Entscheidungsdatum
01.04.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W191 2141022-1/11E
W191 2141022-2/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich
1) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2016, Zahl 1074429906-150708740, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.09.2019
2) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.12.2019, Zahl 1074429906-191055365
zu Recht:
Ad 1)
A)
Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 25.10.2016 wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Ad 2)
A)
I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. des Bescheides vom 27.12.2019 wird gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall Asylgesetz 2005 stattgegeben, und werden diese ersatzlos behoben.
II. Spruchpunkt II. des Bescheides vom 27.12.2019 wird dahingehend geändert, dass dem Antrag vom 20.09.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 stattgegeben und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für weitere zwei Jahre erteilt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig
(1
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurde nach seinem Aufgriff am 20.06.2015 in 1100 Wien Hauptbahnhof, gemeinsam mit vier weiteren Fremden, mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 29.05.2015 in Mytilini (Griechenland) und am 19.06.2015 in Bahdarigkiskunhalas (Ungarn) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 21.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX , Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Als Geburtsdatum wurde nach den Altersangaben des BF der XXXX festgehalten. Er habe sieben Jahre lang die Grundschule besucht. Zu Hause würden noch seine Eltern, vier Brüder und zwei Schwestern leben.
Der BF schilderte seine Reiseroute. Die Reise habe sein Onkel organisiert und bezahlt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass es in Afghanistan keine Sicherheit gebe. Die Taliban hätten ihm gedroht, ihn in den Krieg nach Syrien zu senden.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) hatte zunächst Zweifel an der vom BF angegebenen Minderjährigkeit und holte eine Handwurzelröntgenaufnahme vom 03.07.2015 ein, wonach das vom BF angegebene Alter offenbar akzeptiert und der BF zum Verfahren zugelassen wurde.
1.4. Das Land Steiermark als damalige gesetzliche Vertreterin des BF als Träger der Kinder- und Jugendhilfe betraute Mitarbeiterinnen der Caritas der Diözese Graz-Seckau am 26.11.2015 mit der Vertretung des BF im Asylverfahren.
1.5. Bei seiner Einvernahme am 27.07.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein seines damaligen gesetzlichen Vertreters, einer Vertrauensperson und eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und gab auf Befragung im Wesentlichen Folgendes an:
Sein Vater sei Landwirt und sein Bruder Hilfsarbeiter.
Einer seiner Brüder sei bereits verstorben, er sei vor ca. sieben Jahren bei der Arbeit in der Provinz Helmand bei einem Anschlag ums Leben gekommen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass er sich wegen der Taliban in seinem Dorf nicht mehr frei bewegen hätte können, da ein Dorfbewohner, ein Kommandant, ein Gegner der Taliban sei. Es sei nicht möglich gewesen, von einer Stadt zur anderen zu gehen, dann sei man aufgehalten, kontrolliert und getötet worden. Die Familie lebe weiter zuhause, können sich aber nicht uneingeschränkt bewegen.
Der BF bestätigte auf Nachfrage sein Vorbringen in der Erstbefragung, dass die Taliban ihn in den Krieg nach Syrien hätten schicken wollen.
Die Sicherheitslage in ganz Afghanistan sei sehr schlecht, auch in Kabul würden viele Menschen getötet.
Dem BF schilderte seine Integrationsbemühungen in Österreich und legte Belege dafür vor.
Dem Vertreter des BF wurden "die Feststellungen zur Situation im Heimatland Afghanistan" (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA) - unchronologisch im Verwaltungsakt vor der Einvernahmeniederschrift eingeordnet - übergeben und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt.
1.6. Mit Schreiben seines Vertreters vom 05.08.2016 nahm der BF Stellung und zitierte aus mehreren Berichten zu Afghanistan. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheine das Vorbringen des BF zur Gefahr der Festnahme und Zwangsrekrutierung glaubhaft. Zudem sei er als unbegleiteter Minderjähriger eine besonders vulnerable Person. Es sei ihm daher Asyl zu gewähren und in eventu zumindest subsidiärer Schutz zu erteilen.
Beigelegt war der Stellungnahme die Tazkira (afghanisches Personaldokument) des BF in Kopie.
