund ihrer kurdischen Abstammung oder aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ins Treffen geführt. Obschon die Beschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung meinte, dass sie dem römisch-katholischen Glauben angehören würde, ist davon auszugehen, dass sie Alevitin ist, was jedoch am Ergebnis der Entscheidung ohnehin nichts zu ändern vermag.

Letztlich war noch festzuhalten, dass der entscheidende Senat im Laufe der Beschwerdeverhandlung den Eindruck gewann, dass vorrangiges Ziel der Beschwerdeerhebung der Umstand war, einen "Pass" zu erhalten. Diesbezüglich nachgefragt meinte die Beschwerdeführerin wortwörtlich:

"VR: Was erwarten Sie sich denn vom Status einer Asylberechtigten?

BF: Ich möchte etwas Besseres haben. Ich möchte einen Pass. Damit ich alles damit machen kann. Ich kann mit diesem Status jetzt nichts machen. Ich bin krank und mir geht es gesundheitlich nicht gut. Mit diesem Status kann ich nichts anfangen. Ich möchte einen Pass mit diesem Pass möchte ich alles machen."

Diesbezüglich ist zum einen festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin als subsidiär Schutzberechtigte die Möglichkeit hat, einen Fremdenpass zu erhalten, um damit ihre Geschwister im Ausland zu besuchen. Zum anderen ist in Bezug auf § 3 AsylG jedenfalls nicht darauf abzustellen, dass den Beschwerdeführern ihre Reisetätigkeit erleichtert wird.

I.6. Aus dem von der belangten Behörde nunmehr neu eingeholten medizinischen Gutachten vom 27.07.2018 geht hervor, dass bei der BF 2 keine neurologisch-psychiatrischen Erkrankung diagnostiziert werden konnte. Es wurde arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie festgestellt. Im Falle der Überstellung wären keine spezifischen Maßnahmen zu treffen und leide die BF 1 an keiner psychischen Erkrankung. Sie sei in der Lage, schlüssige und widerspruchsfreie Angaben zu tätigen. Es bestehe der Wunsch, in Österreich bleiben zu dürfen. Ein Auftreten einer Anpassungsstörung oder einer akuten Belastungsreaktion im Falle einer Überstellung in die Türkei sei nicht auszuschließen. Es bestehe jedoch nicht die reale Gefahr, dass die BF 2 aufgrund einer auftretenden psychischen Erkrankung in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät oder sich die Krankheit in lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtert.

Festgehalten wurde im Gutachten weiters, dass die aktuelle Medikation von der BF 2 nicht angegeben werden konnte und sie zwar behauptete, dass sie Medikamente einzunehmen habe, eine Medikamentenliste aber nicht vorlegen konnte. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht nehme sie aber keine entsprechende Medikation ein und sei auch deswegen nicht in Behandlung. Ungefragt gab die BF 2 im Gespräch im Zusammenhang mit ihrem Ehegatten an, dass es ihr psychisch gut gehe und wiederholte sie diese Angabe mehrfach. Vor dem Arzt vermeinte die BF 2, dass sie in der Heimat Blutrache ausgesetzt gewesen sei, die Gründe für die Blutrache kenne sie allerdings über Nachfrage nicht.

I.7. In der Folge wurden die BF 1 bis 5 am 24.09.2018 vor dem BFA zur beabsichtigten Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einvernommen. Die Einvernahmen wurden teilweise ohne Dolmetscher in Deutsch durchgeführt. Vorgelegt wurden Unterlagen zur Integration der BF, ein ärztliches Attest der Hausärztin hinsichtlich der BF 2 vom 25.09.2018, eine Überweisung an einen FA für Neurologie und Psychiatrie zur Befunderstellung, eine Terminbestätigung vom FA für Neurologie und Psychiatrie für den 17.10.2018 und die in Österreich ausgestellten Taufscheine der BF 2 bis 6.

Während der BF 1 unsubstantiiert davon sprach, in der Türkei von Übergriffen bedroht zu sein vermeinte die BF 2, dass sie als Christen in der Türkei einer Verfolgung ausgesetzt wären.

Die BF 2 gab an, in keinerlei Behandlung zu stehen und nur ganz am Anfang Medikamente bekommen zu haben. Da es ihr aber dann schlechter gegangen sei, habe sie die ihr verschriebenen Medikamente nicht eingenommen. Dann hätte ihr der Arzt auf ihren Wunsch hin keine Medikamente mehr verschrieben und ihr lediglich geraten, keine Orte aufzusuchen, welche sie an die Folterungen erinnern. Weitere Therapien habe sie nie erhalten. Sie nehme aktuell nur wegen der Zuckerkrankheit regelmäßig und wegen dem Cholesterin manchmal Tabletten. Sie warf jedoch mehrfach - ohne hierzu Beweise anzuführen - ein, immer noch unter Angstzuständen und Paranoia zu leiden.

I.8. Am 06.11.2018 und 28.11.2018 langten Mails des BF 3 beim BFA ein. Neben Ausführungen zur Integration wurde vorgebracht, dass die BF aus der Türkei fliehen hätten müssen, da sie Kurden wären. Zudem hätte die Familie erst in Österreich den christlichen Glauben ausüben und sich taufen lassen können.

I.9. Mit den nunmehr im Spruch genannten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der den BF mit Bescheiden vom 12.07.2011 zuerkannte Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) sowie die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurden keine Rückkehrentscheidungen ausgesprochen.

