TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/16 L507 2011860-3

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Veröffentlicht am 16.08.2019
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Entscheidungsdatum

16.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L507 2011860-3/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.05.2016, Zl. 831227209 / 1709835 / BMI-BFA-RD-STM, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.12.2016 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3 und 57 AsylG iVm

§ 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz von Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides zu lauten hat: "Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt."

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am 22.08.2013 aufgrund des Dublin Übereinkommens von Österreich aus Belgien übernommen und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesbezüglich wurde er am 23.08.2013 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes des SPK Schwechat erstbefragt.

Im Rahmen dieser Befragung führte der Beschwerdeführer aus, dass er vor dem türkischen Geheimdienst geflohen sei, der ihn schon seit 1997 verfolge. Damals sei ihm vorgeschlagen worden, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, was er abgelehnt habe. Seit diesem Zeitpunkt habe der Beschwerdeführer keine Ruhe mehr. Er habe Angst, dass ihn der Geheimdienst vergifte. Sie hätten dies schon einmal versucht, jedoch habe es der Beschwerdeführer nicht beweisen können.

2. Am 31.10.2014 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen.

Dabei führte er einleitend aus, dass es ihm nicht gestattet gewesen sei, ins Ausland zu gehen. Weiters legte der Beschwerdeführer dar, dass sein Onkel gewollt habe, dass er dessen Tochter, seine Cousine, heirate. Der Cousin des Beschwerdeführers, ein Mitglied der Terrorgruppe Ergenekon, sei jedoch dagegen gewesen, dass der Beschwerdeführer als Schwiegersohn in die Familie komme.

Zudem habe der Staat zwischen zwei Dörfern ein Wasserkraftwerk bauen wollen. Der Beschwerdeführer habe in einem der beiden Dörfer gewohnt und sei damit nicht einverstanden gewesen. Der Beschwerdeführer habe sich an die Staatsanwaltschaft gewandt und Anzeige erstattet. Somit habe ihn sein gewalttätiger Cousin nicht umbringen können.

Das Wasserkraftwerk sei dennoch gebaut worden. Der Beschwerdeführer habe Anzeigen erstattet und habe es auch Gerichtsverhandlungen diesbezüglich gegeben. Am Ende sei nichts dabei herausgekommen. Man habe jedoch Gift in das Essen des Beschwerdeführers gemischt und ihn ein paar Mal vergiften wollen. Er habe nirgendwo mehr essen gehen wollen, damit man ihn nicht vergifte. Man habe ihm sogar Polonium 210 verabreicht. Der Beschwerdeführer sei deswegen zur Staatsanwaltschaft gegangen. Der Beschwerdeführer führte ferner aus, dass er im Jahr 1997 im Zuge einer Demonstration für einige Stunden festgehalten und geschlagen worden sei. Die Personen hätten gesagt, dass sie Polizisten seien und er mit ihnen zusammenarbeiten und für sie Informationen beschaffen solle. Der Beschwerdeführer habe jedoch nichts mit ihnen zu tun haben wollen und habe abgelehnt.

Am 07.03.2007 habe man dem Beschwerdeführer Gift ins Essen gemischt. Sie seien bei ihm zuhause eingedrungen und hätten Gift in sein Essen gegeben. Eine halbe Stunde, nachdem der Beschwerdeführer gegessen habe, habe er einen Schmerz in seiner Schulter gespürt, der sich langsam ausgebreitet habe. Er sei auch im Krankenhaus gewesen, jedoch habe man nichts gefunden. Diese Personen seien auch mehrmals beim Beschwerdeführer eingedrungen. Wenn er einkaufen gegangen sei, habe er eine Nadel in die Tür gesteckt und wenn er nachhause gekommen sei, sei die Nadel immer ganz woanders gesteckt.

Der Beschwerdeführer habe diesbezüglich Anzeige gegen drei Verwandte erstattet, da er sie in Verdacht gehabt habe, ihn vergiften zu wollen. Seine Verwandten seien seit 1997 immer gegen ihn gewesen, da er nicht mit ihnen zusammengearbeitet habe. Alle würden zusammenhängen und immer gegen den Beschwerdeführer agieren. Er habe sie immer wieder angezeigt.

Am Ende der Einvernahme wurden dem Beschwerdeführer die Länderfeststellungen zur Situation in der Türkei erörtert und gab er diesbezüglich an, dass gegen diese unbekannten Leute nichts unternommen werden würde.

Nach dem Ende der Einvernahme gab der Beschwerdeführer gegenüber der anwesenden Dolmetscherin an, dass man ihm auch Zecken in die Wohnung gebracht und sich einer der Zecken an seinem Körper festgesetzt habe. Diese Verfolgung solle ebenfalls im Verfahren berücksichtigt werden.

3. Mit Bescheid vom 14.01.2015, Zl. Zl. 831227209 / 1709835 / BMI-BFA-RD-STM, wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab. Gemäß

§ 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 46 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei. Gemäß

§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Beweiswürdigend wurde vom BFA zusammenfassend ausgeführt, dass den Angaben des Beschwerdeführers kein Glauben geschenkt werden habe können, da seine Angaben in sich zu widersprüchlich und unlogisch gewesen seien. Aufgrund seiner Ausführungen sei davon auszugehen, dass es sich bei den behaupteten Verfolgungshandlungen um reine Fantasieprodukte handle.

Zudem sei es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine ausweglose Lage geraten würde.

Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

4. Mit Verfahrensordnung des BFA vom 15.01.2015 wurde dem Beschwerdeführer gemäß

§ 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

5. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß am 16.01.2015 zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 23.01.2015 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.

Dabei führte der Beschwerdeführer aus, dass er sein gesamtes Leben lang Probleme in der Türkei gehabt habe. Man habe ihn vergiften wollen und lege er Laborbefunde und weitere Unterlagen zum Beweis dafür vor, dass er tatsächlich vergiftet worden sei. Da das Gift nicht so schnell vom Körper abgebaut werde, wolle er, dass ein neues ärztliches Gutachten durchgeführt werde, wodurch sichtbar werde, dass das Gift noch heute in seinem Körper sei.

Neben den erwähnten Unterlagen wurden der Beschwerde handschriftliche Ausführungen des Beschwerdeführers in seiner Muttersprache beigefügt.

Diese eigenhändig verfasste Ergänzung des Beschwerdeführers habe jedoch nicht übersetzt werden können, zumal es den kontaktierten Dolmetschern nicht möglich war, aufgrund der Vermischung mehrerer Sprachen eine zusammenhängende Übersetzung anzufertigen.

6. Mit Schriftsatz vom 28.01.2015 gab der (damalige) rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers seine Vollmacht bekannt und wurde (abermals) Beschwerde gegen den Bescheid des BFA erhoben.

Darin wird ausgeführt, dass der Cousin des Beschwerdeführers Mitglied von Ergenekon, einer Terrorgruppe in der Türkei, gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe stets um sein Leben bangen müssen, da er selbst kein Mitglied sein wollte. Er sei diesbezüglich unter Druck gesetzt worden und habe man ihm die Ausreise aus der Türkei verweigert. Da sich der Beschwerdeführer gegen eine Mitarbeit gewehrt habe, habe man ihm Gift (Polonium 210) ins Essen gemischt.

Dem Ganzen sei ein Vorfall im Jahr 1997 vorangegangen, bei dem der Beschwerdeführer an einer Demonstration teilgenommen habe und von angeblichen Polizisten angehalten und geschlagen worden sei. Es habe sich herausgestellt, dass diese Polizisten Ergenekon angehört hätten.

Da der Beschwerdeführer geglaubt habe, beobachtet zu werden, habe er aus Angst eine Flucht unterlassen. Aufgrund der Vergiftungsversuche habe er in weiterer Folge Anzeige bei der türkischen Staatsanwaltschaft erstattet. Diese sei gegen drei Verwandte des Beschwerdeführers erfolgt, da er davon ausgegangen sei, dass diese ihn vergiften hätten wollen. Er habe sich stets verfolgt gefühlt und habe keiner geregelten Arbeit nachgehen können.

Der Beschwerdeführer sei in seiner Heimatstadt nicht sicher und laufe bei einer Rückkehr Gefahr, mit dem Tod bedroht zu sein. Der türkische Staat habe gegen die Terrorgruppe Ergenekon keinerlei Handlungsmöglichkeiten und sei ein Schutz des Beschwerdeführers aus diesem Grund nicht möglich.

7. Mit hg. Beschluss vom 09.03.2015, Zl. L514 2011860-2/11E, wurde der Bescheid des BFA vom 14.01.2015, Zl. Zl. 831227209 / 1709835 / BMI-BFA-RD-STM, behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen.

In der Begründung wurde neben einer unplausiblen Beweiswürdigung sowie einer fehlenden Auseinandersetzung mit vorgelegten Unterlagen auch dargelegt, dass das BFA trotz der dargelegten Zweifel am geistigen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers keine geeigneten Erhebungen (wie etwa eine Untersuchung durch einen Facharzt) vorgenommen habe.

8. Am 02.06.2015 wurde der Beschwerdeführer erneut niederschriftlich vor dem BFA einvernommen. Dabei brachte der Beschwerdeführer Einwände gegen die anwesende Dolmetscherin vor und wurde der Beschwerdeführer davon in Kenntnis gesetzt, dass er zwecks Feststellung seiner Einvernahme- und Zurechnungsfähigkeit einem Facharzt zugewiesen werde.

9. Mit Schriftsatz vom 11.06.2015 wurde eine Stellungnahme seitens des (damaligen) Vertreters des Beschwerdeführers abgegeben und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer gegen den Leiter der Amtshandlung am 02.06.2015 einen Einwand erhoben habe und dieser daraufhin (willkürlich) ohne jegliche Begründung eine medizinische Untersuchung bei einem Facharzt angeordnet habe. Am 02.06.2015 habe jedenfalls keine Einvernahme stattgefunden, woraus man irgendwelche Schlüsse ziehen hätte können.

10. Am 01.09.2015 langte beim BFA das eingeholte psychiatrische Gutachten des. Dr. Günter Krug, Psychiater/Physiotherapeut, vom 06.08.2015 ein (AS 309).

11. Am 23.10.2015 wurde der Beschwerdeführer erneut vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei wurde dem Beschwerdeführer der Inhalt des psychiatrischen Gutachtens vom 06.08.2015 zur Kenntnis gebracht und mitgeteilt, dass Wahnvorstellungen hinsichtlich der angeblichen Verfolgung vorliegen würden, weshalb diese als nicht glaubhaft anzusehen sei. Trotzdem bestand die anwesende Vertretung des Beschwerdeführers auf eine erneute Befragung zu den Fluchtgründen. Im Anschluss brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass sein Cousin bei einer Terrororganisation gewesen sei und dieser alles getan habe, um dem Beschwerdeführer zu schaden. Dieser Cousin habe alles getan und auch Menschen getötet, wenn er einen Auftrag bekommen habe. In einem bestimmten Gebiet habe der Cousin des Beschwerdeführers drei Bienenzüchter angeschossen, wovon zwei verstorben seien. Der Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits (der Vater dieses Cousins) habe dem Beschwerdeführer gesagt, dass er ihn töten wolle, weil er alles erben würde und habe sein Onkel selbst auch befürchtet getötet zu werden. In der Türkei hätte man diesem Gift gegeben und sei dieser dann in Deutschland gestorben. Man habe ihm etwas gegeben, das einen Herzinfarkt auslöse. Der Beschwerdeführer habe auch bei der Polizei angegeben, dass diese drei Verdächtigen schuld an seinem Tod sein würden und habe er auch die Adressen bekanntgegeben. Eine Rückkehr in die Türkei würde für den Beschwerdeführer den Tod bedeuten. Erdogan, der Präsident des Landes wolle ihn umbringen. In Bezug auf seinen Onkel brachte der Beschwerdeführer noch vor, dass dieser ca. eine Woche nach der Vergiftung gestorben sei. Der Beschwerdeführer selbst habe keine Erberwartungen gehabt, sei aber 1997 von Angehörigen von Ergenekon abgeholt und misshandelt worden, damit er bei Ergenekon mitmache. Dabei habe es sich um Freunde seines Cousins gehandelt und sei ihm gesagt worden, dass er ab jetzt keine finanziellen oder sonstigen Probleme mehr haben werde. Der Beschwerdeführe habe mit einem Begleiter auch Anzeige bei der Polizei erstattet, sei von dieser aber rausgeschmissen worden. Seinen Cousin habe er nicht angezeigt, weil ihm sein Begleiter davon abgeraten habe.

12. Mit Schriftsatz vom 12.11.2015 erstattete die (damalige) Vertretung eine ergänzende Stellungnahme zu der am 23.10.2015 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA. Darin wurde im Wesentlichen auf einen Krankenhausaufenthalt im Jahr 1998 sowie zwei Beschwerden des Beschwerdeführers an ein Gericht im Jahr 2009 und 2011 verwiesen.

13. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.05.2016, Zl. 831227209 / 1709835 / BMI-BFA-RD-STM, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß

§ 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Beweiswürdigend wurde vom BFA ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seine Ausreisegründe nicht nur widersprüchlich dargelegt habe, sondern diese auch auf seinen Wahnvorstellungen beruhen würden, weshalb diese für nicht glaubwürdig befunden wurden.

Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 57 AsylG nicht vorliegen.

14. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 03.05.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß

§ 52a Abs. 2 BFA-VG die Verpflichtung mitgeteilt, bis zum 18.05.2016 ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

15. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 02.05.2016 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen mit Schriftsatz vom 30.05.2016 fristgerecht Beschwerde erhoben und der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt wurde.

Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass die Feststellungen des BFA nicht durch die vorgelegten Beweismittel begründet werden würden. Es gehe aus dem bekämpften Bescheid auch nicht hervor von welchem Sachverhalt das BFA ausgegangen sei und welcher Sachverhalt der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt worden sei. Auch eine Begründung, weshalb das BFA dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit abspreche, sei der Bescheidbegründung nicht zu entnehmen. Die Begründung des bekämpften Bescheides erschöpfe sich im Wesentlichen in der Zitierung des Gesetzeswortlautes, sowie allgemeinen Tatsachen zur Sicherheitslage und würde damit eine Scheinbegründung darstellen. Das BFA hätte insbesondere einen länderkundigen Sachverständigen zur Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer in der Türkei aufgrund seiner Abstammung und seinen nachvollziehbar dargelegten Fluchtgründen tatsächlich einer Verfolgung ausgesetzt sei, beiziehen müssen. Auch dem eingeholten psychiatrischen Gutachten sei zu entnehmen, dass ein Übergriff und ein Verfolgungsszenario für einen begrenzten Zeitraum glaubwürdig seien. Es sei beim Beschwerdeführer zwar eine Paranoia (Verfolgungswahn) diagnostiziert worden, diese könne aber durchaus auf ein vom Beschwerdeführer geschildertes Ereignis zurückzuführen sein. Aus dem Gutachten gehe auch hervor, dass der Verfolgungswahn jedenfalls zu behandeln sei, was das BFA gänzlich außer Acht gelassen und keine Feststellungen dazu getroffen habe. Der Beschwerdeführer sei - entgegen den Feststellungen des BFA - nicht gesund und sei auch nicht arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer bedarf unter anderem einer psychiatrischen Behandlung, welche ihm in der Türkei nicht zur Verfügung stehe.

16. Am 21.12.2016 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen Zudem wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen Länderfeststellungen zur Türkei ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von drei Wochen eingeräumt.

17. Mit Schriftsatz vom 11.01.2017 erstattete die Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu den in der mündlichen Verhandlung dem Beschwerdeführer ausgehändigten Länderinformationen.

18. Mit Schreiben des BVwG vom 19.12.2018 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 18.10.2018 übermittelt und ihm einen First zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von drei Wochen eingeräumt.

19. Mit Schriftsatz vom 18.01.2019 sowie vom 04.02.2019 erstattete die Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme sowie eine Ergänzung der Stellungnahme zu den übermittelten Länderinformationsblatt zur Türkei. Neben Ausführungen zur allgemeinen Sicherheitslage sowie zur Gülen-Bewegung wurde auf die Lage der alevitischen und kurdischen Minderheit hingewiesen. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei würde der Beschwerdeführer aufgrund seiner Krankheit auch wieder diverse Anzeigen erstatten und würde er so - in Verbindung mit der regen Demonstrationsteilnahme des Beschwerdeführers - den Behörden der Türkei in kurzer Zeit auffallen. In der Ergänzung zur Stellungnahme wurde auf Berichte zum Zusammenbruch des Rechtsstaates sowie auf die schlechten Haftbedingungen in der Türkei - insbesondere seit dem Putschversuch 2016 - verwiesen.

II. Sachverhalt

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, alevitischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er stammt aus dem Dorf XXXX und besuchte dort fünf Jahre lang die Schule. Anschließend hat der Beschwerdeführer keine Ausbildung absolviert und arbeitete unter anderem in der Landwirtschaft, in der Baubranche sowie als angelernter Maler. Von 1982 bis 1983 absolvierte der Beschwerdeführer seinen Militärdienst und lebte von ca. 1987 bis 1989 in der Schweiz, ehe er wieder in die Türkei zurückkehrte. Von 1989 bis 2008 wohnte der Beschwerdeführer in Istanbul und war anschließend bis zu seiner Ausreise aus der Türkei im Mai 2013 wieder in seinem Heimatdorf XXXX wohnhaft.

Der Beschwerdeführer hat in der Türkei an Demonstrationen für Menschenrechte, Medienfreiheit, Rechte der Arbeiter und Gewerkschaften sowie für die Rechte der Kurden und Aleviten teilgenommen.

In der Türkei halten sich nach wie vor seine Mutter, zwei Brüder sowie vier Schwestern auf. Zwei Brüder des Beschwerdeführers sind in der Schweiz aufhältig. Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Zur Mutter sowie zu einer Schwester hat der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt.

Der Beschwerdeführer hält sich seit August 2013 durchgehend in Österreich auf. Er hat in Österreich keine Verwandten, ist hier nicht berufstätig und lebte von Leistungen der Grundversorgung für Asylwerber. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Beim Beschwerdeführer entwickelte sich bereits in der Türkei basierend auf einer posttraumatischen Belastungsstörung (mit einem nicht definierbaren Schweregrad) eine induzierte wahnhafte Störung im Sinne eines Verfolgungswahnes mit teilweise überwertigen Ideen, welche sich chronifiziert hat.

Beim Beschwerdeführer besteht eine teilweise Einvernahmefähigkeit und kann er nur zu jenen Bereichen, welche nicht direkt von seinem Wahn betroffen sind, korrekte Angaben machen.

Der Beschwerdeführer ist für seine persönlichen Angelegenheiten handlungsfähig. Er ist in der Lage mit Geld umzugehen, Ausbildungen zu machen und einfache Tätigkeiten beruflich auszuführen.

Seitens des Psychiaters und Psychotherapeuten, welcher im August 2015 ein psychiatrisches Gutachten über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers erstellte, wurde empfohlen, dass sich der Beschwerdeführer in eine psychiatrische Behandlung und psychosoziale Betreuung begibt sowie eine Psychotherapie in Anspruch nimmt. Der Beschwerdeführer hat sich weder in der Türkei noch in Österreich einer solchen Behandlung unterzogen und nimmt auch keine medikamentöse Behandlung in Anspruch.

Der Beschwerdeführer hat Deutschqualifizierungsmaßnahmen besucht und spricht auf dem Niveau A1 die deutsche Sprache.

Von 09.02.2015 bis 13.02.2015 war der Beschwerdeführer gemeinnützig für die Marktgemeinde XXXX tätig und pflegt soziale Kontakte zu seinen Nachbarn in der Wohnsitzgemeinde.

Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in einem Verein und absolvierte keine Ausbildung in Österreich.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer solchen ausgesetzt wäre.

Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.2. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:

"Zusammenfassung

? Die türkische Regierung sieht die Sicherheit des Staates auf dreifache Weise gefährdet: Durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), durch die von der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die Kämpfer des "Islamischen Staats" und weitere terroristische Gruppierungen. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die Terrorbekämpfung und die Sicherung "nationaler Interessen" hat daher ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht, das auch negative Auswirkungen auf Grundfreiheiten bzw. weitere asylrelevante Folgen hat.

? In der Türkei fand in der Nacht vom 15. auf den 16.07.2016 ein Putschversuch statt. Eine

Reihe von Putschisten aus dem Militär hatte v. a. in Ankara und Istanbul mit Hilfe von Kampfflugzeugen, Helikoptern und Panzern versucht, die staatliche Kontrolle zu übernehmen sowie StP Erdogan zu stürzen. U. a. wurden in Ankara das Parlament, das Polizei-Hauptquartier und andere strategisch wichtige Orte aus der Luft bombardiert. In Istanbul sperrten die Putschisten eine Bosporus-Brücke. Der Putschversuch konnte rasch niedergeschlagen werden und war am 16.07.2016 beendet. Die AKP-Regierung hatte viele Bürger der Türkei in der Putschnacht mit Hilfe von Aufrufen der Imame über die Lautsprecher der Moscheen mobilisieren können, sich den Putschisten auf den Straßen entgegen zu stellen. Während des Putschversuchs kamen nach offiziellen Angaben 282 Personen ums Leben.

? StP Erdogan und die Regierung machten noch in der Putschnacht ausschließlich die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Das Auswärtige Amt hat verschiedene Hinweise auf eine Verantwortlichkeit der GülenBewegung für den gescheiterten Putschversuch in der Türkei geprüft. Im Ergebnis kann eine Beteiligung von Mitgliedern der Bewegung am Putschversuch nicht ausgeschlossen werden.

? Fethullah Gülen lebt seit 1999 im Exil in den USA. Seine islamische Bewegung, die er 1969 gründete und die nach Eigenangaben mehrere Millionen Anhänger in der Türkei hat(te), war lange Zeit eng mit der AKP verbunden. Durch ihr Engagement im Bildungsbereich hat die Gülen-Bewegung über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut. Aus diesem Netzwerk rekrutierte die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen.

? Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der GülenBewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen MP Erdogan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet.

? Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie "FETÖ" oder auch "FETÖ/PDY" nennt ("Fethullahistische Terrororganisation / Parallele Staatliche Struktur").

? Nach dem Putschversuch hat die Regierung sog. "Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden bislang nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen 511 646 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 30 709 befinden sich in Haft, davon 19 329 rechtskräftig verurteilt (Stand: März 2019). 154.842 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden aus dem Dienst entlassen, darunter auch mehrere Tausend Militärangehörige.. Bei diesen "Säuberungen" wird nicht unterschieden zwischen Personen, denen lediglich eine nicht näher definierte Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird und jenen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt werden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen verhängte die Regierung am 20.07.2016 den Notstand, zunächst für drei Monate. Seitdem wurde der Notstand insgesamt sieben Mal um drei Monate verlängert, bis er am 19.07.2018 schließlich auslief. Eine Reihe der Notstandsbestimmungen wurden allerdings per Gesetz in permanentes Recht überführt. Von den Maßnahmen des Notstands besonders stark betroffen waren Militär, Polizei, Gendarmerie, Justiz und das Bildungswesen. Diese Institutionen dürften angesichts der hohen Zahl der Entlassungen in ihrer Handlungsfähigkeit deutlich eingeschränkt sein.

? Die Regierung hat seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setzt. Die Atmosphäre speist sich aus den "Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, sowie aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert wurde. Es besteht ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens über die Gefährlichkeit der Gülen-Bewegung als auch über deren Verantwortung für den Putschversuch. Diese Darstellung zu hinterfragen wäre gleichbedeutend mit einer Parteinahme für die Putschisten und insofern ein Risiko für die persönliche Sicherheit eines jeden.

? Bereits vor dem Putschversuch und seit der Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 hatte StP Erdogan in der Innenpolitik einen zunehmend autoritären Weg eingeschlagen, der die Türkei sukzessive von europäischen Rechtsstandards und Werten entfernt. Zu beobachten sind eine zunehmende Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, Missbrauch der Justiz für persönliche Machtinteressen, eine kaum kaschierte politische Einflussnahme auf die Wissenschaft / Universitäten, eine deutliche Eskalation im Kurdenkonflikt nach dem Scheitern der Gespräche der Regierung mit der PKK 2015 und damit insgesamt eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation und ein Rückschritt in der demokratischen Entwicklung der Türkei.

? Mit der Präsidentschafts- und Parlamentswahl vom 24.06.2018 traten Verfassungsänderungen über die Einführung eines exekutiven Präsidialsystems in Kraft. In der Folge gewinnt die aktuelle Regierung weitreichende Vollmachten hinzu, der Staatspräsident kann per Präsidialdekret gesetzgeberisch tätig werden und ohne Mitwirkung des Parlaments die Verhängung des Notstandes verfügen. Auch sein Einfluss auf die Besetzung von Posten im Justizwesen nimmt zu. Die Aufhebung des Notstandes vom 19.07.2018 führte nicht zu einer Abnahme der Repressionsmaßnahmen.

? StP Erdogan fährt politisch spätestens seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK ist. Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, ein Lösungsprozess auf dem Verhandlungsweg kam zum Erliegen. Noch gibt es zwar keine Hinweise auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen, die Intensität des Konflikts innerhalb des Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen.

Tatsächlich musste die Türkei von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine Serie terroristischer Anschläge mit einer der höchsten Zahlen von Todesopfern in ihrer jüngeren Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des "IS" sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der DHKP-C ausgesetzt. Viele der bis zum Redaktionsschluss dieses Berichts zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertigt die Regierung daher mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch werden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär auch gegen politische Gegner genutzt: Neben der Einstufung der Gülen-Bewegung als Terrororganisation wurde im Zuge einer temporären Verfassungsänderung am 8. Juni 2016 138 Abgeordneten (darunter 57 der 59 Abgeordneten der pro-kurdischen HDP) die parlamentarische Immunität entzogen. Aktuell (Stand März 2019) befinden sich 10 ehemalige Abgeordnete der HDP und ein ehemaliger Abgeordneter der CHP in Haft.

? Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, die türkischen Medien nahezu vollständig gleichgeschaltet. Seit Ausrufung des Notstandes wurden per Notstandsdekret knapp 200 tatsächlich oder vermeintlich Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen; ca. 3.000 Journalisten haben durch Schließungen ihre Anstellung verloren und haben - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - kaum Aussicht darauf, eine neue zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen wird häufig pauschal der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. Mehr als 100 Journalisten sitzen derzeit in Haft (Stand März 2019). Im Pressefreiheits-Ranking von "Reporter ohne Grenzen" hat sich die Türkei 2018 nochmals um weitere zwei Plätze auf Rang 157 von 180 verschlechtert. Seit dem Verkauf der Dogan-Mediengruppe an die regierungsnahe Demirören-Holding im Jahr 2018 sind rund 90 % der Medien dem regierungsnahen Spektrum mit finanziellen und personellen Verbindungen zur AKP zuzurechnen. Regierungskritische Medien, darunter prominent die kemalistisch-nationalistische Tageszeitung CUMHURIYET, stehen unter massivem Druck. Die Berichterstattung ist geprägt von Selbstzensur, regierungskritische Beiträge wurden seit dem Putschversuch noch seltener - und waren auch vorher schon nicht häufig. Seit 2016 wurden fünf syrische Journalisten auf türkischem Boden von mutmaßlichen IS-Mitgliedern ermordet. Mit Beginn der türkischen Militäroperation in Afrin wurden die Medien von der türkischen Regierung zu "patriotischer Berichterstattung" aufgefordert. Jedwede Kritik am Militäreinsatz wird mit Festnahmen geahndet; seit Beginn der "Operation Olivenzweig" wurden mehr als 845 Personen wegen kritischer Äußerungen in sozialen Medien vorübergehend festgenommen. Festgenommene Journalisten berichten von Misshandlungen im Polizeigewahrsam.

? Homosexuelle, Transsexuelle und andere sexuelle Minderheiten sind Diskriminierungen sowie Gewalt durch Sicherheitskräfte und Privatpersonen (auch eigene Familien), insbesondere gegen Transsexuelle, ausgesetzt. Zudem gibt es Probleme beim Zugang zur Justiz, fehlende Bestrafung von Tätern, Misshandlung von transsexuellen Frauen durch die Polizei, Probleme beim Zugang zu Ausbildung, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt und sozialen Einrichtungen, insbesondere außerhalb der Metropolen. Die vorher jährlich in Istanbul stattfindende "Pride Parade" wurde seit 2015 jedes Jahr verboten.

I. Allgemeine politische Lage

1. Überblick

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef in einem ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (09.07.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt. Die Amtszeit des direkt vom Volk gewählten Staatsoberhauptes beträgt fünf Jahre, eine einmalige Wiederwahl ist möglich.

Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in Art. 68 der Verfassung festgeschrieben.

Für die Parlamentswahl gilt eine 10 %-Hürde. Aufgrund einer Änderung des Wahlgesetzes 2018 ist es aber auch sog. "Wahlbündnissen" mehrerer Parteien möglich, ins Parlament einzuziehen, wenn das Bündnis insgesamt die Schwelle von 10 % überwindet. Die letzte Parlamentswahl fand zeitgleich mit der Präsidentschaftswahl am 24.06.2018 statt. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand), stellten die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt jedoch nicht in Frage. Der Wahlkampf fand unter den rechtlichen Einschränkungen des Notstandes statt. Der Kandidat der HDP, Selahattin Demirtas, befindet sich bis heute im Gefängnis. Nach den amtlichen Ergebnissen erzielte die Regierungspartei AKP 42,5 %, die mit ihr verbündete MHP kam auf 11,2 %. Gemeinsam verfügen beide Parteien damit über eine deutliche Mehrheit im Parlament. Die linkskemalistische CHP erreichte 22,67 %, die rechtsnationalistische IYI Parti auf 10,01 % und die linke, prokurdische HDP schaffte mit 11,62 % ebenfalls den Einzug ins Parlament.

Bei der am 31.03.2019 erfolgten Kommunalwahl gewann die oppositionelle CHP unter anderem die Bürgermeisterwahlen in Ankara und Istanbul. Auf Beschwerde der Regierungspartei AKP entschied der Hohe Wahlrat am 6.5.2019, die Wahl in Istanbul zu annullieren, nachdem StP Erdogan sich persönlich zur Wahl geäußert und von schwerwiegenden Manipulationen gesprochen hatte. Die Neuwahl ist für den 23.06.2019 festgesetzt.

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung in Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt; realiter besteht allerdings eine starke Machtkonzentration im Amt des Staatspräsidenten. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert.

Der am 20.07.2016 eingeführte und siebenmal verlängerte Notstand wurde am 19.07.2018 aufgehoben; wesentliche Regelungen der Dekrete wurden allerdings in reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden.

Die als Überprüfungsmechanismus für Notstandsentscheidungen (insbes. Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst) geschaffene staatliche Untersuchungskommission entspricht nach Einschätzungen von Amnesty International nicht den rechtsstaatlichen Standards. So ist die Kommission personell abhängig von der Regierung, langsam, arbeitet prozessual fraglich (z.B. Beweislastumkehr, keine Vorabmitteilung der Entlassungsgründe an Betroffene). Nur rd. 5.250 (7,5%) der 70.406 bearbeiteten Anträge wurden positiv beschieden (Stand: Mai 2019).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen.

Oberste Instanz der Verwaltungsgerichte ist der Verwaltungsgerichtshof, die der Straf- und Zivilgerichte der Kassationsgerichtshof. Aufgrund der großen Überlastung der obersten Instanzen wurde unmittelbar vor dem Putschversuch Ende Juni 2016 die seit mehreren Jahren geplante Zwischeninstanz in Form von Regionalgerichten eingeführt und die mittlere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde durch eine Gesetzesänderung vom 01.07.2016 entschieden, die Mitgliederzahl der beiden obersten Gerichtshöfe zu reduzieren. Die Frist zur Umsetzung wurde mit Notstandsdekret 696 vom 20.11.2017 bis 2022 verlängert. Am 25.07.2016 wurden anstelle der entlassenen Richter (mit Ausnahme der jeweiligen Gerichtspräsidenten) 267 neue Mitglieder für den Kassationsgerichtshof und 75 für den Verwaltungsgerichtshof gewählt. Mit Dekret Nr. 696 vom 20.11.2017 wurde jedoch der Kassationsgerichtshof mit 100 neuen Posten aufgestockt und der Verwaltungsgerichtshof mit 16 Posten. Vorwürfe, dass diese personellen Veränderungen zu einer Verschiebung der parteipolitischen Orientierung an den Gerichten genutzt wurden, erscheinen plausibel.

2. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen

Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch (wie alle Vereine) nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-) Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt, (z. B. sog. Büyükada-Verfahren). Nur wenige der Verfahren gegen Menschenrechtsverteidiger enden mit Freisprüchen. Gelegentlich ziehen sich die Verfahren über mehr als ein Jahr hin, und oft bleiben die Beschuldigten zumindest bis zum ersten Verhandlungstag in Untersuchungshaft.

Hinzu kommt, dass seit der Verhängung des Notstands am 20.07.2016 mehrere Tausend Vereinigungen, darunter zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, geschlossen wurden. Im (kurdisch geprägten) Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes.

Die am 30.06.2012 gegründete MR-Institution der Türkei (MRI, Insan Haklari Kurumu) wurde am 07.04.2016 durch das Institut für Menschenrechte und Gleichstellung (Insan Haklari ve Esitlik Kurumu) ersetzt. Die neue Institution geht aus einem Antidiskriminierungsgesetz hervor, das die Türkei am 06.04.2016 zur Erfüllung der Kriterien zur Visaliberalisierung erlassen hatte. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gem. OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor. Seit Juni 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt eines Ombudsmanns mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden. Ferner verfügt das Parlament über einen ständigen Ausschuss für Menschenrechte sowie einen Petitionsausschuss, die sich allerdings kaum mit Fragen wie Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit befassen.

3. Rolle und Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und des Militärs

Die Polizei untersteht dem Innenministerium und übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Sie hat, wie auch der nationale Geheimdienst MIT (Millî Istihbarat Teskilâti), der sowohl für die Inlands- wie für die Auslandsaufklärung zuständig ist, unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (über 33.000 Bedienstete betroffen von massenhaften Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst, Entlassungen und Strafverfahren). Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig, rekrutiert sich teils aus Wehrpflichtigen und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Der MIT ist die Institution, die am meisten Einfluss gewinnen konnte. (siehe auch Abschnitt II.1.1.)

Die vor 2002 dominante politische Bedeutung des Militärs ist unter der AKP-Regierung stark zurückgedrängt worden, die Regierung konnte hier das Primat der Politik durchsetzen. Erstmals in der Geschichte der Republik wurde das Militär unter zivile Aufsicht (des Verteidigungsministeriums) gestellt, seine Autonomie in personellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Fragen aufgehoben. Unmittelbar mit Annahme des Verfassungsreferendums vom April 2017 wurde die Militärgerichtsbarkeit in die zivile Gerichtsbarkeit überführt. Von den "Säuberungen" seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist das Militär besonders stark betroffen (dort wg. der Luftschläge in der Putschnacht insbesondere die Luftwaffe).

II. Asylrelevante Tatsachen

1. Staatliche Repressionen

Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an. Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden (bzw. Gerichte) ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher "Gülenist" einzuleiten:

- Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;

- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013;

- Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;

- Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;

- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;

- Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigung);

- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus.

Im Zuge der erneuten Eskalation des Konflikts mit der PKK 2015 und unter dem Einfluss des de-facto Koalitionspartners der AKP, der radikalnationalistischen MHP, wurde der Druck auf die - vormals z.T. geduldeten - links-kurdischen regierungskritischen Kreise wieder deutlich erhöht.

1.1. Politische Opposition

Ein Teil der Opposition kann sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Zehn ehemalige Abgeordnete der links-kurdischen Partei HDP befinden sich in Untersuchungshaft oder sind rechtskräftig zu Haftstrafen verurteilt, darunter die ehemaligen KoVorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas. Den HDP-Abgeordneten wird meistens Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (PKK) vorgeworfen. Damit droht ihnen im Falle von Verurteilungen neben den langen Haftstrafen auch ein fünfjähriges Politikverbot. Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP bzw. ihrer Schwesterpartei DBP zu verringern. Die HDP/DBP wurde bei den Kommunalwahlen 2014 die vorherrschende politische Kraft im Südosten der Türkei. Im Zuge der Notstandsdekrete sind bis Ende 2017 insgesamt 93 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden. Bei den Wahlen am 31.März 2019 sind einige abgesetzte Bürgermeister wiedergewählt worden. Allerdings verweigerten die lokalen Wahlräte einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten (meist: AKP) Begründet wurde die Maßnahme damit, dass die betroffenen HDP-Politiker zuvor per Dekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Dennoch hatte sie der Wahlrat zur Wahl zugelassen.

Seit 2009 wurden keine Parteien verboten. Für die Regierung war die HDP Verhandlungspartner in den - 2015 abgebrochenen- Friedensverhandlungen mit der PKK.

Der Führung der HDP / DBP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK sowie zu deren politischer Dachorganisation KCK (Koma Ciwaken Kürdistan, Union der Gemeinschaften Kurdistans) zu pflegen. Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK betrifft insofern teilweise auch Mitglieder der HDP/ DBP.

Nach Einschätzung der HDP befinden sich rd. 6 000 Parteifunktionäre und -mitglieder (inkl. DBP) aktuell in Haft. Die KCK hat nach Auffassung der türkischen Behörden zum Ziel, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen. Bei diversen Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert. Seit der Eskalation der Kämpfe in Nordsyrien 2014 kam es zu zahlreichen Verhaftungen im Zusammenhang mit öffentlichen Äußerungen gegen diesen Einsatz mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda.

1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit

Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, in der Praxis sind diese Rechte aber weitgehend ausgehebelt.

Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind. In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Betroffen von Versammlungsverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind auch immer wieder Gewerkschaftsmitglieder. Regierungskritische Demonstrationen nach den Gezi-ParkProtesten im Sommer 2013 wurden vielfach aufgelöst. Seit 2015 wurden Gay-Pride-Paraden in Istanbul und Ankara teils sehr kurzfristig verboten. 2017 verfügte der Gouverneur von Ankara ein grundsätzliches Verbot für öffentliche Veranstaltungen mit LGBTI-Bezug.

Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeilicher Ingewahrsamnahmen und strafrechtlicher Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen nicht selten vor. Nicht genehmigte Versammlungen werden häufig unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst.

Die extensive Auslegung des unklar formulierten § 220 tStGB (kriminelle Vereinigung) durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Sie müssen - auch bei Teilnahme an einer solchen Demonstration im Ausland - mit einer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen.

Das 2004 novellierte Vereinsgesetz erlaubt die Gründung von Vereinen auf der Grundlage der Zugehörigkeit u. a. zu einer Religion oder Volksgruppe innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Türkisch muss nur noch in der offiziellen Korrespondenz des Vereins mit staatlichen Institutionen benutzt werden.

Die türkische Rechtsordnung schränkt die Presse- und Meinungsfreiheit durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein. Kritisch bleiben nach wie vor die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte. Nach den aktuellsten verfügbaren Angaben des türkischen Justizministeriums wurden 2017 24.585 Personen wegen Straftaten nach dem Antiterrorgesetz angeklagt; im gleichen Jahr wurde wegen 6162 solcher Straftaten eine Freiheitsstrafe verhängt, und in 5202 Fällen erging Freispruch. Ermittlungsverfahren laufen in erheblicher Zahl. Weitere Verfahren wurden auf andere Weise (Aussetzung zur Bewährung, Geldstrafe u.a.) erledigt.

Ebenso problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die "Beleidigung des Türkentums" ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Offiziellen Zahlen zufolge wurden 2017 insgesamt 6.033 Straftaten wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB eingeleitet und über 4.069 Fälle entschieden (davon 2.099 zu Freiheitsstrafe, 873 Freispruch, 1.660 "Aufschub der Urteilsverkündung" und 518 sonstige Beschlüsse).

Seit Beginn der dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 folgenden "Säuberungen" erhöhte sich der Druck auf die Medien. Aktuell befinden sich über 100 Journalisten in Haft. Den meisten von ihnen wird Unterstützung der Gülen-Bewegung oder der PKK vorgeworfen. Die Anklageschriften enthalten häufig konstruierte Anschuldigungen, die nicht selten lediglich auf öffentlichen Meinungsäußerungen beruhen. Innerhalb von sechs Wochen nach dem Putsch wurden sämtliche von der Regierung als Gülen-nah angesehenen Medien per Dekret geschlossen. Ende Dezember 2016 veranlasste ein Richter in Istanbul die Beschlagnahmung des Privatvermögens von 54 z.T. inhaftierten Journalisten/Publizisten, die in der Vergangenheit bei Gülen-nahen Medienorganen angestellt waren. Insgesamt wurden seit Juli 2016 knapp 200 Medienorgane geschlossen; alle in diesen Medien tätigen Journalisten haben ihre Presseakkreditierung verloren. "Reporter ohne Grenzen" verwies die Türkei 2019 im Länderranking der Pressefreiheit auf Platz 157 von 180 Alle landesweiten Nachrichtenagenturen stehen der Regierungspartei nahe, 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, TV) sind personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10% werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (u.a. auch durch direkte Drohungen an Werbung schaltende Unternehmen). Selbstzensur - schon vor dem Putschversuch weit verbreitet - ist inzwischen auch in bislang moderat kritischen Medien angekommen. Es werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen.

Das Internetgesetz vom März 2018, das Online-Journalismus regulieren soll, ist bislang noch nicht umgesetzt worden. Durch (Teil-) Sperrungen von Webseiten oder einzelner Artikel ohne gesetzliche Regelung wird häufig Zensur von Online-Medien ausgeübt. Im Zeitraum vom 04. bis 07.11.2016 wurden Onlineplattformen und Messengerdienste wie WhatsApp, Twitter, Facebook und Youtube im Zuge der HDP-Festnahmen für Tage gesperrt bzw. lahmgelegt. Die Telekommunikationsbehörde TTK forderte zudem mehrere VPN-Provider dazu auf, VPN-Verbindungen aus der Türkei zu stoppen. Seit April 2017 ist die OnlineEnzyklopädie Wikipedia in der Türkei gesperrt.

1.3. Minderheiten

Türkische Staatsbürger nichttürkischer Volkszugehörigkeit sind aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Die Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit.

Die Türkei erkennt Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags von 1923 an, der "türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, (...) die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen" (Art. 39) garantiert. Weiterhin sichert er den nichtmuslimischen Minderheiten das Recht zur "Gründung, Verwaltung und Kontrolle (...) karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung" zu (Art. 40). Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der Schutz allerdings auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe (ca. 2.000), die armenisch-apostolische Kirche (ca. 60.000) und die jüdische Gemeinschaft (ca. 20.000 Mitglieder). Nicht umfasst sind Gläubige diverser Ostkirchen, Katholiken, Protestanten und weitere nicht-sunnitische Religionsgruppen - einschließlich Aleviten (bis zu 25% der Bevölkerung) und Schiiten. [Zur Lage religiöser Minderheiten vgl. auch die Ausführungen zu 1.4.]

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es u.a. folgende ethnische

Gruppen, wobei die Angaben zu Zahlenstärken recht unzuverlässig sind: Kurden (13 bis 15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (geschätzt rd. 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krimtataren (geschätzt rd. 1 Mio.), Araber (vor dem Syrienkrieg 800 000 bis 1 Mio.), Lasen (zw. 50 000 und 500 000), Georgier (rd. 100 000), Uighuren (rd. 50 000), Armenier (mind. 40 000), Syriaken (zw. 20 000 und 30 000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (div. zentralasiatische und kaukasische Volksgruppen, Turkomanen, Pomaken, Albaner und andere).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist in Wort und Schrift seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 und an privaten seit 2014 möglich (Wahlpflichtfach "Lebendige Sprachen und Mundarten"). Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Dörfer im Südosten ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten. Seit einigen Jahren existiert im Südosten eine lebendige kurdischsprachige Medienlandschaft (TV, Funk, Print, Online). Viele - regierungskritische - Medien wurden jedoch seit 2015 von der Regierung verboten.

Für eine Rückkehr zum politischen Verhandlungsprozess zwischen der Regierung und der PKK gibt es aktuell keine Anzeichen.

Erhebliche Diskriminierungen der Roma u.a. auf den Gebieten Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen bestehen fort. Im April 2016 verabschiedete die türkische Regierung einen Strategie- und Aktionsplan zur Inklusion von Roma. Sein Fokus beschränkt sich auf einzelne soziale Dienstleistungen von Behörden. Dem Plan liegt jedoch kein Budget zugrunde. Unklar bleibt auch über 2018 hinaus, in welcher Form der Plan umgesetzt werden wird. Von Seiten der Regierung bleiben die Ansätze zur Umsetzung bis dato kaum erkennbar und bauen in erster Linie auf private Aktivitäten, die von ausländischen Gebern (EU, bilaterale Unterstützung) finanziell unterstützt werden.

1.4. Religionsfreiheit

Die Verfassung sieht die positive und negative Religions- und Gewissensfreiheit vor (Art. 24). Sie gilt - wie alle Grundrechte - in Verbindung mit Art. 14, der den Missbrauch der

Grundrechte regelt (insbesondere "Gefährdung der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, des Laizismus oder der Demokratie"). Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen kommen vereinzelt vor. Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Sunniten bei Anstellungen im öffentlichen Dienst.

Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen Städten bekannt. Rechtliche Hindernisse bei Übertritt bestehen nicht, allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien ausgegrenzt. Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen.

Die nach türkischer Lesart nicht vom Lausanner Vertrag erfassten (s.o., Abschnitt 1.3.) religiösen Gemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, haben keinen eigenen Rechtsstatus. Sie können sich als Verein und, nach umstrittener Auslegung des 2008 verabschiedeten Stiftungsgesetzes, auch in Form einer Stiftung organisieren. Eigentumserwerb und der Abschluss von Verträgen ist nur in den genannten Rechtsformen möglich.

Mit schätzungsweise 15 - 20 Millionen bilden die türkischen, zum Teil auch kurdischen Aleviten nach den Sunniten die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft der Türkei. Seit dem Beschluss der CHP im Februar 2015, alevitische Gebetsstätten "Cem-Haus" (Cem Evi) mit Glaubensstätten anderer Religionen beispielsweise der Moscheen gleichzustellen, wurde der Beschluss in den CHP-Stadtverwaltungen umgesetzt. 2015 entschied der Kassationsgerichtshof (Az: 2015/9711 K.), dass Cem-Häuser wie Gebetshäuser zu behandeln sind. Der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofes bestätigte 2017 ein Urteil, dass die Stromkosten einer alevitischen Stiftung in Istanbul von der staatlichen (sunnitischen) Religionsbehörde Diyanet getragen werden müssen. Die anderen Hauptforderungen der Aleviten wurden bislang jedoch nicht erfüllt. Diese Forderungen sind v. a.: Gleichstellung von Cem-Häusern mit Moscheen, inkl. staatliche Unterstützung analog zu Sunniten, Freiwilligkeit der Teilnahme am staatlichen "Religions- und Gewissenskunde"-Unterricht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Möglichkeit der Abwahl des Religionsunterrichts wurde ausgeweitet. Das Erziehungsministerium hat mit Ratsbeschluss d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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