Entscheidungsdatum
19.09.2019Norm
BFA-VG §9Spruch
L519 2210399-1/17E
L519 2210398-1/17E
L519 2210397-1/11E
L519 2210400-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. Hamit ÖZTÜRK, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 24.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.04.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf 18 Monate herabgesetzt wird und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. Hamit ÖZTÜRK, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 24.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.04.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. Hamit ÖZTÜRK, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 24.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.04.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
4.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. Hamit ÖZTÜRK, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 24.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.04.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge im Spruch kurz als "bP 1 - 4 " bezeichnet), sind Staatsangehörige der Türkei. Die bP 1 und bP 2 sind verheiratet und die Eltern der inzwischen volljährigen bP 3 und minderjährigen bP 4.
Dem bP 1, einem Seelsorger (Imam) wurde mit 04.12.2014 der erste Aufenthaltstitel mit dem Aufenthaltszweck "Sonderfälle unselbstständiger Erwerbstätigkeit" mit Gültigkeit von einem Jahr erteilt. Die bP 2 bis bP 4 erhielten mit gleichem Datum als Familienangehörige ebenfalls ein Aufenthaltsrecht. Die bP sind seit 29.10.2014 im Zentralen Melderegister in Österreich gemeldet.
I.2. Am 06.11.2017 stellten die bP letztmalig Verlängerungsanträge auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels "Sonderfälle unselbstständige Erwerbstätigkeit" bzw. als Familienangehörige von "Sonderfällen unselbstständiger Erwerb". Dies fristgerecht vor Ablauf ihrer alten Aufenthaltstitel und unter Vorlage von ZMR-Auszug, Bestätigung des türkischen Präsidiums für Religionsangelegenheiten über die Refundierung der im Ausland entstandenen Gesundheitsausgaben samt Beglaubigung und Übersetzung, Bescheid über die Satzung der Kultusgemeinde "Türkisch Islamische Kultusgemeinde XXXX der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich", Bestätigung Vorbereitungskurs für Fachsprachkurs für Imame, Bestätigung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) über den seelsorgerischen Auftrag der bP 1, Einsatzbestätigung Diyanet de Belgique (dass bP 1 als Seelsorger aufgrund der Vereinbarung zwischen ATIB XXXX und Diyanet eingesetzt werden soll), Reisepasskopie, Kopien der Aufenthaltstitel
Während im Rahmen der vorangegangenen Anträge noch Haftungserklärungen für die Familienmitglieder (ausgestellt am 31.08.2016, gültig für 5 Jahre) und Gehaltsbestätigungen vorgelegt wurden, fehlten diese Unterlagen nunmehr.
I.3. Mit Schreiben der Niederlassungsbehörde vom Tag des letzten Antrages auf Verlängerung wurden die bP aufgefordert, zwecks Mängelbehebung der Anträge aktuelle finanzielle Nachweise vorzulegen.
I.4. Den bP wurde mit Schreiben vom 14.06.2018 mitgeteilt, dass sie bisher dem Verbesserungsauftrag nicht nachgekommen sind und daher die Fremdenakte dem BFA zwecks Prüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorzulegen wären.
Mit 15.06.2018 wurde seitens der Stadt XXXX dem Bundesamt eine Mitteilung nach § 25 Abs 1 NAG übermittelt und ein Antrag auf Prüfung der Möglichkeit von aufenthaltsbeendigender Maßnahmen gemäß dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) gestellt. Die Fremdenakten der bP wurden vorgelegt.
I.5. Das BFA leitete daraufhin ein Verfahren zur Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ein.
Die ersten Einvernahmen wurden abberaumt, da mitgeteilt worden ist, dass die bP 1 von 17.07.2018 bis Ende August auf Urlaub außer Landes sei.
I.6. Am 12.09.2018 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der bP 1 vor dem BFA in Anwesenheit einer Vertrauensperson.
Die wesentlichen Passagen dieser Einvernahme der bP 1 lauten wie folgt:
LA: Beschreiben Sie bitte, was genau Sie als Imam tun.
A: Als Imam unterrichtet man die Community in Glaubensangelegenheiten. Man
betet, man führt Zeremonien durch, Begräbnisse. Wenn die Leute Glaubensfragen
haben bin ich für sie da. Es gibt extra Freitagsgebete. Wir haben 2 Feiertage im Jahr
- Opferfest und Ramadan, dafür gibt es extra Gebete.
