TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/9 W173 2165315-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.03.2020
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Entscheidungsdatum

09.03.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W173 2165315-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit Möslinger-Gehmayr als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.6.2017, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.11.2019 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) reiste illegal in Österreich ein und stellte am 17.11.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

2. Bei der am 18.11.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Niederösterreich gab der BF an, er sei am XXXX in Kabul geboren, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei Muslim sunnitischen Glaubens. Über seinen Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass seine Eltern vor ca. 8 Jahren gestorben seien. Das habe ihm seine Tante mitgeteilt. Mit seiner Tante und ihrer Familie sei er dann in den Iran gelangt. Er habe bei seiner Tante in XXXX gelebt, die ihn gut behandelt habe. Er habe als Schneider gearbeitet und sich dann entschlossen, den Iran zu verlassen, um ein besseres Leben zu haben. Das Leben im Iran sei nicht gut gewesen.

3. Mit Verfahrensanordnung vom 17.2.2016 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) der XXXX als Geburtsdatum des BF basierend auf dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten vom 15.1.2016 festgesetzt.

4. Am 16.6.2017 wurde der BF vom BFA, Regionaldirektion XXXX , niederschriftlich einvernommen. Im Zuge der Einvernahme wurden vom BF ein ÖSD Zertifikat A2, eine Teilnahmebestätigung am Taufunterricht der Pfarre XXXX sowie diverse Kursteilnahmebestätigungen vorgelegt. Der BF gab an, er habe Afghanistan mit zwei und nicht wie in der Erstbefragung protokolliert, mit 8 Jahren verlassen. Er habe bezüglich seines Alters nicht gelogen und das ärztliche Gutachten stimme nicht. Sein Geburtsdatum wisse er nicht. Seine letzte Adresse in Afghanistan kenne er nicht. Im Iran habe er zuletzt in XXXX , XXXX gelebt. Sein Vater und seine Mutter seien ihm unbekannt. Sie seien verstorben, als er zwei Jahre alt gewesen sei. Er habe gedacht, seine Tante und ihr Mann seien seine Eltern. Erst mit 15 Jahren habe er über den Tod seiner Eltern erfahren. Seine Tante lebe nach wie vor im Iran. Über seinen Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er nicht wisse, warum er Afghanistan verlassen habe, da er mit seiner Tante in den Iran gereist sei. Den Iran habe er verlassen, weil ihn der Mann seiner Tante schlecht behandelt und gezwungen habe, ab dem 10. Lebensjahr als Schneider zu arbeiten. Er habe die Schule besuchen und sich weiterbilden wollen. Als die Grenzen offen gewesen seien, sei er nach Europa geflüchtet. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den Taliban umgebracht zu werden, da es dort keine Sicherheit gebe. Er sei sunnitischer Muslim, wolle aber konvertieren. Er besuche auch einen Taufvorbereitungskurs. Den höchsten christlichen Feiertag oder die 10 Gebote könne er nicht nennen. Jesus sei gekreuzigt worden.

5. Mit Bescheid vom 23.6.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

Im Bescheid traf die Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder sein werde. Eine konkret gegen ihn gerichtete Bedrohungshandlung in Afghanistan habe er nicht vorgebracht. Der BF sei aus wirtschaftlichen Gründen geflohen, um - wie er bei der Erstbefragung vorgebracht habe - ein besseres Leben zu haben. Der BF sei Moslem. Der Konversionswille sei lediglich vorgebracht worden, um eine allfällige Rückführung nach Afghanistan zu verhindern. Er habe vor seiner Abreise bei seiner Tante im Iran gelebt. Es bestehe beim BF keine reale Gefahr im Fall der Rückkehr nach Afghanistan. Es fehle auch an sonstigen schwerwiegenden Hinderungsgründen für seine Rückkehr. Ihm sei eine Rückkehr nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar. Er habe keine Familienmitglieder oder nahe Angehörige im Bundesgebiet und ein allfälliger Eingriff in sein Privatleben sei gerechtfertigt.

6. Gegen den Bescheid vom 23.6.2017 wurde vom BF mit Schreiben vom 10.4.2018, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen sämtliche Spruchpunkte Beschwerde erhoben. Begründend wurde unter anderem ausgeführt, dass der BF schon im Iran beschlossen habe, ein Christ zu werden und in Afghanistan aufgrund seines Glaubens einer Verfolgung ausgesetzt sei. Die Behörde habe keine Ermittlungen zur (Schein)konversion angestellt und es unterlassen, zur Lage von (Schein)konvertiten und Rückkehrern aus dem Iran überhaupt Feststellungen zu treffen. Die Einvernahme sei eine außergewöhnliche Situation gewesen, in der sich der BF nicht genau erinnern habe können. Deshalb habe er nicht sämtliche dogmatischen Spitzfindigkeiten beantworten können. Die Behörde habe es unterlassen, den BF nach seiner subjektiven Motivation zu seiner Konversion zu befragen. Der BF sei ein spiritueller Mensch, der in XXXX regelmäßig die Messe besucht habe und dem die Dogmatik nicht so wichtig sei. Er habe den christlichen Glauben außerdem deshalb überzeugender gefunden, weil es sich um eine Religion des Friedens handle. Dies sei für den BF beim Islam nicht der Fall gewesen. Des Weiteren könne sich der BF aufgrund seiner mangelhaften Deutschkenntnisse erst seit kurzem näher mit der christlichen Dogmatik auseinandersetzen. Auch komme hinzu, dass es sich beim BF um einen Rückkehrer aus dem Iran handle, was isoliert noch keinen Verfolgungsgrund darstelle, jedoch gemeinsam mit der Konversion eine Verfolgung verursachen könnte. Auch bestehe für den BF keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Annahme, dass alleinstehende junge Männer Arbeit und Wohnung finden könnten, sei falsch. Der BF habe keine relevanten sozialen Kontakte in Kabul und keine Ausbildung. Dass er im Alter von 10 Jahren gezwungen worden sei, als Schneider zu arbeiten, stelle keine Ausbildung dar. Es fehle eine subjektive Prüfung, ob die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif als Fluchtalternative zumutbar seien. Zusammenfassend hätte die belangte Behörde bei einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren zum Schluss kommen müssen, dass dem BF in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. In eventu sei subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen und sei die Behörde auch Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei.

7. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 24.7.2017 von der belangten Behörde vorgelegt.

8. Mit Schreiben vom 20.9.2018 übermittelte der BF einen Taufschein datiert mit 30.6.2019. Darin schien als sein Taufdatum der 30.6.2019 in der Pfarrgemeinde XXXX , Erzdiözese XXXX auf. Als Taufspender wurde der Stadtpfarrer XXXX und als Taufpatin Frau XXXX genannt. Als Geburtsdatum des BF wurde der XXXX in Kabul geführt. Als Firmdatum des BF wurde der XXXX genannt.

9. Mit Schreiben vom 13.11.2019 teilte Frau XXXX mit, dass sie aus gesundheitlichen Gründen an der für 13.11.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht teilnehmen könne. Sie sei Mitglied des Pfarrgemeinderates XXXX , leite einen Tanzkreis an der Pfarre und sei auch ansonsten in der Pfarre sehr aktiv. Sie habe den BF in der Pfarre kennengelernt, als er fast jeden Sonntag zur Messe gekommen und auch immer beim anschließenden Pfarrcafe dabei gewesen sei. Der BF sei ihr unter den Flüchtlingen auf Grund seines offenen und interessierten Wesens aufgefallen. Er habe ihr von seiner Heimat und seiner Flucht erzählt. Der BF sei sehr interessiert und offen für das ganze Leben in ihrer Pfarre gewesen und habe sich auch immer sehr aktiv eingebracht. Er habe öfters die Vorbereitung des Pfarrcafes übernommen. Es sei ein gutes Essen gekocht worden. Er habe sich gerne an den Bibelrunden in der Pfarre beteiligt. Er habe sich ernsthaft dem christlichen Glauben genähert. Eines Tages habe er ihr erzählt, sich taufen lassen zu wollen und an den Taufvorbereitungen teilzunehmen. Sie habe sich über diesen Schritt sehr gefreut. Der BF habe ernsthaft zum christlichen Glauben übertreten wollen. Am 30.6.2019 sei der BF feierlich getauft worden. Seither nehme der BF nicht nur als getaufter Christ an den Gottesdiensten teil, sondern wirke auch als Ministrant aktiv an den Gottesdiensten mit. Er sei ein sehr wertvolles und wichtiges Mitglied ihrer Pfarre. In ihren Augen sei er aus tiefer innerer Überzeugung Christ geworden.

10. Am 13.11.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, der Rechtsvertretung des BF und der Zeugen XXXX (in der Folge Z1) und XXXX (in der Folge Z2) eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

Der BF gab an, dass er im Alter von zwei Jahren, und nicht wie in der Erstbefragung protokolliert, im Alter von 8 Jahren in den Iran gekommen sei. Davon abgesehen habe in den bisherigen Einvernahmen alles gestimmt. Er akzeptiere das vom Sachverständigen festgestellte Geburtsdatum XXXX . Er sei in Kabul geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Wo er in Kabul gelebt habe, wisse er nicht, weil er nur 2 Jahre alt gewesen sei, als er in den Iran gekommen sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und spreche Dari. Seine beiden Elternteile seien aus ihm unbekannten Gründen in Afghanistan gestorben. Er sei mit seiner Tante und deren Mann aus Afghanistan in den Iran gekommen. Seit seinem zweiten Lebensjahr habe er im Iran in XXXX bei seiner Tante und deren Mann gelebt. Neben seiner Muttersprache Dari spreche er noch Farsi und Deutsch. Im Alter von sieben Jahre habe er mit dem Schulbesuch begonnen. Nach vier Jahre habe er die Schule verlassen und arbeiten gehen müssen, weil der Mann seiner Tante ihn nicht so wie seine eigenen Kinder behandelt und kein Interesse an seinem Schulbesuch gehabt habe. Der BF habe in einer Schneiderei zu arbeiten begonnen und auf der Straße Sachen verkauft. Er habe den Iran mit 16 verlassen, da er für sich dort keine Zukunft gesehen habe. Er habe auch ständig Probleme mit den Iranern, die ihn nicht gemocht hätten, und den Behörden gehabt, die ihn nicht akzeptiert hätten. Er sei dort immer behandelt worden, als würde er eine Last für die anderen Menschen darstellen. Er habe sich wertlos gefühlt. Nach Afghanistan habe er wegen des Krieges und des ihm unbekannten Landes ohne Anschluss zu ihm bekannten Menschen nicht gehen können.

Über sein Religionsbekenntnis befragt, gab der BF an, dass er früher Moslem gewesen aber nunmehr konvertiert sei. Jetzt sei er römisch-katholischer Christ. Ganz am Anfang, als er nach Österreich gekommen sei, habe er in XXXX die ersten Kontakte mit dem Christentum gehabt. Er sei ins Kaffeehaus gegangen, wo er von der Kirche gehört habe, da über religiöse Themen gesprochen und diskutiert worden sei. Diese Themen hätten ihm am Anfang nicht gut gefallen. In diesem Kaffeehaus habe eine persisch sprechende Person mit ihm über das Christentum gesprochen. Die Diskussion sei aber nicht so besonders überzeugend für ihn gewesen. Danach habe er keinen Kontakt mehr mit der Kirche gehabt. Dann sei er zu einem Freund gegangen und habe erfahren, dass die Taufe von einem Iraner stattfinden werde. Im Zuge dessen habe er den Z2 kennengelernt und dieser habe ihm weitere Informationen und Auskünfte über das Christentum geben können. Er habe an dieser Taufe auch teilgenommen, was ihm sehr gut gefallen habe. Nach seiner Entscheidung, sich wieder über das Christentum zu erkundigen und Informationen zu sammeln, habe er ein paar Sitzungen mit dem Z2 gehabt. Aber dadurch, dass er jedes Mal von XXXX zu ihm fahren habe müssen, habe er sich das nicht mehr leisten können. Er habe sich beim ihm nach Personen bzw. einer Kirche in XXXX erkundigt. Der Z2 habe ihm eine Kirche in XXXX , XXXX , empfohlen, wo er gewohnt habe. Diese Kirche sei in unmittelbarer Nähe von seinem Wohnort gewesen. Er habe nicht zur Kirche gehen wollen, da dort wo er gewohnt habe. Viele Afghanen seien unterwegs gewesen und hätten Personen, die zur Kirche gegangen seien, sehr schlecht behandelt. Somit sei er nach der Empfehlung des Z2 zur XXXX gegangen. Dort habe er mit dem Z1 Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt, dass er sich für das Christentum interessiere. Das sei vor ca. zwei Jahren gewesen. Durch den Z1 habe er regelmäßig die Information bekommen und sei auch regelmäßig zu ihm in den Unterricht die letzten zwei Jahre und in die Kirche gegangen. Nach eineinhalb Jahren habe er sich für die Taufe entschieden und sich dafür vorbereitet gefühlt. Am 30.6.2019 habe seine Taufe stattgefunden. Er habe das Christentum als Religion der Barmherzigkeit und Nächstenliebe empfunden. In dieser Religion sei Gott wie ein Freund für die Menschen. Dies treffe auf den Gott im Sinne des Islam nicht zu, der den Menschen immer Befehle gegeben habe. Im Christentum seien alle Menschen gleichgestellt und die Frauen und Männer gleichberechtigt. Im Islam könne man keine Fragen bezüglich anderer Religionen stellen oder sich für andere Gedanken interessieren. Man werde sofort als gottlos bezeichnet, sodass man als Moslem seine Perspektiven nicht erweitern könne. Noch dazu gebe es keine Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männer im Islam. Frauen würden schlecht behandelt, strenger beurteilt und bestraft. In dieser Religion gebe es immer Sachen, die man unbedingt machen müsse, etwa fasten und beten. Das seien Sachen, die für ihn problematisch gewesen seien. Zwar müssten auch Christen fasten und beten. Die könnten sich aber freiwillig und selbständig dafür entscheiden. Es sei kein Muss und man werde dafür nicht bestraft, wenn man diese Aufgaben nicht erfülle. In islamischen Ländern werde man beim Nichtfasten oder Nichtbeten oder Alkoholkonsum streng bestraft, was im Christentum nicht der Fall sei. Er kenne keine Moslems, die da nicht so konsequent seien und das ein bisschen lockerer sehen würden. Über Ismailiten habe er keine Kenntnisse und keine Infos über diese Richtung des muslimischen Glaubens. Er habe in Österreich das Christentum kennengelernt und sich auch dafür entschieden.

Er habe gehört, dass es auch bei Christen eine massive Vergangenheit wie beispielsweise den 2. Weltkrieg gebe. Über eine andere Vergangenheit, in der keine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau vorgeherrscht habe, habe er nichts gehört. Er habe sich über die Kirchengeschichte erkundigt und über das Thema nichts gehört. Mohammad habe die Menschen mit Gewalt zum Islam gebracht. Er habe Menschen getötet, viele Kriege durchgeführt und das sei im Grunde genommen alles mit Druck und Gewalt geschehen. Er glaube nicht, dass Christen das gemacht hätten. Jesus sei der Prophet von Nächstenliebe und Barmherzigkeit, der nie Gewalt und Druck ausgeübt habe. Er erkenne Mohammad nicht mehr als Prophet an. Für ihn sei Jesus Gott, weil er den Heiligen Geist bei sich gehabt und auch Sachen gemacht habe, die kein anderer Prophet bewirken hätte können. Das allerwichtigste sei, dass er einen toten Menschen wieder zum Leben erweckt habe. Er glaube nicht, dass Mohammad dies getan habe. Maßgebend in der katholischen Kirche seien für ihn die Menschen, die Mitglieder der katholischen Kirche, die sich füreinander einsetzen, nur Gutes für die Anderen wünschen, alles miteinander teilen würden. Moslems würden nur beten und fasten, aber gleichzeitig viele schlimme Sachen tun. Auf den Vorhalt, dass man im Ramadan Bedürftige unterstützen müsse, gab der BF an, dass er keine konkrete Meinung über dieses Thema habe. Falls Mohamad ein guter Mensch gewesen wäre, hätte er nie ein neunjähriges Mädchen als Ehefrau genommen.

Auf den Vorhalt, dass der BF bereits bei der Einvernahme am 16.6.2017 mit dem Taufunterricht begonnen habe und mehr als zwei Jahre gebraucht habe, bis er sich tatsächlich für die Taufe entschieden habe, gab der BF an, dass es so lange gedauert habe, weil er sich genau erkundigen und die Religion richtig kennenlernen habe wollen. Sein Wunsch sei gewesen, sich selbständig und überzeugt für die neue Religion zu entscheiden. Es sollte nicht so wie früher sein, dass er als jemand, der als Moslem geboren worden sei, alles machen habe müssen. Deswegen habe er sich Zeit gelassen. Es gebe sieben Sakramente - Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte, Priesterweihe, Ehe und Krankensalbung. Es gebe 10 Gebote. Zu Weihnachten feiere man die Geburt von Jesus Christus und zu Ostern seinen Tod und seine Wiederauferstehung. Auf den Vorhalt, dass er bei der Einvernahme vor dem BFA keine Fragen zum christlichen Glauben beantworten habe können, gab der BF an, dass das ganz am Anfang gewesen sei, als er mit der Kirche Kontakt aufgenommen habe. Er habe ganz wenige Informationen gehabt. Seine Taufpatin habe er in der Kirche kennengelernt. Sie hätten sich immer in einem Kaffeehaus, das zur Kirche gehöre, getroffen und sehr angenehme Gespräche geführt. Sie sei auch immer sehr nett und offen zu ihm gewesen. Befragt, wie er seinen Glauben praktiziere und sich im Alltag verhalte, gab der BF an, dass er im Gegenteil zu früher ganz anders in seinem Benehmen bzw. in seinem Umgang mit den Menschen sei. Früher im Iran sei er nicht so besonders freundlich zu den Mitmenschen gewesen. Es sei auch immer so gewesen, dass die Leute ihm etwas Schlimmes antun hätten wollen. Jetzt in Österreich als Christ versuche er, freundlich und nett zu anderen Mitmenschen zu sein. Er versuche, den anderen zu helfen und einen angenehmen Umgang mit den Mitmenschen zu haben. Sie hätten ein Sonntagscafe in ihrer Kirche in XXXX . Bei den Frühstücksvorbereitungen und beim Aufräumen und Abwaschen helfe er immer mit. Bei allen Veranstaltungen ihrer Gemeinde sei er anwesend und mache mit. Eine weitere Aufgabe sei das Ministrieren. In Österreich wolle er Elektriker werden. In Afghanistan fürchte er den Tod, weil die Menschen jemanden mit anderen Gedanken nicht akzeptieren könnten und er als Christ dort getötet werden würde.

Der Z2 gab an, in seinem Haus eine kleine Wohnung an einen Migranten vermietet zu haben. Im Rahmen eines Besuches des BF habe er den BF kennengelernt. Zu Ostern 2017 sei der BF zu einer in XXXX stattfindenden Taufe mitgekommen, um sich das Geschehen anzusehen. Der Z2 begleite Taufkurse in XXXX , Oberösterreich. Der BF habe immer wieder den Mieter des Z2 besucht und Fragen zum Christentum und zum christlichen Glauben gestellt. Der BF habe in der Folge Kontakt mit der christlichen Gemeinde XXXX in XXXX , wo der Z1 als Pfarrer wirke, gehabt. Im Rahmen der Besuche des BF beim Z2 in XXXX seien in einfachem Deutsch christlichen Themen kommuniziert worden. Der Z1 habe den BF im Taufkurs betreut. Grundsätzlich sei ein Jahr Taufvorbereitung im Rahmen des Taufkurses vorgesehen. Der Z1 habe einen intensiven Kontakt während der Taufvorbereitung gehabt, die schließlich in die Taufe Ende Juni 2019 gemündet habe. Derzeit bestehe einmal im Monat Kontakt zwischen dem Z2 und dem BF. Der Z2 würde sich auch darüber freuen und den BF bei der Suche nach einer Lehrstelle zu unterstützen. Der Z2 habe vom BF den Eindruck gewonnen, dass es sich bei seinem Religionswechsel nicht um eine vorübergehende Episode handle, sondern der BF aus innerer Überzeugung der christlichen Philosophie und dem christlichen Glauben anhänge. Es sei auch eine gewisse Regelmäßigkeit bei der Ausübung des christlichen Glaubens, wie z.B. Messbesuch erforderlich. Dem komme der BF nach. Dies gelte auch für die Zeit nach der Taufe. Der ganze Weg des BF sei am Anfang sehr stark von Zweifel durchdrungen gewesen, die sich auch in kritischen Fragen geäußert hätten. Im Lauf der Zeit habe der BF ihm glaubhaft versichert, dass bei ihm "die Botschaft vom Kopf ins Herz gerutscht ist". Ein Schlüsselmoment sei die Geschichte von der Ehebrecherin gewesen, die im muslimischen Glauben vom Mann getötet werden müsse. Der Z2 habe dem BF daraufhin die christliche Version vom Ehebruch und dessen Handhabung erzählt. Als Jesus Christus mit einer Ehebrecherin konfrontiert worden sei, habe er ausgeführt: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein". Dieser Satz sei für den BF prägend gewesen.

Der Z1 gab an, in der Pfarre XXXX in XXXX eine Bibelrunde, die auch als Taufvorbereitung diene, zu betreuen. Auf Empfehlung der Pfarre Oberndorf habe der BF vor ca. 2,5 Jahren an der vom Z1 betreuten Runde regelmäßig teilgenommen. Die Teilnehmer dieser Runde kämen aus verschiedenen Bereichen. Sie kämen vom islamischen Kulturkreis oder es handle sich um Interessenten für die Taufvorbereitung. Der Z1 sei bestrebt, bei den Runden sowohl Informationen über den christlichen Glauben, als auch über den Islam zu vermitteln. Anfangs sei der BF mit einer gewissen Distanz den Bibelrunden gegenübergestanden und habe sich skeptisch gezeigt. Vor einem Jahr habe der Z1 jedoch eine Interessenssteigerung beim BF erkennen können. Die anfänglich depressive Stimmung habe in vermehrtes Zugehen und Engagement sowie Interesse in der Gemeinde umgeschwenkt. Der BF habe an Festen teilgenommen und sich engagiere. Er sei auch am Wochenende bei Einkehrtagen dabei gewesen. Er besuche die sonntäglichen Messen und das Pfarrcafe. Der Z1 lege im Hinblick auf eine Konversion Wert auf das wirkliche Interesse und das regelmäßige Engagement über einen längeren Zeitraum. Im Rahmen von Gesprächen mit dem BF habe sich eine Freundschaft zwischen dem BF und dem Z1 entwickelt, der von seiner tatsächlichen Absicht, in den christlichen Glauben zu wechseln, überzeugt gewesen sei. Der Z1 weise darauf hin, dass Anhänger des moslemischen Glaubens teilweise wenig Ahnung von der eigenen Religion hätten und diese eher mit Gewaltbereitschaft verbinden würden. Der Z1 habe sich auch mit dem Koran auseinandergesetzt, gelesen und ihn auch schätzen gelernt. Der BF habe sich in den zweieinhalb Jahren intensiv mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt und ein Engagement in der Gemeinde gezeigt. Er sei daher nach der Ansicht des Z1 reif für die Taufe gewesen. Der Z1 selbst habe den BF getauft. Seit der Taufe habe der Z1 sogar einen intensiveren Kontakt mit dem christlichen Glauben und Hingabe durch den BF feststellen können. Für den Z1 sei wesentlich, dass die Hinwendung zum Glauben tatsächlich erfolgt und echt aus innerer Überzeugung geschehen sei. Aus persönlichen Gesprächen mit dem BF schließe der Z1, dass der BF seinen neuen Glauben tatsächlich praktiziere und weiterverfolge.

Der BF gab an, auch vor zwei Monaten seine Tante im Iran von seiner Konversion ins Christentum informiert zu haben, die dies nicht begrüßt habe.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde vom BF eine Stellungnahme betreffend die Verfolgung aufgrund der Konversion, die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan sowie zur Lage von "Iran-Rückkehrern" vorgelegt. Inhaltlich wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF durch seinen inneren Entschluss nach der christlichen Lehre zu leben bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan angesichts der Länderberichte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Weiters wurden der Stellungnahme Berichte zur Sicherheitslage angefügt und ausgeführt, dass dem BF als "Iran-Rückkehrer" ohne Ortskenntnisse bzw. Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten eine Ansiedelung in Mazar-e Sharif, Herat und Kabul unzumutbar sei. Darüber hinaus wurden mehrere Empfehlungsschreiben, diverse Kursbesuchsbestätigungen, ein Deutschzertifikat auf dem Niveau A2 sowie die Bestätigung über die Anmeldung des BF zu einem Pflichtschulabschlusslehrgang vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zum Beschwerdeführer:

Der BF ist am XXXX in Kabul geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Nach dem Tod seiner Eltern zog der BF mit seiner Tante in den Iran. Der BF lebte bis zu seiner Ausreise nach Österreich mit der Familie seiner Tante im Iran, zuletzt in XXXX . Er hat im Iran die Schule besucht und als Schneider gearbeitet. Der BF hat den Iran verlassen, um ein besseres Leben zu haben.

Der BF gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und spricht Dari.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der BF war ursprünglich sunnitischer Moslem, hat sich jedoch in Österreich vom Islam abgewandt und in Österreich den römisch-katholischen Glauben angenommen. Der BF wurde am 30.6.2019 in der Pfarrgemeinde XXXX , Erzdiözese XXXX , getauft. Der christliche Glaube des BF fußt auf einer inneren Überzeugung des BF. Er praktiziert seinen Glauben aktiv in Österreich. Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Abkehr vom sunnitisch muslimischen Glauben und seiner Hinwendung zum römisch-katholischen Christentum eine Verfolgung aus religiösen Gründen.

1.2.Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)

2016 2017 2018 2019

Jänner 2111 2203 2588 2118

Februar 2225 2062 2377 1809

März 2157 2533 2626 2168

April 2310 2441 2894 2326

Mai 2734 2508 2802 2394

Juni 2345 2245 2164 2386

Juli 2398 2804 2554 2794

August 2829 2850 2234 2443

September 2493 2548 2389 -

Oktober 2607 2725 2682 -

November 2348 2488 2086 -

Dezember 2281 2459 2097 -

insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019)

Jahr Tote Verletzte Insgesamt

2009 2.412 3.557 5.969

2010 2.794 4.368 7.162

2011 3.133 4.709 7.842

2012 2.769 4.821 7.590

2013 2.969 5.669 8.638

2014 3.701 6.834 10.535

2015 3.565 7.470 11.035

2016 3.527 7.925 11.452

2017 3.440 7.019 10.459

2018 3.804 7.189 10.993

2019* 2.563* 5.676* 8.239*

Insgesamt 32114 59561 91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspers

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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