TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/2 W187 2174540-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.04.2020
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Entscheidungsdatum

02.04.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W187 2174540-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährige Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner Mutter, XXXX (Beschwerdeführerin zu XXXX ), und seinem Bruder, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, er sei am XXXX in XXXX in Afghanistan geboren, ledig und habe keine Kinder. Er sei gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Österreich eingereist. Als Beweggrund für seine Ausreise führte der Beschwerdeführer an, er habe seelische und nervliche Probleme. Seit zehn bis zwölf Jahren sei er drogensüchtig und nehme alles, was er bekomme. Er sei wegen der medizinischen Behandlung hier. Zudem sei die Sicherheitslage in Afghanistan schlecht, die Taliban seien an der Macht.

3. Am XXXX langte eine Beschuldigtenvernehmung des Beschwerdeführers, durchgeführt von der Polizeiinspektion XXXX , bei der belangten Behörde ein. Dieser ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer der gefährlichen Drohung gegenüber seiner Mutter und seinem Bruder beschuldigt wird. Die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers erteilten keine Ermächtigung zur Strafverfolgung. Der Abschluss-Bericht der Polizeiinspektion XXXX langte am XXXX bei der zuständigen Regionaldirektion der belangten Behörde ein.

4. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Beschwerdeführer gab hier an, dass er Tadschike sei und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam anhänge. Er sei gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Österreich eingereist. Seinen Vater (Beschwerdeführer zu XXXX ) hätten sie an der türkischen Grenze verloren, er halte sich zwischenzeitlich aber ebenfalls in Österreich auf. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, die Familie sei hauptsächlich wegen der Behandlung seines Bruders aus Afghanistan ausgereist. Die finanzielle Situation der Familie sei zu schlecht für die Behandlung des Bruders gewesen. Der Beschwerdeführer selbst habe seit seinem XXXX . Lebensjahr Drogen genommen und sei seit ungefähr XXXX ( XXXX ) krank. Seine Erkrankung sei erst aufgetreten, als er begonnen habe, Drogen zu konsumieren. Der Beschwerdeführer leide an Vergesslichkeit und neurologischer Unruhe. In Afghanistan habe er sich nicht in Behandlung befunden und einen Selbstmordversuch unternommen. Seine Familie sei auch wegen seiner Drogensucht und seiner Behandlung Richtung Europa gereist. In Afghanistan sei weder eine medizinische Behandlung des Beschwerdeführers, noch seines Bruders möglich gewesen, da die Ärzte sehr viel Geld verlangt hätten. Aktuell konsumiere der Beschwerdeführer keine Drogen und befinde sich in Therapie. Wenn er Stress habe, trinke er Bier. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Beschwerdeführer wieder Drogen konsumieren. In Afghanistan herrsche keine Sicherheit, man habe dort immer Angst.

5. Am XXXX langte eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX betreffend die Vorführung des Beschwerdeführers in eine Krankenanstalt wegen Selbst- und Fremdgefährdung gemäß § 46 Abs. 1 SPG bei der belangten Behörde ein.

6. Mit dem gegenständlichen angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 4 AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX erteilt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

7. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, mit Schreiben vom XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder fristgerecht Beschwerde wegen Verletzung der einfachgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG, auf Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens (§§ 37 ff AVG) und auf klare Begründung des Bescheids (§ 58 Abs 2 iVm § 60 AVG) sowie wegen Verstoßes gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht von willkürlichem Handeln der Behörde in Form von qualifizierter Rechtswidrigkeit betroffen zu sein (Art I ff BVG Rassendiskriminierung), und wegen Verstoßes gegen Art 2, 3 und 8 EMRK.

8. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem beantragte die belangte Behörde die Abweisung der Beschwerde.

9. Am XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bundesverwaltungsgericht zwei Berichte der Polizeiinspektion XXXX betreffend den Beschwerdeführer. Dem Bericht vom XXXX ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer aus seiner Wohnung weggewiesen worden sei, da der Beschwerdeführer zu viel Alkohol getrunken und in der Wohnung randaliert habe. Er habe mit Gegenständen in der Wohnung herumgeworfen, einen Spiegel und Glas zerschlagen, seinen Vater umklammert und seinen Kopf mehrmals gegen die Wand geschlagen. Dabei habe sich der Beschwerdeführer eine Verletzung zugezogen. Gegen den Beschwerdeführer wurde ein Betretungsverbot gemäß § 38a SPG ausgesprochen. Dem in einem übermittelten Bericht der Polizeiinspektion XXXX betreffend einen Vorfall vom XXXX ist zu entnehmen, dass der Bruder des Beschwerdeführers den Beschwerdeführer angezeigt habe, da dieser ständig Probleme mache und herumschreie. Zu einer Tätlichkeit sei es nicht gekommen. Ein verwaltungs- oder strafrechtlicher Tatbestand sei nicht erkennbar gewesen.

10. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX und XXXX eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer wegen § 89 Abs 1 StGB.

11. Am XXXX langte eine Strafverfügung der Landespolizeidirektion XXXX vom XXXX betreffend den Beschwerdeführer beim erkennenden Gericht ein, mit der gegen den Beschwerdeführer wegen vier Verwaltungsübertretungen vom XXXX nach § 81 Abs 1 und § 82 Abs 1 SPG mehrere Geldstrafen im Gesamtbetrag von ? 384,02 verhängt werden.

12. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt.

13. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines ausgewiesenen Rechtsvertreters sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung unentschuldigt fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

"[...]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Ja, seit vier Monaten nehme ich keine Medikamente mehr ein. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Ich habe glücklicherweise eine Arbeit, ich war drogenabhängig. Mir wurden Schmerzmittel wir Tramadol und Drogenersatzmittel gegeben. Wenn ich starke Kopfschmerzen habe und Bedarf habe, dann darf ich diese Medikamente einnehmen.

[...]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer nickt.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Geboren wurde ich in XXXX , mein genaues Geburtsdatum weiß ich nicht, es steht aber auf diesem Ausweis, dass ich am XXXX geboren bin.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich spreche Farsi, ich habe auch etwas Englisch gelernt. Vier Jahre konnte ich die Schule in der Heimat besuchen, aber wegen den Kriegszuständen konnte ich die Schule nicht mehr besuchen und ich bin dann in den Iran gekommen. Ich hatte am Anfang zwei Lehrer, die mir das Alphabet beigebracht haben und ich habe auch den A1 Kurs abgeschlossen, konnte aber die Prüfung nicht ablegen. Meine Mutter ist Krebs krank geworden, ich habe mich dann um sie gekümmert, den Einkauf für meine Eltern erledigt und gemeinsam mit ihnen gekocht. Ich kann leider nicht jede Arbeit machen und schwere Lasten kann ich nicht tragen, weil ich starke Schmerzen am Handgelenk verspüre. Die jetzige Arbeit habe ich seit circa sechs Monaten und ich mache auch Fitness. Mir geht es jetzt wesentlich besser, ich leide nicht mehr an dieser starken Vergesslichkeit.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin Tadschike, Moslem und komme aus Herat. Ich bin ledig.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe mich in Herat aufgehalten und habe geschneidert. Ich bin dann in den Iran gekommen. In Afghanistan habe ich mich nur in Herat aufgehalten.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Im Haus meines Vaters.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Vier Schulstufen lang habe ich die Schule besucht. Danach habe ich angefangen zu schneidern, meine Mutter ist Schneiderin. Das Schneidern hat mich interessiert. Ich bin dann drogenabhängig geworden. Das waren keine einfachen Zigaretten, sondern Marihuana und alles was noch dazu gehört, also harte Drogen habe ich auch genommen. Kerat (harte Droge laut Beschwerdeführer) ist Heroin. Das ist kein reines Heroin, sondern da nimmt man auch Kokain hinzu und das ist ein gemischtes Mittel. Es gibt welche, die sich das durch die Vene spritzen. Ich habe mir eine Schnittwunde zugefügt und in diese Schnittwunde habe ich dann das Mittel reingefügt.

Richter: Warum haben Sie begonnen diese Drogen zu nehmen?

Beschwerdeführer: Es waren meine Freunde, die mich zuerst dazu verleitet haben, eine Zigarette zu rauchen. Bevor ich in den Abgrund gerutscht bin, war ich sportlich tätig und habe geboxt und es gab auch Mädchen, die sich für mich interessiert haben. Ich habe so viel konsumiert, so dass ich nichts mehr um mich wahrgenommen habe. Mein Zustand war mehr als nur "schlecht". Bevor XXXX sein Bein amputiert wurde, habe ich wenig geblödelt, damit meine ich konsumiert. Nach seiner Amputation hat das stark zugenommen. Ich war dann richtig abhängig. Ich wollte nie jemand anderem Schaden hinzufügen, aber mein größter Feind war ich selbst. Ich wollte mir selbst Schaden zufügen, ich habe zweimal versucht mich zu erhängen, dann habe ich versucht zu verbluten. Zu meinem Bruder hatte ich eigentlich eine gute Beziehung. Bei einem Selbstmordversuch hätte ich beinahe das Augenlicht verloren. Es war traurig zuzusehen, wie meine Mutter versucht hat, mich weinend zu füttern. Ich bin schwer krank geworden und es war unmöglich sich um mich zu kümmern, die Medikamente waren nicht leistbar. Ich wollte mich verändern. Seit circa XXXX Jahren stehe ich in ärztlicher Betreuung. Ich habe mir das Leben wohl selbst vermasselt.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: In XXXX . Ich habe Tanten väterlicherseits in Afghanistan. Eine Tante mütterlicherseits. Ich habe auch einen Onkel väterlicherseits, der nach uns in den Iran gekommen ist. Sonst fällt mir niemand ein.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ganz selten.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Nein, ich habe den Sohn meiner Tante väterlicherseits, mit ihm habe ich ein paar Mal gesprochen.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich gehe arbeiten. Ich habe auf einer Baustelle gearbeitet. Diese Arbeit ist jetzt zu Ende. Um zwar habe ich dort aufgeräumt, man wird mir aber eine neue Arbeit geben und meine Angehörigen haben mir gesagt, ich solle versuchen, eine Ausbildung zu machen.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Nein, ich habe keine Freunde.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein, ich betreibe Fitness und darüber hinaus besuche ich ein Sprachcafé.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Ich habe Alkohol konsumiert, das war im Lager und danach ging es mir schlecht. Ich hatte Probleme mit der Polizei, weil ich Alkohol konsumiert habe und die Polizisten haben mich auch geschlagen und mir gesagt, ich solle nichts mehr trinken. Ich möchte aber keine Probleme verursachen, ich versuche mein Leben zu führen.

Richter: Was war bei dem Vorfall am XXXX ?

Beschwerdeführer: Ja, ich kann mich daran erinnern. Ich hatte einen Streit mit XXXX . XXXX hat mir vorgeworfen, warum ich mich selbst zerstöre? Wir haben gestritten, ich bin auf ihn zugegangen, er hat mich leicht zurückgestoßen und ich habe dann fest zugeschlagen.

Richter: Was war bei dem Vorfall am XXXX ?

Beschwerdeführer: Ich war unruhig, hatte kein Geld und konnte mir nicht einmal eine Zigarette kaufen. Meine Mutter war krank. Sie war gesund und eine Stütze für mich, plötzlich war sie dann aber krank. Ich weiß es nicht. Im Lager ist einiges passiert, ich war krank. Ich habe damals auch viel getrunken, aber jetzt nicht mehr.

Richter: Was war bei dem Vorfall am XXXX ?

Beschwerdeführer: Der Unterkunftsgeber hat mir gesagt, ich solle kein Alkohol mehr trinken, weil es mir schadet. Ich hatte dann zu Hause wegen meiner Alkoholsucht, Streit und dann habe ich die ganze Vodkaflasche ausgetrunken und habe dann mit der leeren Flasche mich am Oberarm selbstverletzt. Die Polizei hat dann gesagt, ich soll das lassen.

Richter: Was war bei dem Vorfall am XXXX ?

Beschwerdeführer: Siehe Aussage zum Vorfall vom XXXX .

Richter: Was war bei dem Vorfall am XXXX ?

Beschwerdeführer: Hat mich die Polizei angehalten? Die Polizei hat mich angehalten. Ich war unterwegs, sie haben mich gefragt, warum ich so betrunken bin. Ich war betrunken. Dann hat mich die Polizei mitgenommen und sie haben gesagt, ich soll meinen Rausch ausschlafen. Ich habe eine Geldstrafe bekommen, ? 381 oder ? 400.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Es ging auch um mich, aber hauptsächlich um XXXX , er wurde amputiert und musste weiter operiert werden. Meine Mutter hat auch gesagt, dass ich wegen ihm Verantwortung übernehmen muss und Geld sparen muss. Damals waren die Grenzen offen und wir haben diese Möglichkeit genutzt.

Richter: Sind Sie in Afghanistan jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Dort bin ich drogenabhängig geworden. Freunde haben mir diese Droge gegeben. Ich habe auch Haschisch geraucht. Ich bin mit meinen Freunden mitgezogen, sie haben mir das gegeben, was sie bei sich hatten.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich weiß es nicht mehr. Wegen einer Einvernahme bin ich heute hier.

Der Beschwerdeführer und der Rechtsvertreter bringen nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja."

Die Eltern des Beschwerdeführers und sein Bruder wurden am selben Tag vom erkennenden Richter in den Verfahren XXXX ( XXXX ), XXXX ( XXXX ) und XXXX ( XXXX ) zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz und ihren Beschwerdegründen einvernommen.

14. Am XXXX langten beim Bundesverwaltungsgericht drei Dokumentationen der Polizeiinspektion Bad Hall gemäß § 38a SPG vom XXXX bzw XXXX ein. Diesen ist zu entnehmen, dass gegen den Beschwerdeführer ein Betretungsverbot für die Wohnungen XXXX und XXXX ausgesprochen wurde, da der Beschwerdeführer am XXXX andere Mitbewohner im Asylheim bedroht und belästigt habe. Er habe drei andere Bewohner des Asylheims mehrmals verbal bedroht, immer wieder tätlich angegriffen und auch geschlagen. Die gefährdeten Personen hätten angegeben, große Angst vor dem Beschwerdeführer zu haben und sich nicht mehr auf den Gang oder in die gemeinsamen Wohnräume zu trauen. Der Beschwerdeführer habe den Eindruck erweckt, durch Alkohol oder Suchtmittel beeinträchtigt gewesen zu sein. Er sei enthemmt gewesen und habe sich gegenüber den einschreitenden Beamten aggressiv verhalten. Den Dokumentationen ist zu entnehmen, dass es zu keinen Verletzungen der gefährdeten Personen gekommen ist. Der Beschwerdeführer wurde zur Durchsetzung des Betretungs- und Annäherungsverbots weggewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und die Verfahrensakten des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, seine Eltern, XXXX (Beschwerdeführerin zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) sowie seinen Bruder, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari bzw. Farsi. Er kann diese Sprache sowohl lesen als auch schreiben. Weiter spricht er etwas Englisch und Deutsch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Herat geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus auf. Er lebte dort bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan. Vor seiner Ausreise Richtung Europa hielt sich der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Kernfamilie sechs Monate im Iran auf.

Der Beschwerdeführer besuchte in seinem Herkunftsstaat vier Jahre die Schule. Anschließend arbeitete der Beschwerdeführer mit seiner Mutter als Schneider.

Die Eltern des Beschwerdeführers sowie sein Bruder leben in Österreich in XXXX . Eine Tante mütterlicherseits und drei Tanten väterlicherseits des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Provinz Herat in Afghanistan. Ein Onkel väterlicherseits und drei Tanten väterlicherseits des Beschwerdeführers leben zwischenzeitlich im Iran. Der Beschwerdeführer hat ab und zu Kontakt zu seinen Angehörigen.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer gelangte gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er hält sich seit seiner Einreise durchgehend im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer lebt in Österreich getrennt von seinen ebenfalls im Bundesstaat aufhältigen Eltern und seinem Bruder. Er bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer nahm seit seiner Einreise an mehreren Deutschkursen teil. Zuletzt besuchte er im XXXX einen Deutschkurs auf Niveau A1 (Teil 2) des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Der Beschwerdeführer hat noch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Er ist seit XXXX erwerbstätig und bei der XXXX beschäftigt. Der Beschwerdeführer besucht in Österreich regelmäßig ein Sprachcafé sowie einen Nähtreff. Er ist kein Mitglied in einem Verein. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft; er hat jedoch nach eigenen Angaben keine Freunde. In seiner Freizeit betreibt der Beschwerdeführer Sport (Fitness, Fußball und Volleyball), hört Musik oder repariert Kleidungsstücke.

Die Eltern, XXXX und XXXX , sowie der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , leben ebenfalls in Österreich. Ihnen wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX jeweils der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Der Beschwerdeführer lebt getrennt von seiner Familie. Es besteht keine (gegenseitige) Abhängigkeit des Beschwerdeführers zu seinen Eltern oder seinem Bruder. Der Beschwerdeführer ist nicht auf die Unterstützung bzw. Hilfe seiner Eltern oder seines Bruders in Österreich angewiesen.

Weitere Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers leben nicht in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat Afghanistan stark drogenabhängig. Es lag multipler Substanzgebrauch vor. In der Vergangenheit hat der Beschwerdeführer mehrere Selbstmordversuche unternommen. Er ist seit seiner Ankunft in Österreich in regelmäßiger Betreuung in der Drogenberatungsstelle XXXX in XXXX . Im Jahr XXXX wurde der Beschwerdeführer fachärztlich begutachtet. Es bestanden beim Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt eine psychomotorische Anspannung, akustische Halluzinationen, aggressive Impulsdurchbrüche, sowie eine Konzentrations- und Gedächtnisstörung. Der Beschwerdeführer leidet unter einem organischen Psychosyndrom bei langjährigem Substanzmissbrauch und unter Opiatabhängigkeit. Beim Beschwerdeführer wurde eine Substitutionsbehandlung durchgeführt; er befand sich in medikamentöser Behandlung. Derzeit nimmt der Beschwerdeführer keine Medikamente mehr ein. Im wurden jedoch weiterhin Schmerzmittel und ein Drogenersatzmittel verschrieben. Bei Bedarf (etwa bei starken Kopfschmerzen) soll der Beschwerdeführer diese Medikamente einnehmen. Weiter wurde beim Beschwerdeführer im XXXX eine Zahnsanierung durchgeführt. Ansonsten ist der Beschwerdeführer im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit mangelnder medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat, der allgemeinen Sicherheitslage sowie (in seiner Beschwerde) mit gezielten Angriffen auf die Familie des Beschwerdeführers durch unbekannte Akteure.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , trat in Afghanistan ungefähr im Jahr XXXX in eine in der Nähe des Hauses der Familie des Beschwerdeführers ausgelegte Mine, wodurch er ein Bein verlor. In der Gegend, in der die Familie des Beschwerdeführers lebte, waren mehrere Minen verlegt. Es handelte sich bei der verlegten Mine nicht um einen gezielten Anschlag auf die Familie des Beschwerdeführers oder auf seinen Bruder, XXXX . Insbesondere wurde die Mine nicht gezielt durch Angehörige der Mutter des Beschwerdeführers verlegt, weil sie ursprünglich Sunnitin war und einen Schiiten heiratete. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen oder Verfolgung durch unbekannte Akteure oder Angehörige seiner Mutter, etwa aufgrund der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe der Familie, ausgesetzt wäre, ist daher nicht zu erwarten.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.4.1.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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