LA: Stehen Sie im Kontakt mit türkischen Vertretungsbehörden?
A: Ich wurde von Diyanet hergeschickt und habe Kontakt.
LA: In welcher Form besteht dieser Kontakt?
A: Ich habe ansonsten keinen Kontakt. Hier sind wir mit ATIB verbunden.
LA: Bekommen Sie vom Konsulat Weisungen?
A: Nein.
LA: Verfügen Sie über einen Dienst- oder Spezialpass?
A: Ja. Ich verfüge über einen grünen Spezialpass. Den haben alle Behörden für
Auslandsreisen.
LA: Haben Sie den heute dabei?
A: Ja.
LA: Könnte ich ihn mir kopieren?
A: Gerne. Aber ich habe eine Kopie mit.
Anm.: Von der VP mitgebrachte Kopie des Passes wird zum Akt genommen.
LA: Wie lange sind Sie jetzt schon in Österreich?
A: 4 Jahre.
LA: Kennen Sie Diyanet de Belgique?
A: Nein. Was ich dazu sagen kann: vor einem Jahr oder 1 1/2 Jahren bekamen wir
unsere Gehälter von Diyanet de Belgique. Das war aber mit den österreichischen
Behörden vereinbart.
LA: Sie sind im Grunde türkischer Beamter, richtig?
A: Ja.
LA: Sind alle ATIB-Imame türkische Staatsbedienstete?
A: Das weiß ich nicht.
Vertrauensperson: ATIB ist auch ein selbstständiger Verein. Es gibt also auch private
Imame bei ATIB.
A: Über ATIB kann ich nicht viel sagen.
LA: Über wen werden diese privaten Imame bezahlt?
A: Das kann ich nicht sagen.
LA: (Frage an Vertrauensperson) Wissen Sie über wen die privaten Imame
bezahlt werden?
VP: Das weiß ich leider auch nicht.
LA: Wird dieser Status während einer Auslandstätigkeit aufgehoben?
A: Der Beamtenstatus bleibt aufrecht.
LA: Wer bezahlt Ihr Gehalt?
A: Die türkische Republik.
LA: Wie hoch sind Ihre Bezüge?
A: EUR 2.105,--
LA: Wer bezahlt Ihre Wohnung?
A: ATIB XXXX .
LA: Wissen Sie, wem die Wohnung gehört?
A: ATIB zahlt nur die Miete, sie gehört nicht ATIB. Sie gehört einem Herrn
Namens XXXX . Es kann sein, dass der Name nicht genau.
LA: Wie sind Sie kranken-, unfall- und pensionsversichert?
A: Hier wird alles privat bezahlt, dann bekommen wir von den türkischen
Behörden Geld.
LA: In welchem Land bezahlen Sie Steuern?
A: Wir bezahlen keine Steuern. Ich muss sowieso alles privat bezahlen.
LA: Bekommen Sie neben Ihrem Gehalt und der Wohnung noch weitere geldwerte
Leistungen für Ihre Tätigkeit?
A: Nein.
LA: Gibt es einen Vertrag zwischen ATIB bzw. Diyanet und Ihnen, in dem Ihre
Rechte und Pflichten geregelt sind?
A: Das weiß ich nicht.
LA: Gibt es Vorgaben, wie Sie Ihre Tätigkeit ausgestalten sollen?
A: Wir kommen wegen Spenden zusammen. zB wenn die Moschee renoviert
wird setzen wir uns zusammen. Sonst nicht.
LA: Haben Sie - außer Frau und 2 Kindern - Angehörige in Österreich?
A: Nein.
LA: Ist Ihre Frau berufstätig?
A: Nein.
LA: Wissen Sie über welchen AT Ihre Frau verdient?
A: Den gleichen wie meinen.
LA: Wie lange halten Sie sich schon in Österreich auf?
A: 4 Jahre.
LA: Wie lange möchten Sie noch hier bleiben?
A: Ich will nicht länger hierbleiben.
LA: Laut den ho. aufliegenden Unterlagen sind die allgemeinen Voraussetzungen
für die Erteilung von Aufenthaltstitel nicht erfüllt.
Es konnte festgestellt werden, dass Finanzierung aus dem Ausland für
islamische Seelsorger eine unzulässige Finanzierung ist und dem IslamG
wiedersprechen und eine solche Finanzierung nicht zulässig ist. Sie konnten
nachweisen, dass Sie Ihr Gehalt direkt vom Generalkonsulat der Republik Türkei
beziehen und nicht von der anerkannten Religionsgemeinschaft bzw. deren
Kultusgemeinden oder Vereine in Österreich. Sie verstoßen hierbei nicht nur gegen
das in Österreich geltende IslamG sondern auch gegen das AuslBG.
Die Tätigkeit von Imamen muss im Einklang mit geltenden Gesetzen erfolgen.
Wird diese Voraussetzung nicht erfüllt liegt ein schwerwiegender Verstoß gegen die
öffentliche Ordnung vor.
Aufgrund dessen ist beabsichtigt über Sie eine Rückkehrentscheidung zu
erlassen.
A: Ich arbeite seit 4 Jahren in Österreich als Imam. Seit 30 Jahren wurden die
Gehälter so bezahlt, bisher war das kein Problem. Wir machen nichts Schlechtes und
bemühen uns, dass sich die Türken integrieren. Wir tun ja nichts Schlechtes.
LA: Haben Sie in Ihrem Heimatland Familienangehörige und wenn ja welche?
A: Meine Geschwister.
LA: Haben Sie in einem anderen EU Land Familienangehörige und wenn ja
welche?
A: Nein.
LA: Beschreiben Sie bitte Ihren Bekannten- und Freundeskreis im Inland?
A: Die ganze türkische Community sind unsere Freunde.
Die bP 2 gab am selben Tag in ihrer Einvernahme an, dass sie koche, putze und mit den Kindern Hausaufgaben mache, was Frauen so jeden Tag machen würden. Deutsch spreche sie sehr, sehr, sehr wenig. Sie habe türkische Nachbarinnen und Freundinnen.
Die bP 3 gab in ihrer Einvernahme am 12.09.2018 an, dass sie in der HAK zwar angemeldet gewesen sei, sich aber abgemeldet habe, da ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichend gewesen wären. Sie wolle in der Türkei nach Ablauf der Aufenthaltszeit in Österreich Theologie studieren, besuche in Österreich auch keine Lehre und übe keine Beschäftigung aus. Angemerkt wurde vom BFA, dass die bP 3 gute Deutschkenntnisse habe und die Einvernahme weitgehend in Deutsch durchgeführt wurde.
Die bP hätten in der Türkei diverse Verwandte und würden an keinen Erkrankungen leiden. Von der bP 1 wurde eine Kopie des grünen Beamtenreisepasses ausgehändigt.
I.7. Gegen die bP wurden mit im Spruch genannten Bescheiden der belangten Behörde gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkt I). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung der bP in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 3 Monate ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG wurde gegen die bP 1 ein auf Dauer von 2 Jahren sowie gegen die bP 2 ein auf die Dauer von 18 Monaten befristetes Einreiseverbot erlassen. Über die bP 3 und 4 wurde kein Einreiseverbot verhängt.
I.8. Gegen diese Bescheide wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist über den rechtsfreundlichen Vertreter Beschwerde erhoben.
Im Wesentlichen wird in der Beschwerde vorgebracht, dass die bP 1 als türkischer Staatsbediensteter für den Auslandsdienst durch das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten der Türkischen Republik nach Österreich entsandt worden sei.
Die bP seien in der Absicht eingereist, einer legalen Beschäftigung bzw. Schulbildung nachzugehen. Die bP 1 sollte nach Errichtung einer inländischen Stiftung nach dem Privatstiftungsgesetz von dieser Stiftung nach österreichischem arbeits-und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen beschäftigt werden. Aufgrund der Verzögerungen bei der Gründung sei der bP 1 für den Fall, dass sie eine Verlängerung des Aufenthaltstitels erhält zugesagt worden, dass sie beim Verein ATIB UNION, Türkisch Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich eine Vollzeitbeschäftigung als Seelsorger mit einem Bruttogehalt von monatlich EUR 1300 erhält, welches die bP auch angenommen habe. Den bP werde eine kostenlose Wohnmöglichkeit vom Verein ATIB zur Verfügung gestellt und erhalte die bP 1 das Gehalt vom türkischen Generalkonsulat ausbezahlt.
Es wurde aus einem Schreiben des österreichischen Kultusamtes vom 01.06.2016 sowie einem Erlass des BMI aus dem Jahr 2016 im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Imamen in Österreich zitiert und ausgeführt, dass sich daraus nicht ergäbe, dass die in Österreich tätigen Imame die Beamteneigenschaft aufgeben müssten oder kein Gehalt aus der Türkei beziehen dürften.
Es sei beabsichtigt, die Beschäftigung der "ATIB-Imame" an das IslamG anzupassen. Hierzu sei ein Beschluss gefasst worden, eine Privatstiftung nach dem Privatstiftungsgesetz zu gründen. Seelsorger wie die bP 1 hätten sodann mit dieser Stiftung ein Dienstverhältnis und könnten unter Anwendung österreichischer arbeits-und sozialrechtlicher Vorschriften beschäftigt werden.
Ein allfälliger Verstoß gegen § 6 Abs 2 IslamG sei nicht der bP 1, sondern vielmehr der Religionsgesellschaft bzw. Kultusgemeinde zuzurechnen und könne der bP 1 dadurch keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit iSd § 11 Abs 2 Z 1 iVm Abs 4 Z 1 NAG vorgeworfen werden.
Die bP würden über einen türkischen Krankenversicherungsschutz verfügen, welcher die Übernahme von Behandlungskosten im Ausland gewährleiste und wurde hinsichtlich der bP 1 als türkischen Beamten zudem auf das Abkommen der Türkei mit Österreich über soziale Sicherheit verwiesen. Dies sei gemäß altem Erlass des BMI ausreichend. Es würde in der Verhandlung eine Bestätigung über eine Erweiterung des Deckungsumfanges einer österr. Versicherung vorgelegt werden und widerspreche es dem Gleichheitsgrundsatz sowie dem Prinzip von Treu und Glauben, wenn nunmehr von der Behörde eine ganz andere Haltung eingenommen wird. Entgegen der Ansicht des Bundesamtes beziehe die bP ihr Einkommen aus einer legalen Quelle, da sie ein türkisches Beamtengehalt bekomme. Die bP 1 übe mit Blick auf § 1 AuslBG eine vom Anwendungsbereich des AuslBG ausgenommene legale Beschäftigung aus.
Insgesamt stellten sich die Rückkehrentscheidungen sowie Feststellungen zu den Abschiebungen als unverhältnismäßig dar, da die Familie keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstelle.
Auch die gegen bP 1 und 2 verhängten Einreiseverbote wären willkürlich und seien von der Behörde fälschlicherweise dem Tatbestand des "illegalen Einkommens" unterstellt worden
Das IslamG verstoße gegen die Stillhalteklausel des Art 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.08.1980 (ARB) bzw. das 41. Zusatprotokoll hierzu. Dem aus diesen Bestimmungen sich ergebenden Verschlechterungsverbot folgend ergäbe sich, dass § 6 Abs. 2 IslamG als die Situation der bP verschlechternde Bestimmung unangewendet bleiben müsse. Darüber hinaus falle der festgestellte Sachverhalt in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit, welche nur aus bestimmten Gründen eingeschränkt werden könne. Zudem wären Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern verboten gemäß Art. 63 AEUV.
Schließlich sei § 6 Abs. 2 IslamG per se verfassungswidrig.
Vorgelegt wurden der Rahmenvertrag zwischen ATIB und Diyanet de Belgique, ein Schreiben des Kultusamtes an den rechtsfreundlichen Vertreter vom 19.04.2016, ein Mail des rechtsfreundlichen Vertreters an das Kultusamt betreffend ATIB Privatstiftung, Kontoauszug der bP 1 mit Überweisungen des türkischen Generalkonsulates, eine Niederschrift aus einem anderen Verfahren vor dem BVwG sowie ein noch nicht beglaubigter Notariatsakt (Entwurf) betreffend Gründung einer Stiftung
I.9. Mit Schreiben vom 13.02.2019 wurde mitgeteilt, dass ein Vollmachtwechsel stattgefunden habe und nunmehr der im Spruch genannte Rechtsanwalt bevollmächtigt worden sei.
I.10. Mit Schreiben vom 13.02.2019 wurde mitgeteilt, dass die bP 1 fiebrig erkrankt sei und wurde eine Arztbestätigung übermittelt.
Die für den 14.02.2019 anberaumte mündliche Verhandlung vor dem BVwG wurde abberaumt. Im Rahmen der neuerlichen Ladung für 23.04.2019 wurden den bP aktuelle Länderfeststellungen zur Türkei zur Stellungnahme vorweg übermittelt.
I.11. Mit Schreiben vom 09.04.2019 wurde mitgeteilt, dass die bP 3 an einem Lehrgang in der Türkei vom XXXX .2019 bis zum XXXX .04.2019 teilnehmen und erst am XXXX .05.2019 wieder nach Österreich zurückkehren würde. Die bP 4 würde die Schule besuchen und wurde ersucht, um den Kindern den Abschluss ihrer schulischen Tätigkeiten zu ermöglichen und sie vor einem Nachteil zu bewahren, die Verhandlung auf Juli 2019 zu verschieben.
I.14. Am 23.04.2019 führte das erkennende Gericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die bP 1 und 2 mit ihrer Rechtsvertretung teilnahmen. Die bP 4 wurde nicht geladen, die bP 3 ist nicht erschienen und wurde in der Verhandlung mitgeteilt, dass sich diese noch in der Türkei befände.
Vorgelegt wurden in der Verhandlung von der bP 1 eine Arbeits- und Einstellungszusage vom 01.04.2019, ausgestellt von ATIB Union. Demnach würde die bP 1 als Seelsorger unverzüglich und unbefristet zu einem Nettogehalt von monatlich EUR 1400 in einem Beschäftigungsausmaß von 40 Stunden in der Woche eingestellt werden, sobald sie einen Aufenthaltstitel für Österreich erhält.
Ausgeführt wurde insbesondere zu Beginn der Verhandlung, dass die bP 1 nunmehr über die Arbeits- und Einstellungszusage für den Fall des Erhalts eines Aufenthaltstitels vom Verein ATIB Union, türkisch islamische Union zur kulturellen Zusammenarbeit in Österreich verfüge. Dieses Angebot mit einem Nettogehalt von Eur 1400,- für 40h / Woche habe die bP 1 bereits angenommen. Den bP werde vom Verein ATIB eine kostenlose Wohnmöglichkeit zur Verfügung gestellt.
Es sei zudem ein Antrag gestellt worden, die bP 1 für die Dauer des Aufenthalts in Österreich von seiner Beamtentätigkeit zu karenzieren. Es werde der Ausgang des Aufenthaltsverlängerungsverfahrens abgewartet, die Karenzierung beginne mit Erhalt des Aufenthaltstitels und Arbeitsbeginn der bP 1.
Bis zur Karenzierung also der Arbeitsaufnahme für ATIB Union sei die bP 1 über das Präsidium für Religionsangelegenheiten der türkischen Republik unfall- und krankenversichert. Da das BFA von der Beamteneigenschaft der bP 1 ausgegangen sei, habe sie zu Unrecht eine fehlende Unfall- und Krankenversicherung festgestellt. Sobald die bP 1 den Aufenthaltstitel erhalte und die Arbeit aufnehme, unterliege sie der gesetzlichen Kranken- und Unfallversicherung und sei somit die Versicherung gewährleistet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Die beschwerdeführenden Parteien:
Die bP sind türkische Staatsangehörige und damit Drittstaatsangehörige. Sie reisten im Oktober 2014 rechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und erhielten im November entsprechende Aufenthaltsbewilligungen. Sie verfügen aufgrund der rechtzeitig eingebrachten Verlängerungsanträge hinsichtlich der gültigen Aufenthaltstitel auch aktuell gemäß § 24 Abs. 1 NAG über Aufenthaltstitel.
Die bP 1, 2 und 3 sind junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen mit einer in der Türkei gesicherten Existenzgrundlage. Die Existenzgrundlage der minderjährigen bP 4 ist durch ihre Eltern (bP 1 und 2) gesichert. Auch die inzwischen volljährige bP 3 wird von ihren Eltern finanziell in ihrer Ausbildungsphase unterstützt.
Die bP 2 hat 5 Jahre Grundschule, 3 Jahre Hauptschule und 3 Jahre Gymnasium in der Türkei absolviert, seitdem ist sie Hausfrau.
Die bP 3 befand sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Türkei zu Fortbildungszwecken (Studienvorbereitungskurs für 4 Monate) und lebte dort im Internat. Falls sie die Studienberechtigungsprüfung für die Türkei schafft, möchte sie in der Türkei ein Studium absolvieren. Sie verfügt über gute Deutschkenntnisse.
Die Geschwister der bP 1 leben in der Türkei. Die Familie der bP 2 lebt in der Türkei in der Provinz XXXX . Sie steht in telefonischen Kontakt zur Familie. Es leben zudem diverse weitere Verwandte der bP in der Türkei. Die bP 1 besitzt eine derzeit leerstehende 140 m2 Eigentumswohnung in der Region ihrer Schwiegereltern.
Die bP waren im Juli 2018 für ca. 1 Monat in der Türkei.
Die bP sind in Österreichstrafrechtlich unbescholten.
Die bP 4 besucht in Österreich die Volksschule. Die bP 4 spricht aufgrund ihres Schulbesuches in Österreich die deutsche Sprache.
Die bP 1 und 2 haben die A1 Deutschprüfung im Rahmen eines Integrationskurses des ÖIF für Imame absolviert, können jedoch nicht in Deutsch kommunizieren. Die bP 1 und 2 bewegen sich in Österreich in der türkischen Gesellschaft und haben nur zeitweise Kontakt zu österreichischen Nachbarn.
Es liegen keine besonderen integrativen Aspekte im Hinblick auf die bP vor. Sie sind weder ehrenamtlich noch sonst in einem Verein tätig und verfügen über die islamische Glaubensgemeinschaft hinaus auch über kaum Kontakte in Österreich, abgesehen von Kontakten zu Nachbarn. Auch die Teilnahme an Integrationsveranstaltungen und Treffen mit einem Pfarrer stellen keine besondere Integration dar.
Die bP 1 erhält in der Türkei ein Einkommen iHv 4000 Lira und in Österreich ein Einkommen iHv Eur 2105 über das türkische Konsulat.
Die bP leben kostenlos in einer Wohnung in Österreich, welche vom Verein ATIB zur Verfügung gestellt wird.
Die bP 1 arbeitet seit der Einreise in Österreich als Imam. Sie wurde zum Auslandsdienst durch das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten der türkischen Republik (Diyanet Isleri Baskanligi) entsandt, um hier für ATIB XXXX als Seelsorger tätig zu sein. Diyanet ist direkt dem Ministerpräsidenten der Türkei unterstellt und außerhalb der Türkei über Kooperationspartner tätig, in Österreich über ATIB. Die bP 1 ist türkischer Staatsbediensteter und türkischer Beamter. Die bP sind in Österreich nicht krankenversichert und zahlen keine Steuern, es besteht über die Türkei eine Versicherung, welche den bP Ausgaben im Krankheitsfall refundiert.
Die bP 1 hält regelmäßige Gebete in ihrer Moschee ab und unterrichtet am Wochenende Kinder hinsichtlich der Inhalte des Korans.
Es existieren in Österreich Bestrebungen, eine inländische Stiftung nach dem Privatstiftungsgesetz einzurichten. Die Gründung wurde nicht nachgewiesen bzw. ist die bP 1 auch bei einer solchen nie in einem Arbeitsverhältnis gestanden.
Es erfolgte kein Nachweis, dass - wie im Rahmenvertrag vom 13.05.2016 vorgesehen - Diyanet de Belgique von ATIB die tatsächlich entstehenden Kosten für die Beschäftigung der eingesetzten Imame refundiert würden oder auf andere Weise das vom türkischen Konsulat an die bP 1 ausbezahlte Gehalt vom Inland her finanziert würde.
Die Identität der bP steht fest.
II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:
Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).
Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.
Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.
Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)
Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).
Quellen:
EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen, Zugriff 14.3.2019
EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019
TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;
die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.
In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018
AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018
OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018
TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018
TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018
Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018
BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018
CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018
MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018
OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018
SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017
Sicherheitsbehörden
Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz.Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Auch das traditionelle Selbstverständnis der türkischen Armee als Hüterin der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 3.8.2018).
Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).
Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MIT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MIT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MIT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MIT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017).
Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrel