Entscheidungsdatum
03.06.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W136 2205293-1/9E
W136 2205289-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Brigitte HABERMAYER-BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX und 2. XXXX , geb. XXXX , beide StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 23.07.2018, Zlen. 1. 1111232208-160520284 und 2. 1111232110-160520314, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, beide afghanische Staatsangehörige, in die Republik Österreich ein, wo sie am 11.04.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
2. Bei der Erstbefragung am 12.04.2016 gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu ihren Fluchtgründen an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und die allgemeine Lage, insbesondere für Frauen schlecht sei. Außerdem habe sie ihre Heimat wegen der Feindschaften ihres Mannes verlassen. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat fürchte sie den Krieg und die Feinde ihres Mannes.
Der Zweitbeschwerdeführer gab im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er seine Heimat aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten mit den Cousins seines Vaters verlassen habe. Diese hätten seinen Vater ermordet und hätten auch ihn töten wollen. Außerdem herrsche in Afghanistan Krieg und es gebe dort wegen der Taliban keine Sicherheit. Bei einer Rückkehr in seine Heimat fürchte er seine Feinde und den Krieg.
3. Am 30.04.2018 wurden die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen.
Die Erstbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihr Ehemann in Afghanistan mit den Cousins seines Vaters in Feindschaft gelebt habe. Es sei zweimal auf ihn geschossen worden und sechs Monate vor der Ausreise sei ihr Ehemann von den Cousins seines Vaters verprügelt worden. Die Dorfbewohner hätten ihn befreien können. Seine Onkel hätten in der Moschee gehört, dass die Cousins seines Vaters dahinterstecken würden und ihm geraten, von dort wegzugehen. Seine Onkel mütterlicherseits seien ermahnt worden. Sie seien von den Cousins des Vaters aufgefordert worden, ihnen den Zweitbeschwerdeführer zu übergeben, widrigenfalls die Cousins des Vaters die Häuser des Onkels mütterlicherseits verbrennen würden. Ergänzend führte sie aus, dass der Vater ihres Mannes mitgenommen worden sei, als dieser gefrühstückt habe und dass am nächsten Tag seine Leiche zurückgebracht worden sei. Dies hätten die Cousins des Vaters wegen der vielen Grundstücke ihres Ehemannes gemacht. Da ihr Ehemann bedroht worden sei und in Lebensgefahr gewesen sei, hätten sie Afghanistan verlassen.
Ferner brachte sie vor, dass in Afghanistan Frauen ohne Kopftuch nicht aus dem Haus gehen könnten. Wenn man keinen Schleier trage, dann werde man gesteinigt. Sie habe immer den Wunsch gehabt, etwas zu lernen, aber die Taliban hätten Frauen nicht erlaubt, etwas zu lernen oder sich zu entwickeln. Sie wolle nicht mehr ein Leben wie in Afghanistan führen, sondern sich in Österreich ein gutes Leben aufbauen und Kinder bekommen, die später eine Ausbildung machen und studieren könnten. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan habe sie Angst davor, dass ihr Mann getötet werde.
Der Zweitbeschwerdeführer brachte zu seinen Fluchtgründen zusammenfassend im Wesentlichen vor, dass sein Vater von dessen Cousins wegen seiner Grundstücke getötet worden sei. Sein Vater habe gefrühstückt, als die Cousins gekommen seien und ihn mitgenommen hätten. Am nächsten Tag hätten diese die Leiche seines Vaters nach Hause gebracht. Er sei damals 12 oder 13 Jahre alt gewesen. Seine Onkel mütterlicherseits hätten sie aufgenommen und sie seien bei diesen aufgewachsen. Als er zwei Jahre vor seiner Ausreise auf dem Weg zum Bazar gewesen sei, hätten drei Männer, die sich in einem Obstgarten versteckt und auf ihn gewartet hätten, plötzlich aus ca. 200 Meter Entfernung auf ihn geschossen. Er sei in eine Grube gesprungen und habe unverletzt davonkommen können. Ein- bis eineinhalb Jahre später und ein Jahr vor seiner Ausreise sei abermals auf ihn geschossen worden, als er die Felder bewässern habe wollen. Auch damals sei er davongekommen. Sieben oder acht Monate nach diesem Vorfall bzw. sechs oder vier Monate vor seiner Ausreise sei er auf den Feldern zur Mittagszeit von den Cousins seines Vaters angehalten und verprügelt worden. Die Dorfbewohner seien ihm zu Hilfe gekommen und hätten ihn befreit. In der Moschee sei gesagt worden, dass die Cousins seines Vaters die Absicht hätten, ihn zu töten und diese auch versucht hätten, ihm das Leben zu nehmen. Darüber sei er von seinem Onkel mütterlicherseits informiert worden. Die Cousins seines Vaters hätten ihn unter Druck setzen wollen, da er der einzige Sohn gewesen sei und diese die Grundstücke seines Vaters hätten haben wollen. Die letzten vier Monate vor seiner Ausreise habe er sich im Haus aufgehalten, damit er nicht getötet werden würde. Außerdem herrsche in Afghanistan Krieg. Die Cousins seines Vaters, die die Absicht hätten, ihn zu töten, seien Taliban. Er habe nur drei Schwestern und eine alte Mutter, welche zurzeit bei seinem Onkel mütterlicherseits leben würden. Nach dem Tod seines Vaters habe sein Onkel väterlicherseits seine Mutter unter Zwang heiraten wollen, doch diese habe sich geweigert. In Afghanistan sei sein Leben in Gefahr. Aus diesem Grund habe er eines der Grundstücke verkauft und sei nach Österreich gekommen.
4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).
Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass die Erstbeschwerdeführerin kein eigenes Fluchtvorbringen vorgebracht habe und sich lediglich auf die Probleme ihres Ehemannes, dessen Glaubwürdigkeit aufgrund der oberflächlichen, inhaltsleeren, nicht nachvollziehbaren bzw. widersprüchlichen Schilderung seiner Geschichte versagt worden sei. Auch habe sie die Behörde nicht davon überzeugen können, dass sie als Frau einer gegen sie persönlich gerichteten Verfolgungsgefahr aus einem asylrelevanten Grund ausgesetzt gewesen wäre, da sie weder im Rahmen der Erstbefragung noch vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ansatzweise dargelegt habe, inwiefern ihre Ausreise aus Afghanistan im ursächlichen Zusammenhang mit ihrer Situation als Frau gestanden sei. Die belangte Behörde ging davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin während der Einvernahme bei 27 Grad deswegen einen Schal um den Hals getragen habe, um diesen jederzeit als Kopfbedeckung zur Verfügung zu haben. Da die Erstbeschwerdeführerin keinen Satz auf Deutsch formulieren habe können, obwohl sie angegeben habe, dass sie täglich Deutsch lerne, sei ihre persönliche Glaubwürdigkeit beeinträchtigt. Nicht glaubhaft sei weiters die geschilderte Freundschaft mit einem Doktor sowie dass sie den islamischen Schwimmanzug deshalb trage, weil andere Afghanen aus ihrer Asylunterkunft ebenfalls im Schwimmbad seien.
Das Fluchtvorbringen des Zweitbeschwerdeführers sei nicht glaubhaft und dieser habe in Bezug auf seine behaupteten Fluchtgründe und hinsichtlich der Rückkehrsituation keinen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. So sei es unwahrscheinlich, dass die Cousins des Vaters 16 Jahre lang mit Verfolgungshandlungen zugewartet hätten, um sich die Grundstücke mit Gewalt aneignen zu können. Der Zweitbeschwerdeführer sei trotz mehrerer Nachfragen nicht in der Lage gewesen, den geschilderten Angriff mit Schusswaffengebrauch auf seine Person lebensnah zu schildern. Nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft sei weiters, dass sich die Cousins des Vaters beim letzten Vorfall durch eine direkte Konfrontation mit Dritten abschrecken hätten lassen. Außerdem habe der Zweitbeschwerdeführer sein Vorbringen gesteigert, da dieser in der Erstbefragung nie erwähnt habe, dass die Cousins seines Vaters zu den Taliban gehören würden. Auch könne aufgrund von aufgezeigten unterschiedlichen chronologischen Darstellungen nicht von einem glaubhaften Fluchtvorbringen ausgegangen werden. Die belangte Behörde ging daher davon aus, dass es sich bei diesem Vorbringen um ein bloßes Konstrukt handle und der Zweitbeschwerdeführer Afghanistan aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe.
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführer in die Städte Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zurückkehren könnten.
5. Gegen diese Bescheide brachten die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde ein.
Nach einer auszugsweisen Wiederholung des bisherigen Fluchtvorbringens wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde mangelhafte Länderfeststellungen und mangelhafte Feststellungen zur Person der Erstbeschwerdeführerin getroffen habe. Die Argumentation der belangten Behörde, dass ein Kleidungsstück in eine Kopfbedeckung umfunktioniert werden könnte, sei keine Begründung für die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin afghanische, soziale, Frauen diskriminierende Normen nicht ablehne. Weiters habe die belangte Behörde nicht begründet, weshalb sie davon ausgehe, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund ihres Bildungsniveaus in Afghanistan nicht verfolgt werden würde, wenn sie einer Lohnarbeit nachgehen würde. Da die Erstbeschwerdeführerin nicht in den Genuss einer weitreichenden Bildung gekommen sei, verfüge sie noch über keine sehr guten Deutschkenntnisse und habe sie den Namen des Doktors nicht wiedergeben können. Den islamischen Schwimmanzug trage sie inzwischen nicht mehr, sie fahre allein Rad, sei für die familiären Finanzen verantwortlich, entscheide selbst über ihre Kleidung und möchte lernen, arbeiten und ein selbstbestimmtes Leben führen. Daher hätte die belangte Behörde feststellen müssen, dass sie aus innerer Überzeugung einen westlichen Lebensstil führe und ihr daher in Afghanistan Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen drohe. Weiters würden die Beschwerdeführer wegen der politischen Opposition des Zweitbeschwerdeführers gegenüber den Taliban, welchen er trotz familiärer Bindungen seine Grundstücke nicht überlassen habe wollen, verfolgt werden. Den Beschwerdeführern stehe entgegen der Ansicht der belangten Behörde keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da die Taliban in der Lage seien, Oppositionelle im gesamten afghanischen Staatsgebiet zu verfolgen und der Erstbeschwerdeführerin im gesamten afghanischen Staatsagebiet politische und religiöse Verfolgung drohe. Den Beschwerdeführern drohe aufgrund ihrer politischen und religiösen Überzeugung unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung durch anhaltende starke Diskriminierung in allen Lebensbereichen, durch inadäquate medizinische Versorgung und auch eine Verletzung ihres Rechts auf Leben. Sie seien ohne familiäre Unterstützung auch nicht in der Lage, sich eine Lebensgrundlage auszubauen. Die belangte Behörde hätte ihnen daher den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Ferner würden die Beschwerdeführer über viele Freunde und Freundinnen in Österreich verfügen und gut in der Dorfgemeinschaft integriert sein. Insbesondere der Zweitbeschwerdeführer unterstütze andere Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen freiwillig durch Gartenarbeiten und Hilfstätigkeiten. Die Erstbeschwerdeführerin möchte lernen und am liebsten als Friseurin arbeiten. Hätte die belangte Behörde Ermittlungen zum bestehenden Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer in Österreich angestellt, hätte sie erkennen müssen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig sei. Außerdem seien die angefochtenen Bescheide inhaltlich rechtswidrig, weil die belangte Behörde verkannt habe, dass durch eine Rückkehrentscheidung die Beschwerdeführer in ihren Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt werden würden.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 10.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
Mit Schreiben vom 18.12.2019 wurden die Beschwerdeführer und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.01.2020 geladen.
Am 27.01.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu mit der Erst- und dem Zweitbeschwerdeführer und deren Vertretung eine mündliche Verhandlung durch, bei der die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer ausführlich zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu ihrer Lebenssituation und Integration in Österreich befragt wurden.
In einer am selben Tag von der Rechtsvertreterin vorgelegten Stellungnahme zu den zuvor übermittelten Länderberichten wurde darauf hingewiesen, dass der Erstbeschwerdeführerin als eine westlich orientierte Frau im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung drohe und den Beschwerdeführern unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan zur Verfügung stehe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an und sind Sunniten. Die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer sind miteinander verheiratet.
1.2. Zur Person der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und zu ihrer Ausreise aus Afghanistan:
Die Erstbeschwerdeführerin ist in der Provinz Kapisa, im Distrikt Tagab, im Dorf XXXX geboren sowie aufgewachsen. Sie hat keine Schule besucht und ist keiner Beschäftigung nachgegangen. Der Zweitbeschwerdeführer hat für ihren Lebensunterhalt gesorgt.
Der Zweitbeschwerdeführer ist ebenfalls in der Provinz Kapisa, im Distrikt Tagab, im Dorf XXXX geboren und aufgewachsen. Er hat keine Schule besucht und hat seit seinem 15. Lebensjahr in der Landwirtschaft seines Onkels mütterlicherseits und auf seinen eigenen Grundstücken gearbeitet.
Die Eltern und Geschwister der Erstbeschwerdeführerin leben im Distrikt Tagab, im Dorf XXXX . Die Onkel sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits sowie die Tanten mütterlicherseits leben ebenso im Distrikt Tagab. Ihre Tante väterlicherseits lebt im Iran. Die Erstbeschwerdeführerin hat Kontakt zu ihren Eltern. Die Mutter und Schwestern des Zweitbeschwerdeführers leben in Afghanistan. Der Zweitbeschwerdeführer pflegt Kontakt zu seiner Mutter. Er besitzt in seiner Heimatprovinz Grundstücke.
Die Beschwerdeführer verließen Afghanistan im Jänner 2016 und reisten schlepperunterstützt über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo sie am 11.04.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Die Beschwerdeführer sind gesund. Der Zweitbeschwerdeführer leidet an einer Anpassungsstörung und Gastritis. Es handelt sich dabei um keine ernsthaften Erkrankungen.
Eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Erkrankung verläuft bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei rund 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe - und nahezu alle Todesfälle - treten vorrangig in den Risikogruppen der älteren Personen (ab 65 Jahren) und der Personen mit physischen Vorerkrankungen (insbesondere Herz- und Lungenkrankheiten, Krebs oder deutlich reduzierter Immunabwehr) auf. Für junge und körperlich gesunde Menschen ist bereits das Risiko eines schweren Verlaufs minimal. Die Mortalitätsrate im Erkrankungsfall liegt für Personen in der Altersstaffel der Beschwerdeführer (nach Erhebungen in Italien, Spanien, Südkorea und den Niederlanden) bei rund 0,1%.
Die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer gehören keiner Risikogruppe im Zusammenhang mit CoVid-19 an. Die CoVid-19-Pandemie stellt für die Erst- und den Zweitbeschwerdeführer kein "real risk" im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat dar.
1.3. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Die Beschwerdeführer befinden sich seit ihrer Antragstellung im April 2016 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Die Beschwerdeführer beziehen seither regelmäßig Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.
Die Erstbeschwerdeführerin ist überwiegend mit der Haushaltsführung beschäftigt. Sie pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen, insbesondere zu ihren Nachbarn und einem Arzt in ihrem Wohnort. Neben den erwähnten Freundschaften, ist die Erstbeschwerdeführerin kein Mitglied von Vereinen. In ihrer Freizeit geht sie spazieren, Radfahren oder schwimmen.
Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über kein Deutschzertifikat und besucht derzeit keine Deutschkurse. Sie ist nicht in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarster Basis auf Deutsch zu kommunizieren. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt ebenso über kein Deutschzertifikat und kann sich auf Deutsch rudimentär verständigen.
Die Erstbeschwerdeführerin war bisher nicht erwerbstätig. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Österreich bisher im Reinigungsbereich gearbeitet. Die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer leben von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügen sie über keine Einstellzusage. Abgesehen von vereinzelten privaten Haus- und Gartenarbeiten des Zweitbeschwerdeführers haben sie bisher keine gemeinnützigen Aufgaben übernommen.
Die Erstbeschwerdeführerin hat bisher keine Unternehmungen gesetzt, um ihren Wunsch nach einer Berufstätigkeit als Friseurin umzusetzen. Sie ist wenig kontakt- und kommunikationsfreudig.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Der Zweitbeschwerdeführer war vor seiner Ausreise aus Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung oder Bedrohung - etwa durch die Cousins seines Vaters bzw. die Taliban wegen Grundstücksstreitigkeiten - ausgesetzt. Den Beschwerdeführern droht daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung durch private Verfolger.
Der Erstbeschwerdeführerin droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "westlich-orientierter Frauen". Weiters ist weder die Erstbeschwerdeführerin auf Grund der Tatsache, dass sie sich mehrere Jahre in Europa aufgehalten und hier eine "westliche Wertehaltung" kennengelernt hat, noch ist jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan allein aus diesem Grund zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt sind oder eine solche, im Falle ihrer Rückkehr, zu befürchten hätten.
Die Beschwerdeführer konnten nicht glaubhaft machen, dass ihnen im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat aufgrund ihrer individuellen Situation im Zusammenhang mit der Lage in ihrer Herkunftsregion ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK) droht.
1.5. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsprovinz Kapisa ist aufgrund der dort vorherrschenden schlechten Sicherheitslage nicht möglich.
Aufgrund der vorliegenden Länderinformationen steht den Beschwerdeführern aus dem Blickwinkel der Sicherheitslage eine innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung. Die Beschwerdeführer haben bisher in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat nicht gelebt. Die Beschwerdeführer können Mazar-e Sharif oder Herat sicher mit dem Flugzeug von Österreich erreichen.
Sowohl die Erst- als auch der Zweitbeschwerdeführer sind in Afghanistan aufgewachsen und haben dort ihre Sozialisation erfahren. Sie sind jung, gesund und der Zweitbeschwerdeführer hat dort seit seinem 15. Lebensjahr in der Landwirtschaft gearbeitet. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt demnach über langjährige Berufserfahrung als Landwirt, konnte auch bisher durch seine berufliche Tätigkeit in Afghanistan seinen Lebensunterhalt und jenen seiner Frau bestreiten und ist kein Grund ersichtlich, weshalb er dies nicht auch künftig tun könnte. Ihnen wäre daher der (Wieder)Aufbau einer Existenzgrundlage etwa in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat möglich, zumal sie in ihrer Heimat noch ausreichenden familiären Anschluss haben. Die Beschwerdeführer hätten zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.
Im Falle einer Verbringung des Zweitbeschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem daher kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK). Es ist dem Zweitbeschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Der Erstbeschwerdeführerin wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren. Da jedoch der Zweitbeschwerdeführer für ihren Unterhalt sorgen könnte, wäre der Erstbeschwerdeführerin eine Rückkehr nach bzw. ein Leben in Mazar-e Sharif oder Herat im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar. Es ist daher kein Grund ersichtlich, warum eine Wiederansiedlung in ihrer Heimat nicht möglich sein sollte.
1.6. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung wurden den Parteien aktuelle Länderfeststellungen zur Lage in AFGHANISTAN zur Kenntnis gebracht und im Folgenden diesem Erkenntnis zugrunde gelegt.
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, letzte Aktualisierungen eingefügt am 18.05.2020:
Allgemeines:
Zur Herkunftsprovinz der Beschwerdeführer:
Kapisa
Die Provinz Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans, umgeben von den Provinzen Panjshir im Norden, Laghman im Osten, Kabul im Süden und Parwan im Westen (UNOCHA 4.2014). Kapisa ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Alasai, Hissa-e-Awali Kohistan, Hissa-e-Duwumi Kohistan, Koh Band, Mahmood Raqi, Nijrab und Tagab. Mahmood Raqi ist die Provinzhauptstadt von Kapisa (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Kapisa für den Zeitraum 2019 - 2020 auf 479.875 Personen (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani (FP 11.11.2014; vgl. NPS o.D.), wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben (AAN 06.04.2015).
Eine Hauptstraße verbindet die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi mit Kabul (iMMAP 19.09.2017).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Kapisa 2018 nicht zu den zehn wichtigsten afghanischen Provinzen, die Schlafmohn anbauen. Die Größe der Anbaufläche verringerte sich 2018 im Vergleich zu 2017 um 60%. Schlafmohn wurde hauptsächlich in den Distrikten Tagab und Alasai angebaut (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Kapisa hat strategische Bedeutung: für Aufständische ist es einfach, die Provinzhauptstadt von Kapisa und die benachbarten Provinzen zu erreichen (AAN 24.04.2012). Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen (KP 23.05.2019); wie z.B. im zentral gelegenen Distrikt Nijrab (AN 21.05.2019). Im März 2019 konnten sie beispielsweise drei Dörfer - Afghania, Pachaghan und Ghin Dara - in Kapisa erobern (AT 24.03.2019).
Aufseiten der Regierungskräfte liegt Kapisa in der Verantwortung des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019; vgl. FRP 05.01.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[...] Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 139 zivile Opfer (39 Tote und 100 Verletzte) in Kapisa. Dies entspricht einer Zunahme von 38% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) (UNAMA 24.02.2019).
Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen (KP 23.05.2019; vgl. KP 29.04.2019). Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch (z.B. KP 29.06.2019; KP 12.06.2019; MENAFN 08.05.2019; KP 29.04.2019; FRP 05.01.2019; PAJ 02.01.2019; PAJ 06.12.2018; XI 01.12.2018; PAJ 26.11.2018; NYT 26.09.2018; RFE/RL 0210.4.2018; AA 11.03.2018; PAJ 06.03.2018; KP 01.03.2018). Auch werden Luftangriffe ausgeführt (PAJ 26.11.2018 ; UNAMA 25.09.2019, CC 27.07.2018) - in manchen Fällen werden dabei auch hochrangige Taliban getötet (CC 27.07.2018) oder Dörfer von den Taliban zurückerobert (PAJ 18.01.2019). Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften (XI 14.08.2019; vgl. FRP 05.01.2019).
IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 7.560 konfliktbedingt aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst, sowie in den benachbarten Provinzen Kabul und Parwan Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 1.617 aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die vor allem nach Kabul (973) kamen oder in Kapisa verblieben (UNOCHA 18.08.2019). Im Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 meldete UNOCHA 5.789 Vertriebene in die Provinz Kapisa, die vor allem aus der Provinz selbst (5.600) und aus benachbarten Provinzen stammten (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 539 konfliktbedingt Vertriebene in die Provinz Kapisa, die alle aus dem Distrikt Nijrab stammten (UNOCHA 18.08.2019)."
Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.04.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019 - 20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.01.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. (TD 05.012.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.03.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 09.01.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 01.09.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 06.05.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.03.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban, die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.08.2019). Einem UN-Bericht zufolge gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 01.02.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.02.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.04.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.09.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[...] Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz (UNAMA 24.02.2019). Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten sechs Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden (UNAMA 30.07.2019).
Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.02.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.06.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.09.2019; vgl KP 29.08.2019, KP 31.08.2019, KP 09.09.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.01.2019; vgl. KP 09.09.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 09.01.2019; vgl. TN 10.01.2019), Chemtal (TN 11.09.2018; vgl. TN 06.07.2018), Dawlatabad (PAJ 03.09.2018; vgl. RFE/RL 04.09.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.04.2019) an.
Berichten zufolge errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.08.2019; vgl. 10.08.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.08.2019).
IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 1.218 aus der Provinz Balkh vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 4.361 konfliktbedingt Vertriebene aus Balkh, die allesamt in der Provinz selbst verblieben (UNOCHA 18.08.2019). Im Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 meldete UNOCHA 15.313 Vertriebene in die Provinz Balkh, darunter 1.218 aus der Provinz selbst, 10.749 aus Faryab und 1.610 aus Sar-e-Pul (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 14.301 Vertriebene nach Mazar-e-Sharif und Nahri Shahi, die aus der Provinz Faryab, sowie aus Balkh, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (UNOCHA 18.08.2019).
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 09.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.06.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere "temporäre" Distrikte - Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) -, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 03.07.2015; vgl. PAJ 01.03.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019 - 20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 03.02.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.06.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 05.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.09.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.03.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.05.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.06.2019).
Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu, und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.06.2019).
Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.06.2019).
Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.01.2017; vgl. RUSI 16.03.2016; SAS 02.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 02.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.06.2019).
2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt (taz 03.08.2017; Reuters 25.03.2018).
Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 02.01.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[...] Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 24.02.2019).
In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (KP 16.06.2019; vgl. KP 28.09.2019, KP 29.06.2019, KP 17.06.2019, 21.05.2019). Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte (KP 16.06.2019; vgl. AN 23.06.2019). In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet (AN 23.06.2019; vgl. KP 17.12.2018; KP 25.12.2018). Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften (NYTM 12.12.2018; AJ 07.12.2018; AN 30.11.2018; KP 28.04.2018; VoA 13.04.2018). Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 (KP 17.12.2018) und Januar 2019 Operationen in Shindand durch (KP 26.01.2019). Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat (TN 08.09.2018). Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch ist, sondern sich täglich ändert und sich in einer Pattsituation befindet (AAN 09.12.2018). Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an (AT 02.06.2019; vgl. PAJ 13.06.2019), und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch (XI 11.07.2019). Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (KP 05.07.2019; vgl. PAJ 30.06.2019) wie z.B. in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol (PAJ 30.06.2019).
Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder (ST 14.12.2018).
IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 609 konfliktbedingt aus der Provinz Herat vertriebene Personen, von denen die meisten in der Provinz selbst Zuflucht fanden (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum vom 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 586 aus der Provinz Herat vertriebene Personen (UNOCHA 18.08.2019). Im Zeitraum vom 01.01. - 31.12.2018 meldete UNOCHA 5.482 Vertriebene in die Provinz Herat, von denen die meisten (2.755) aus Ghor stammten (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 6.459 konfliktbedingt Vertriebene in die Provinz Herat, von denen die meisten (4.769) aus Badghis stammten (UNOCHA 18.08.2019)."
Anmerkung: Weitere Informationen zu Herat - u.a. zur Sicherheitslage - können der Analyse der Staatendokumentation "Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat" vom 13.06.2019 entnommen werden (BFA 13.06.2019).
Frauen
Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft (BFA Staatendokumentation 4.2018). Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 23.3.2016). Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit (AF 13.12.2017). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. AF 13.12.2017). Viel hat sich dennoch seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).
Bildung
Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).
In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).
Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).
Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).
Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).
Berufstätigkeit
Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o.D.).
Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. LobeLog 15.11.2017). Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MENA FN 19.12.2017).
Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent (BFA Staatendokumentation 4.2018) und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht (BFA Staatendokumentation; vgl. IWPR 18.4.2017). Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WB 28.8.2017).
Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).
Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind (BFA Staatendokumentation 4.2018). In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. YM 11.12.2017). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden (BFA Staatendokumentation; vgl. USAID 26.9.2017). In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019 (BFA Staatendokumentation; vgl. AKDN 26.7.2017). In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist und in deren Filiale sogar ein eigener Spielbereich für Kinder eingerichtet wurde (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. GABV 26.7.2017).
Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017). Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017).
Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).
Meldewesen
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig "gelbe Seiten" oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen (EASO 2.2018; vgl. BFA 13.6.2019). Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer (BFA 13.6.2019). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 2.9.2019).
Zusammenfassung einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: "Afghanistan - Frauen in urbanen Zentren" vom 18.09.2017 sowie European Asylum Support Office, Individuals targeted under social and legal norms, Pkt. 3.2.:
Kleidungsvorschriften
Generell umfasst Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschieden Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten. Es herrschen weiterhin Debatten über die angemessenste Art der Bekleidung von Frauen, vor allem auch darüber was letztendlich eine richtige "islamische" Körper- oder Kopfbedeckung darstellt. Die Vorstellungen, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen sollen bzw. dürfen unterscheiden sich oft erheblich, je nach der Herkunft, Geschlecht und Bildungsstand der Befragten.
Der jährliche Bericht zu Afghanistan der Asia Foundation - einer internationalen Entwicklungs-NGO mit Sitz in San Francisco - beinhaltet auch eine Umfrage zum Thema Verschleierung und angemessener Kleidung von Frauen in der Öffentlichkeit. Im Jahr 2016 wurden 12,658 Afghaninnen und Afghanen zu verschieden Möglichkeiten der Kopf- und Körperbedeckung befragt. Nur 1.1% der Befragten fanden, dass es für eine Frau angemessen sei sich völlig unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dagegen fanden 38% der befragten Männer und 30% der befragten Frauen, dass die Burka die angemessenste Form der Körperbedeckung für Frauen in der Öffentlichkeit sei. In den Antworten war jedoch ein starkes Gefälle in der Präferenz der Burka bei Befragten aus ländlichen und städtischen Gebieten zu verorten. Während 38,5% der Befragten aus ländlichen Gegenden die Burka bevorzugten, taten dies nur 20,3% der Befragten aus Städten. Ethnische Zugehörigkeit, sowie Bildung spielten ebenfalls eine erhebliche Rolle in der Bevorzugung und Akzeptanz der jeweiligen Kopf- bzw. Körperbedeckung. So bevorzugen Paschtunen die Burka, während Hazara zu weniger strengen Formen der Kopfbedeckung tendierten.
Auch Frauen in Kabul kleiden sich traditionell oder bescheiden (engl. "modestly") zur Vermeidung von Belästigungen.
Bewegungsfreiheit
Während Frauen in Afghanistan grundsätzlich einen männlichen Begleiter, Kollegen oder Bewacher benötigen, welcher sie außerhalb des Hauses begleitet, gilt dies nicht für die Großstädte Herat, Mazar und Kabul.
Beschäftigungsmöglichkeiten und Freizeitmöglichkeiten
Afghanische Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif in einer Vielzahl beruflicher Felder aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Es bestehen mannigfaltigen Schwierigkeiten, mit denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Berufswelt zu kämpfen haben. Diese reichen von Diskriminierung in der Rekrutierung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung. Während es Frauen der afghanischen Elite seit dem Ende der T