1.7. Mit Bescheid vom 25.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 21.06.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm in Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 25.10.2017.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Mit seinem Vorbringen betreffend die Fluchtgründe hätte der BF keine konkrete individuelle asylrelevante Verfolgungsgefahr dargelegt, wiewohl es glaubhaft erscheine, dass der BF einerseits für sich in Europa bessere Lebensbedingen schaffen "und andererseits der Bedrohung durch Drittpersonen (Taliban) entgehen" wolle.
Die Gewährung von subsidiärem Schutz begründete das BFA damit, dass sich aufgrund der vorliegenden Länderfeststellungen im Fall des BF eine Rückkehrgefährdung ergebe. Er würde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt sein und die Rechte nach Art. 3 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) würden verletzt werden. Seine Rückkehr in seine Heimatprovinz erscheine derzeit, obwohl er dort nach wie vor Familienangehörige habe, nicht möglich, da er minderjährig sei.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände, "hier konkret bezogen auf die persönliche Bedrohung durch den Kommandanten und die Situation seiner Familie" [...] ebenfalls nicht zur Verfügung. Es könne zum derzeitigen Zeitpunkt aufgrund der noch in Afghanistan und seinem Wohngebiet bzw. Aufenthaltsbereich stattfindenden Anschläge, der (noch) schlechten Versorgungslage, der hohen Arbeitslosenrate und mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten bei einer Rückkehr in sein Heimatland Afghanistan (noch) von einer [einer] unmenschlichen Behandlung gleichzusetzenden Situation gesprochen werden.
1.8. Mit Schreiben seines Vertreters vom 22.11.2016 brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein, mit dem dieser Bescheid vom 25.10.2016 bezüglich Spruchpunkt I. (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) wegen "inhaltlicher Rechtswidrigkeit, Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung" angefochten wurde.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass der BF sein Fluchtvorbringen schlüssig dargelegt habe. Dies werde auch durch diverse zitierte Berichte bestätigt. Dem BF sei Asyl zu gewähren.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.9. Mit 21.04.2017 wurde der BF von der Grundversorgung abgemeldet. Als Abmeldungsgrund wurde angeführt: "Heirat, Eigenvermögen, Verpflichtungserklärung".
1.10. Am 20.09.2017 brachte der BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein. Das BFA gab diesem Antrag mit Bescheid vom 16.10.2017 statt und verlängerte die Aufenthaltsberechtigung bis zum 25.10.2019.
1.11. Das BVwG führte bezüglich des angefochtenen Bescheides vom 25.10.2016 (betreffend § 3 AsylG - Asyl) am 16.09.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seines nunmehr zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters persönlich erschien. Das BFA hatte auf die Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung verzichtet.
In der Verhandlung gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari. Ich verstehe darüberhinaus etwas Farsi, das habe ich hier in Österreich von anderen Afghanen gelernt.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: In Dari.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein.
[...]
Der BF hat bisher seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) in Farbkopie vorgelegt. Bezüglich seiner Fluchtgründe hat er kein Bescheinigungsmittel vorgelegt und legt auch heute keines vor.
Bezüglich seiner Integration hat er mehrere Belege vorgelegt (Bestätigungen über die Teilnahme am Deutschkurs A1, an einem Bildungskurs und an einer Fußballveranstaltung). Heute legt er weiters vor:
Arbeitsvertrag (Küchenhilfe in einem Gastronomiebetrieb, von 2017 bis April 2019), Zahlungsbelege bezüglich Führerschein, Teilprüfungszeugnis für Pflichtschulabschluss-Prüfung (Englisch). Diese werden in Kopie zum Akt genommen.
BF: Ich benötige den Führerschein für eine Arbeitsstelle in Altenmarkt, die ich in Aussicht habe (Autozulieferbetrieb). Ich wohne in einer Wohnung in Liezen in Untermiete.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin schiitischer Muslim. Auf Nachfrage gebe ich an, dass ich nicht die Moschee besuche, die nächste befindet sich in Graz, und auch nicht das islamische Gebetshaus in Liezen. Seit ca. zwei Jahren halte ich auch nicht das Fasten im Ramadan ein.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Nein.
RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kinder?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe in Afghanistan sieben Jahre die Schule besucht.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Mein Vater hat als Landwirt gearbeitet, sowohl auf eigenen Grundstücken als auch für Lohn.