Begründend führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, der BF 2 sei der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund ihres Gesundheitszustandes zuerkannt worden. Die Kinder und der Ehegatte hätten von der BF 2 als deren Familienmitglieder denselben Schutz erhalten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten lägen jetzt nicht mehr vor.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, dass gemäß § 9 Abs 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen sei. Der Entzug der befristeten Aufenthaltsberechtigung gehe damit einher. Den BF sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

I.10. Gegen die ordnungsgemäß zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richten sich die fristgerecht eingebrachten Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht.

In diesen wird beantragt, ein ergänzendes Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen über die drastische Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der BF 2 seit der Einvernahme am 24.09.2018 einzuholen und eine Person namens XXXX einzuvernehmen. Dem neuen Gutachten sei zu Unrecht gefolgt worden, vielmehr hätte dem zeitlich aktuelleren Attest der Hausärztin gefolgt werden müssen. Zudem sei die Sicherheitslage in der Türkei nicht entsprechend berücksichtigt worden. Die Feststellungen, dass die BF aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit sowie hinsichtlich ihrer Konversion zum Christentum keiner Verfolgung ausgesetzt wären, beruhe auf zum Teil unrichtigen und zum Teil unvollständigen Beweisaufnahmen. Es wurde aus den Länderberichten zur Lage der Kurden nach dem Putschversuch und zur generellen Islamisierung - was im Hinblick auf die Konvertiten eine Rolle spiele - zitiert. Demirtas sei trotz Urteil des EGMR nicht enthaftet, was zeige, dass sich die Rechtsstellung der Kurden seit 2010 drastisch verschlechtert habe. Auch hinsichtlich der Konversion sei von einer Gefährdung auszugehen und hätte die belangte Behörde Erhebungen dazu treffen müssen, wie die Lage der zum Christentum konvertierten Kurden in der Türkei ist. Schon aus den Länderfeststellungen würde sich ergeben, dass sich die Situation für Kurden und auch für Christen gerade seit dem letzten Putschversuch verschlechtert habe.

Vorgelegt wurden zwei Berichte im Zusammenhang mit der Inhaftierung von Demirtas.

11. Am 10.04.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der BF, deren rechtsfreundlicher Vertretung, eines Dolmetschers sowie eines Behördenvertreters durchgeführt.

Der BF 2 wurde seitens der Richterin aufgetragen, einen aktuellen psychiatrischen Befund zu ihrem Gesundheitszustand binnen 6 Wochen vorzulegen und zwischenzeitig die Rechtslage hinsichtlich des Wechsels in das NAG mit der zuständigen BH abzuklären. Für den Fall der Vorlage eines psychiatrischen Befundes wurde eine Gutachtensergänzung bzw. Gutachtenserörterung durch Dr. XXXX in den Raum gestellt.

Bis dato langten keinerlei Unterlagen von den BF ein. Aufenthaltstitel nach dem NAG wurden ebenfalls nicht erteilt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um türkische Staatsangehörige, welche zur Volksgruppe der Kurden gehören. Die BF sind damit Drittstaatsangehörige. Die BF 1 und 3-6 sind in Österreich getauft worden, auch die BF 2 ist Christin.

Die BF sind junge, weitgehend gesunde, arbeitsfähige Menschen mit einer in der Türkei - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

Die BF leben in einem gemeinsamen Haushalt.

BF 1 geht einer Beschäftigung als Gartenarbeiter nach, davor war er bei einer Baufirma beschäftigt. Die BF 2 hat für 1 1/2 Jahre bei einer Reinigungsfirma gearbeitet.

In der Türkei leben nach wie vor die Eltern und eine Schwester des BF 1 und zahlreiche weitere Verwandte der BF 2.

Die BF 2 leidet an keiner psychiatrischen oder neurologischen Erkrankung, befindet sich in keiner Behandlung und erhält sowie erhielt auch keine längerfristige medikamentöse antidepressive Therapie. Im Falle der Überstellung kann es aufgrund des Wunsches, in Österreich zu bleiben zu einer Anpassungsstörung oder akuten Belastungsreaktion kommen. Sie nimmt wegen ihrer Diabetes das Medikament Synjardy ein. Lediglich fallweise nimmt sie den Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Pramulex ein, welcher gemäß in der Verhandlung eingesehenen Beipackzettel wie andere Medikamente dieser Arzneigruppe einen Zeitraum von Wochen regelmäßiger Einnahme benötigt, um wirksam zu sein. Auch Cholesterintabletten nimmt die BF 2 nur zeitweise ein.

Der BF 4 leidet an einem Herzleiden, weshalb er alle 9 Monate eine Kontrolle im Krankenhaus hat. BF 4, 5 und 6 besuchen in Österreich die Schule. BF 3 hat die Matura in Österreich abgelegt und möchte studieren, aktuell geht er einer geringfügigen Beschäftigung nach.

Die BF sind strafrechtlich bislang unbescholten.

1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018

* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018

* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018

* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018

* ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018

* BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018

* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018

* MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018

* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017

2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

Quellen:

* Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289, Zugriff 24.9.2018

* BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846, Zugriff 20.9.2018

* bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, Zugriff 20.9.2018

* bpb - Bundeszentrale für politische Bildung. Dohrn, Kristina (27.2.2017): Aus Politik und Zeitgeschichte - Türkei: DIE GÜLEN-BEWEGUNG - Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks, http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2017-09-10_online.pdf, Zugriff 20.9.2018

* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (7.10.2016): Memorandum on the human rights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey [CommDH(2016)35], https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806db6f1, Zugriff 20.9.2018

* DS - Daily Sabah (11.2.2018): Depositing money in

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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