RI: Wann haben Sie Afghanistan verlassen?
BF: Ca. 2014. Auf Vorhalt gebe ich an, dass ich mich wohl geirrt habe, es müsste 2015 gewesen sein.
RI: Wo leben Ihre Verwandten?
BF: Meine Familie (Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern) sowie ein Onkel mütterlicherseits leben nach wie vor im Heimatort XXXX , zwei Onkel väterlicherseits leben im Iran.
RI: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?
BF: Nein, außer meinerTazkira kann ich nichts vorlegen.
Auf mehrere Nachfragen durch den RI gibt der BF zusammengefasst sinngemäß an:
BF: Ich habe bei meiner Einvernahme vor dem BFA eine Kopie meiner Tazkira auf meinem Handy vorgezeigt. Daraufhin hat mir die Behörde aufgetragen, meine Tazkira vorzulegen. Ich habe meinen Vater angerufen, der die Tazkira einem in Wien lebenden Bekannten geschickt hat. Dieser hat mich dann kontaktiert und mir die Tazkira persönlich gebracht.
RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen.
BF: Ich habe mehrere österreichische Freunde und verbringe mit ihnen Zeit. Wir gehen z.B. Spazieren oder Radfahren.
Angemerkt wird, dass die anwesende Vertrauensperson auf Befragung durch den RI die Angaben des BF immer wieder bestätigt und näher erklärt.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Wenn Sie langsam sprechen, verstehe ich alles, was Sie sagen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich habe im Jahr 2017 die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden. Der Abschluss in Deutsch entspricht B1.
RI ersucht D, die Daten auf der Tazkira zu übersetzen.
D: Bezüglich des Alters ist festgehalten: Im Alter von 17 Jahren im Jahr 1395 (umgerechnet 2016).
D übersetzt die weiteren Daten.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ich telefoniere ca. einmal in zwei Monaten mit meinen Eltern.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?
BF: Ja, ich kann mich an meine Angaben erinnern, sie entsprechen der Wahrheit, und ich habe alles gesagt.
RI: Wurde Ihr Bruder vorsätzlich getötet, oder hatte er nur das Pech, dass er in einen Bombenanschlag gekommen ist?
BF: Er wurde nicht vorsätzlich getötet, sondern kam bei einem Bombenanschlag auf der Straße in Helmand ums Leben.
RI: Wie alt waren Sie zum Zeitpunkt des Todes des Bruders? Laut Einvernahme vor dem BFA waren Sie sieben Jahre alt und es sei sieben Jahre davor geschehen?
BF: Ich glaube eher, dass ich zehn Jahre alt war.
RI: Wieso hätten die Taliban Sie nach Syrien schicken sollen?
BF: Nein, die Taliban wollten mich in den Krieg schicken. Nach Syrien schicken die Iraner.
RI: Wohin hätten die Taliban Sie schicken wollen?
BF: In den Krieg nach Kunduz, Helmand. Ich habe bei meiner Einvernahme vor dem BFA gesagt, dass die Iraner die Menschen nach Syrien in den Krieg schicken.
RI: Wovor sind Sie geflohen?
BF: Es gab in unserem Wohngebiet einen Kommandanten namens XXXX . Dieser kämpfte in der Provinz Uruzgan gegen die Taliban. Nachdem er zurückgedrängt worden war, griffen die Taliban unser Wohngebiet an, da der Kommandant dort lebte. Darüber hinaus konnten wir in Afghanistan nicht herumreisen, etwa nach Herat, Kabul oder Mazar-e Sharif. Die Taliban verlangten von uns, unsere Tazkira vorzuzeigen. Sie haben auch junge Männer mitgenommen bzw. rekrutiert. Z.B. jene Männer, die alt oder nicht kampftauglich waren, wurden dort von den Taliban getötet.
RI: Wie alt sind Ihre beiden Brüder jetzt?
BF: Ein Bruder ist 32 Jahre alt, der andere Bruder war 14 Jahre alt.
RI: Diese Angaben haben Sie im Jahr 2015 gemacht, stimmen die heute noch?
BF: Ja, meine Angaben stimmen mit meinen damaligen Angaben überein.
RI: Aber dann müssten doch Ihre Brüder jetzt vier Jahre älter sein?
BF: Ja, das stimmt.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Ich würde getötet oder in den Krieg geschickt werden.
RI: Warum können Ihre beiden Brüder dann dort leben?
BF: Mein älterer Bruder lebt derzeit im Iran, ungefähr seit vier Jahren. Er ist einige Monate nach meiner Ausreise aus Afghanistan weggegangen.
RI: Warum kann Ihr 18-jähriger Bruder dort leben?
BF: Mein jüngerer Bruder ist damals auch aus Afghanistan ausgereist, wurde an der griechisch-türkischen Grenze aufgehalten und in den Iran zurückgeschickt, wo er seither lebt.
RI: Warum haben Sie zuerst angegeben, dass Ihre Brüder noch im Heimatort leben?
BF: Zum Zeitpunkt meiner Ausreise lebten sie dort.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV [Vertreter des BF] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
Die Verhandlung wird um 10:40 Uhr unterbrochen und um 10:45 Uhr fortgesetzt.
BFV: Warum haben Ihre Brüder XXXX und XXXX das Land verlassen?
BF: Aufgrund der unsicheren Lage und auch der Bedrohungen durch die Taliban haben sie Afghanistan verlassen.
BFV: Hatten Ihre Brüder besondere Probleme mit den Taliban?
BF: Besondere Probleme hatten sie nicht. Genau wie ich konnten sie sich auch nicht frei bewegen.
BFV: Haben die Taliban Ihre Brüder ersucht, mit ihnen zu kämpfen?
BF: Ja. Der ältere Bruder wurde schon damals von den Taliban aufgefordert, mit ihnen in den Krieg zu ziehen, als ich dort war.
BFV: Können Sie Beweise dafür vorlegen, dass Ihre beiden Brüder deswegen aus Afghanistan geflüchtet sind und im Iran leben?
BF: Ja.
Dem BF wird auf sein Ersuchen eine Frist von vier Monaten zur Nachbringung von Belegen für sein Fluchtvorbringen (etwa bezüglich seiner Brüder im Iran) eingeräumt.
RI befragt BFV, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.12. Innerhalb der dem BF eingeräumten Nachfrist hat er - bis dato - keine Belege für sein Vorbringen nachgebracht.
1.13. Mit ausgefülltem Formularvordruck vom 20.09.2019 stellte der BF beim BFA einen weiteren Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 AsylG (subsidiärer Schutz).
Dem Verwaltungsakt liegt in der Folge das gesamte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (385 Seiten) - auch mit all seinen umfangreichen, für das gegenständliche Verfahren irrelevanten Teilen - ein.
1.14. Bei seiner Einvernahme am 17.10.2019 vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, machte der BF Angaben zu seinen Integrationsbemühungen in Österreich und legte mehrere Belege vor (Dienstvertrag, Arbeitsvertrag, Pflichtschulabschluss-Prüfungszeugnisse). Heute nachmittags habe er Führerscheinprüfung. Der BF machte auf Befragung Angaben zu seinen Lebensumständen in Österreich und zu jenen seiner Familie in Afghanistan. Die Lage sei nach wie vor schlecht. Bei einer Rückkehr würden ihn die Taliban auch aus dem zusätzlichen Grund, dass er im westlichen Ausland gewesen sei, schlecht behandeln bzw. verfolgen.
Der einvernehmende Referent behauptete, dass dem BF eine Rückkehr nach Herat, Kabul oder Balkh zumutbar sei, worauf der BF entgegnete, dass es keine sicheren Provinzen gebe und die wirtschaftliche Lage sehr schlecht sei.
1.15. Mit Aktenvermerk vom 17.12.2019 - dem Verwaltungsakt unchronologisch einliegend - führte der Referent des BFA aus, dass sich die persönlichen Umstände des BF geändert hätten, er verfüge über Berufserfahrungen in verschiedenen Bereichen und habe an Reife und Lebenserfahrung gewonnen. Er sei jung, gesund und arbeitsfähig und es sei eine Rückkehr nach Herat, Kabul und Mazar-e Sharif "aus heutiger Sicht möglich".
1.16. Mit Bescheid des BFA vom 27.12.2019 wurde der dem BF mit Bescheid vom 25.10.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). In Spruchpunkt II. wurde ihm die mit Bescheid vom 24.08.2016 erteilte Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen
In den Spruchpunkten III. - VI. wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Eine Abweisung eines Antrages auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG enthält der Spruch dieses Bescheides nicht.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Die Aufhebung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass zum heutigen Zeitpunkt für ihn als alleinstehenden, jungen, arbeitsfähigen und gesunden Mann die Möglichkeit einer Rückkehr in sein Heimatland bestehe. Er habe sich in Österreich wertvolle Kenntnisse aneignen können, welche ihm bei seiner Rückkehr von Vorteil sein könnten. Aufgrund der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan hätte keine allgemeine relevante Gefährdungslage festgestellt werden können. Es sei eine "Rückkehr" nach "Kabul, Herat, Mazar-eh Sharif" aus heutiger Sicht möglich.
1.17. Gegen diesen Bescheid des BFA vom 27.12.2019 (Aberkennung von subsidiärem Schutz) erhob der BF mit Schreiben seines nunmehrigen Vertreters vom 17.01.2020 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen "Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, aufgrund mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung" angefochten wurde.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Gründe, die zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den BF geführt haben, sich im Wesentlichen nicht geändert hätten. Die Voraussetzungen für die Aberkennung gemäß § 9 lägen sohin mangels wesentlicher Änderung der maßgeblichen Umstände nicht vor.
Der BF würde im Fall einer Abschiebung in eine ausweglose Lebenssituation geraten. Verwiesen wurde auf die Vielzahl der vom BF in Österreich gesetzten integrativen Bemühungen.
1.18. Das BFA legte die Beschwerde gegen den Bescheid vom 27.12.2019 samt Verwaltungsakt vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
1.19. Mit Eingabe vom 03.03.2020 legte der BF weitere Integrationsunterlagen vor (Pflichtschulabschlussprüfungszeugnisse, Mietvertrag, Dienstvertrag etc.).
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 21.06.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 27.07.2016 und 17.10.2019, die vom BF vorgelegten Belege bezüglich seiner Integration sowie die gegenständlichen Beschwerden vom 22.11.2016 und vom 17.01.2020, sowie Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF in den erstbehördlichen Verfahren (Auszüge aus den jeweils aktuellen Länderinformationsblättern der Staatendokumentation des BFA)
* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und zur Lage der Hazara sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)
o Auszug aus dem Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017 (Arbeitsübersetzung) sowie
o Auszug aus: "EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierungsstrategien der Taliban" (Juli 2012, Seiten 42-44)
Der BF hat keine Beweismittel oder sonstige Belege für sein Fluchtvorbringen vorgelegt.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.
3.1.2. Lebensumstände des BF in Afghanistan:
Der BF stammt aus der Provinz Ghazni und lebte mit seinen Eltern und seinen vier Brüdern und zwei Schwestern in XXXX , Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni. Er besuchte sieben Jahre die Schule.
Ein Bruder ist vor über zehn Jahren bei einem Bombenanschlag in Helmand ums Leben gekommen, die beiden anderen Brüder sind nach den Angaben des BF in den Iran gezogen.
3.1.3. Der BF hat Afghanistan im Alter von 16 Jahren aus angegebenen Problemen verlassen und in Österreich am 20.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
3.1.4. Lebensumstände des BF in Österreich:
Der BF bemüht sich in Österreich ernsthaft und erfolgreich um seine Integration. Er hat sich gute Deutschkenntnisse angeeignet, wohnt privat, hat soziale Kontakte mit Österreichern, macht den Pflichtschulabschluss nach und ist erwerbstätig. Er ist strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat mit seinem Vorbringen, dass die Taliban in seinem Heimatort die Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten und dass sie ihn verfolgt und ihm Zwangsrekrutierung angedroht hätten, eine und konkrete, individuelle asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.
3.3. Zum subsidiären Schutz:
Dem BF wurde mit Bescheid des BFA vom 25.10.2016 rechtskräftig der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt: Mit Bescheid vom 16.10.2017 wurde seine befristete Aufenthaltsberechtigung um weitere zwei Jahre bis zum 25.10.2019 verlängert.
Eine im Vergleich zu den Bescheiden vom 25.10.2016 und 16.10.2017 eingetretene grundlegende und dauerhafte Änderung jener Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, liegt nicht vor.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.4.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.11.2019):
"[...] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
[...]
Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
[...]
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertret