TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/3 W187 2220779-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.03.2020
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Entscheidungsdatum

03.03.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W187 2220779-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes XXXX wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, traditionell verheiratet und Vater von sechs minderjährigen Kindern zu sein. Seine Gattin und seine Kinder hielten sich bereits in Österreich auf. Der Beschwerdeführer sei am XXXX in Afghanistan geboren, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei sunnitischer Moslem. Als Beweggrund für seine Ausreise gab er an, er sei Händler in XXXX gewesen. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer mehrmals bedroht und Geld und Nahrungsmittel von ihm verlangt. Als der Beschwerdeführer ihnen nichts gegeben habe, hätten die Taliban ihn bedroht, geschlagen und auf ihn geschossen. Aus diesem Grund habe der Beschwerdeführer das Land verlassen müssen. Außerdem sei die Sicherheitslage in ihrem Ort schlecht, es gebe überall Talibankämpfer. Im Fall einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr, er habe Angst vor den Taliban.

3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, sie seien von den Taliban bedroht worden. Es habe keine Sicherheit gegeben, auch nicht von Seiten der Behörde. Sein Bruder habe bei einer schwedischen Organisation gearbeitet, sein Vater sein Ingenieur gewesen, er selbst habe in einem familieneigenen Geschäft gearbeitet. Da die finanzielle Lage der Familie gut gewesen sei, hätten die Taliban Geld, Motorräder oder auch Lebensmittel gefordert. Die Probleme mit den Taliban hätten vor drei bis vier Jahren oder auch schon vor ca. fünf bis sechs Jahren angefangen. Einige Personen seien zum Beschwerdeführer gekommen und hätten Geld, Motorräder und Lebensmittel gefordert; widrigenfalls würden sie den Beschwerdeführer töten. Einige Tage später sei der Beschwerdeführer am Nachhauseweg von den Taliban angehalten worden. Nachdem der Beschwerdeführer ihnen seine Hilfe verweigert habe, habe ein Talib auf den Beschwerdeführer geschossen. Er habe ihn am Körper treffen wollen, dem Beschwerdeführer sei es jedoch möglich gewesen, die Pistole runterzudrücken. Der Schuss habe ihn daher nur ins Knie getroffen. Als die Polizei gekommen sei, seien die Taliban auf ihren Motorrädern geflüchtet. Ein bis zwei Jahre später habe der Beschwerdeführer den ersten Drohbrief erhalten. Nach dem Erhalt dieses Drohbriefes sei der Beschwerdeführer am Heimweg abermals von den Taliban angehalten worden. Einer der Taliban habe versucht, mit einem Messer seitlich auf den Beschwerdeführer einzustechen. Der Beschwerdeführer habe nach dem Messer gegriffen und sich verletzt. Als Personen gekommen seien, um dem Beschwerdeführer zu helfen, seien die Taliban geflohen. Nach diesem Vorfall habe der Beschwerdeführer einen weiteren Drohbrief erhalten. Als XXXX im Jahr 2015 für kurze Zeit von den Taliban erobert worden sei, habe der Beschwerdeführer mit seiner Frau und den Kindern das Land verlassen. Seiner Familie sei die Flucht nach Österreich gelungen, er selbst sei jedoch von der Türkei nach Afghanistan abgeschoben worden. Nach seiner Abschiebung sei der Beschwerdeführer zurück nach XXXX gegangen. Sein Geschäft sei zerstört gewesen, er habe begonnen es zu renovieren. Nach ungefähr einem Monat habe der Beschwerdeführer den dritten Drohbrief erhalten. Danach habe es noch einige Monate gedauert, bis der Beschwerdeführer wieder Kontakt zu seiner Familie in Österreich gehabt habe. Erst als er von seiner Familie gehört habe, sei er Richtung Europa ausgereist. Der Beschwerdeführer habe auch noch zwei weitere Drohbriefe erhalten, wobei er nicht sagen könne, ob dies vor oder nach seiner Ausreise gewesen sei.

4. Mit dem gegenständlichen angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 4 AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX erteilt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

5. Gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung mit Schreiben vom XXXX fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erzielt worden wäre.

6. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.

7. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt.

8. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertreterin sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

"[...]

Richter: Verstehen Sie den Dolmetscher gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Überhaupt nicht, ich bin gesund.

[...]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ich habe nur die Tatsachen und die Wahrheit dort erzählt. Ich habe ein Problem, man hat meinen Namen und mein Geburtsdatum falsch geschrieben.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin in der Stadt XXXX geboren, ich habe auch eine afghanische Geburtsurkunde und es auch offiziell übersetzen lassen.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich muss sagen ich bin Analphabet, ich kann nicht lesen und auch nicht schreiben. In Faris und Dari kann ich sprechen, aber schreiben oder lesen kann ich nicht. Nachgefragt gebe ich an, dass ich in Deutsch ein bisschen lesen und schreiben kann.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin verheiratet. Ich bin sunnitischer Moslem und Tadschike.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Ja. Sieben Kinder habe ich von meiner ersten Frau, welche hier leben. Ich habe auch eine Tochter von meiner Freundin hier in Österreich. Ebenso habe ich noch ein Kind mit meiner damaligen Frau und beide leben in Afghanistan.

Richter: In dem Verfahren betreffend Ihrer Gattin wurde ein Scheidungsbeschluss vorgelegt, sind Sie wirklich noch verheiratet?

Beschwerdeführer: Ich habe die Frage falsch verstanden, wir sind geschieden und so gesehen bin ich ledig.

Richter: Haben Sie noch eine zweite Frau in Afghanistan?

Beschwerdeführer: Ich habe eine gehabt und mich von ihr scheiden lassen. Von der jetzt genannten Frau habe ich mich bereits in Afghanistan scheiden lassen und von der anderen habe ich mich hier in Österreich scheiden lassen.

Richter: Warum haben Sie sich scheiden lassen?

Beschwerdeführer: Erstens muss ich sagen ging es uns als Familie jeden Tag schlechter und manchmal gab es verbale Streitigkeiten mit der damaligen Frau und irgendwann musste ich mich von ihr scheiden lassen. Damit meine ich die Frau, von der ich mich in Afghanistan scheiden habe lassen. Die Frau hier meinte, sie möchte ein freies Leben führen und sie würde gerne unabhängig selbst ein Leben führen, deshalb musste ich mich auch damit abfinden.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe nur in der Provinz und Stadt XXXX gelebt. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Mein Leben lang war ich nur in XXXX .

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Es war ein normales Haus, man konnte darin leben und es war nicht schlecht.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich bin nie zur Schule gegangen. Ich habe als Supermarkt Verkäufer gearbeitet. Mein Geschäft oder Laden stand auch in XXXX . Ich war in meinem Geschäft tätig. Die Taliban haben mein Geschäft geplündert.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Die anderen von uns waren zu jung und mein Vater alleine konnte nicht die ganze Familie ernähren. Ich habe sehr früh mit der Arbeit begonnen. In Afghanistan ist es sehr schwer eine große Familie zu führen, ohne dass mindestens zwei Leute der Familie arbeiten.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Hier habe ich außer meinem Bruder und meinen Kindern niemanden. In Afghanistan lebt mein Vater, meine Mutter, zwei Bruder von mir und eine Schwester. Die Frau meines Bruders und meine Nichte. Sie leben alle in XXXX .

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie vor allem zu der in Afghanistan (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ja, besonders mit meinem Vater. Ich muss sagen, spätestens bis 18 Uhr Ortszeit kann man sich in Verbindung setzen und danach funktioniert die Verbindung nicht mehr.

Richter: Haben Sie in Afghanistan andere Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen, wie Freunde und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Ich habe einen Onkel väterlicherseits und drei Onkel mütterlicherseits. Für mich zählt meine Kernfamilie, meine Eltern, die anderen sind zweitrangig.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Zurzeit bin ich auf der Suche nach einem Job und mein Kurs ist zu Ende. Am XXXX . dieses Monats bekomme ich einen anderen Kurs. Ich interessiere mich auch für andere Kurse, weil ich weiß, dass ich noch weiter lernen muss und die Sprache lernen muss.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich habe ein paar Freunde und Bekannte, welche Afghanen sind, aber es sind nicht die besten Freunde. Ich habe auch eine Freundin.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Ja, ich bin Mitglied und ich bin ein sehr guter Fußballer. Wenn ich es professionell betrachte, egal wohin ich gehe, sagt man mir, ich bin zu alt. Ich liebe das schwimmen und ich gehe auch mit den Kindern schwimmen.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Der einzige Grund weswegen ich meine Heimat verlassen musste, nämlich wegen der Sicherheit und die Probleme der Taliban. Ich bin auch von ihnen angeschossen und verletzt worden. Einmal haben sie auf mich geschossen und einmal (Der Beschwerdeführer zeigt seine linke Hand) haben sie etwas von meiner Hand weggeschnitten. Es war spät nachmittags oder fast abends, als ich das Geschäft zugesperrt habe und ich wollte nach Hause gehen, als die Taliban auf Motorrädern gekommen sind, vor mir aufgetaucht sind. Sie fragten mich direkt, warum ich den Taliban und den Mudschahedin nicht helfen würde. Einer von denen hat seine Pistole herausgezogen und sagte mir, dass sie jetzt mit mir Klartext reden wollen. Ich habe versucht die Pistole aus seiner Hand zu entreißen, um mich retten zu können. Praktisch waren wir miteinander in eine Art Kampf verwickelt und ein Schuss ist gefallen, dabei wurde mein Bein verletzt. Das Ganze geschah zufällig in der Nähe einer Polizeistation, welche ca. 50 Meter von uns entfernt war, ich habe geschrien und um Hilfe gerufen. Als ich geschrien habe, die Taliban sind danach auf ihren Motorrädern geflüchtet. Als die Polizisten zu mir kamen und gefragt haben, was geschehen ist, habe ich gesagt, dass die Taliban mich verletzt hätten. Man hat mich dann ins Krankenhaus gebracht. In der Stadt XXXX gibt es nicht sehr viele gute Chirurgen. In der Zeit von der ich spreche gab es keine guten Spezialisten und man hat mir den Fuß nur verbunden. Danach hat man mich nach Hause gebracht und da mir mein Fuß ständig Schmerzen bereitet hat, bin ich nach XXXX gefahren, um einen Arzt zu besuchen. Als ich den Arzt besucht habe, hat er gemeint, dass bei mir verschiedene Adern im Fuß schwer verletzt worden sind und dieser Arzt könne es nicht persönlich operieren. Trotzdem hat er mir gesagt, dass es zwei Möglichkeiten gebe und es wäre ein bisschen riskant. Es gab eine Chance von 50%, dass ich entweder meinen Fuß verliere oder es geht alles gut und die Kugel könne erfolgreich hinausgenommen werden. Wegen meiner Hand muss ich sagen, dass eines Tages Leute auf Motorräder mich erwischt haben. Ich glaube das brauche ich nicht zu erzählen, die ganze Welt weiß, dass die Taliban fast immer vermummt kommen und man kann nichts außer den Augen sehen. Ich war auf der Gasse unterwegs, als sie aufgetaucht sind und sie fragten mich, ob ich sie erkannt hätte und ich habe die Frage verneint. Sie sagten dann zu mir, dass ich sie kennen muss, weil sie mich angeschossen haben. Sie sagten auch, sie seien diejenigen die mir einen Drohbrief geschickt haben und die Frage war wieder die gleiche wie vorheriges Mal, warum ich den Taliban keine Hilfe leisten würde. Dann sagten sie mir in einem rauen Ton, dass sie mit mir Klartext sprechen wollen und ich fragte im Gegenzug, was sie von mir wollen. Sie sind dann von ihren Motorrädern abgestiegen und haben mich nochmals gefragt, wieso ich den Taliban nicht helfe. Wir haben miteinander gesprochen und sie haben mich bedroht, als einer von ihnen ein Bajonett herausgezogen hat, hat diese Person mich angegriffen und ich war mir nicht sicher, ob mein Herz sein Ziel war, meine Niere oder mein Oberkörper. Ich habe versucht mich zu verteidigen und meine Hand vor das Messer geschoben. Dadurch wurde meine Hand verletzt, ich habe dabei um Hilfe geschrien. Die Leute des Ortes die mich gehört haben, versuchten näher an uns heranzukommen und dadurch sind die Taliban geflüchtet. Einer von diesen Leuten, die mir helfen wollten, hat ein Stück Stoff herausgezogen und damit meine Hand verbunden. Dann bin ich ins Krankenhaus gegangen, dort hat man dann die Wunde genäht. Die Wunde war so tief, dass ich von den Ärzten im Krankenhaus mitbekommen habe, dass ich sehr viel Glück hatte und wenn die Ader getroffen worden wäre, dann hätte ich mit dieser Hand nichts mehr tun können. Diese Drohbriefe sind weiterhin gekommen, einmal ist ein Drohbrief in mein Geschäft geworfen worden. Warum wir so bedroht worden sind, ist der Grund, weil mein Vater Angestellter beim Staat war und mein Bruder erfolgreich war. Sie haben ein paar Mal mir gesagt, wenn ich nicht anders oder wirkungsvoll hilfreich sein, solle ich zumindest ein Motorrad für sie kaufen oder ihnen mit Bargeld weiterhelfen. Sie haben nicht nur uns als Familie zerstört sie haben auch versucht die ganze Stadt XXXX zu zerstören. Ich kann nur wiederholen, ich und meine Familie sind von den Taliban bedroht worden. Soweit es mir möglich war, habe ich die erlebte Geschichte versucht nicht zu Hause zu erzählen, weil ich die Kinder davor schützen wollte. Ich muss auch ehrlich sagen, es ging mir wirtschaftlich sehr gut mit meinem Laden. Mein Vater war Staatsangestellter und mein Bruder hat mit den Schweden zusammengearbeitet. Wie gesagt, die Taliban sagten mir, entweder ich helfe ihnen oder im anderen Fall werde ich und meine Familie in direkter Gefahr sein. Ich und meine Kinder waren in Gefahr. Ich konnte dort nicht als freier Mensch leben, geschweige denn meine Kinder oder meine Familie.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan aktuell bedroht?

Beschwerdeführer: Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, sie haben meinen Vater meinetwegen bedroht und es heißt, dass dort für mich Gefahr besteht. Unseretwegen arbeitet mein Vater nicht mehr und das würde ich als eine Art Bedrohung bezeichnen.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Ich muss Anfangs sagen, dass die Chefs der Schlepper sich nicht zeigen, man sieht die zweite oder dritte Ebene. Es war am XXXX , als die Stadt gefallen ist. Dann sind meine Kinder, mein Bruder und ich nach XXXX gefahren. Zwei Nächte haben wir bei meiner Schwiegermutter verbracht und nachher sind wir dann nach XXXX gefahren. Dort habe ich telefonisch mit ein paar Leute gesprochen. Das heißt, man hat uns dann nach Pakistan gebracht und dann hat man uns in den Iran gebracht. Vom Iran sind wir zur türkischen Grenze gegangen. Ich glaube fünf oder sechs Mal sind wir von der türkischen Polizei erwischt worden, sie habe uns über die iranische Grenze abgeschoben. Wir haben es letztendlich geschafft und sind in die Türkei gegangen. Wir sind dann auf das Meer und auf das griechische Hoheitsgebiet gekommen. Ich war in diesem Schlauchboot im hinteren Bereich und meine Familie war auf der vorderen Seite des Schlauchbootes. Wir waren auf dem Wasser unterwegs, als zwei andere Schnellboote zu uns gekommen sind und sie haben eine Art Angel auf unser Schlauchboot geworfen. Zu diesem Zeitpunkt ist meine Familie und mein Bruder ins Wasser gesprungen, aber ich blieb leider im Schlauchboot. Man hat uns wieder zurück in die Türkei gebracht und ich war ein Monat lang in der Türkei im Gefängnis. Dann hat man mich nach Afghanistan abgeschoben. Ich bin wieder zurück nach XXXX nach Hause gefahren, aber ich war sehr besorgt wie es meiner Familie und meinem Bruder ging, weil ich nicht wusste, was mit ihnen geschehen ist. Meine Eltern waren auch sehr besorgt. Nach einiger Zeit habe ich das Foto meines Sohnes auf der Facebook-Seite gesehen, welches meine Frau auf der Seite geteilt hat. Nachdem ich das Foto meines Sohnes auf Facebook gesehen habe, habe ich mich mit ihnen in Verbindung gesetzt. Ich fragte sie, wo sie wären und sie meinte, dass sie in Österreich wären. Von dem Zeitpunkt an, als ich nach XXXX gefahren bin ca. drei oder vier Monate danach wurde ich wieder von den Taliban bedroht und sie meinten, dass ich ein Ungläubiger sei, weil ich meine Familie nach Europa geschickt habe. Nach diesem Ereignis musste ich auch Afghanistan verlassen und nach Europa gehen. Sie haben mich als Abtrünniger bezeichnet und meinen Tod als erlaubt erklärt. Danach musste ich nach Europa gehen. Ich kann mich nur wiederholen, XXXX , Pakistan, Türkei und so weiter. In Athen war ich einige Zeit, in XXXX .

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Ich war als ziemlich erfolgreicher Geschäftsmann tätig und wir haben drei Geschäftslokale in einer der besten wirtschaftlichen Gegenden in XXXX besessen. Das heißt, unser Einkommen hat gereicht und wir konnten auch sparen. Von diesen Ersparnissen habe ich auch meine Reise bezahlt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich habe die Beschwerde eingereicht, weil man mir dort nur ein Visum ausgeschrieben hat und es ist für mich sehr wackelig, weil ich habe meine Kinder hier und man könnte mich zurückschicken und meine Kinder wären alleine hier, ohne dass ich sie beschützen könnte. Für mich ist es wichtig, dass ich nicht irgendwann von meinen Kindern getrennt werde, das ist meine Angst. Ich würde gerne so etwas haben, dass ich nicht jeden Tag davor Angst haben muss, dass man theoretisch abgeschoben werden kann. Ich wollte etwas haben, dass ich mich hier sicher fühlen kann und nicht in der Angst leben muss, abgeschoben zu werden. Deshalb bitte ich herzlich das Gericht und Ihre Person, dass Sie mir auf diesem Weg helfen können.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Ich glaube, dass Sie persönlich aus den Medien und aus Ihrem Beruf mehr wissen, wie die Taliban vorgehen, aber ich würde es so ausdrücken, da ich und meine Familie persönlich bedroht wurden, wäre es besser, wenn man uns verbrennen würde, als uns zurückzuschicken. Ich wurde bedroht und sie haben offiziell meinen Tod erlaubt und als Gebot erklärt.

[...]

Richter: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja."

Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers legte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung eine Teilnahmebestätigung an dem Modul " XXXX " sowie an einem Alphabetisierungskurs vor. Diese Unterlagen wurden in Kopie als Beilage ./1 zum Akt genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist der sunnitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er kann diese Sprache weder lesen noch schreiben. Weiter spricht der Beschwerdeführer ein wenig Deutsch. Er ist geschieden und Vater von neun Kindern.

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt XXXX in Afghanistan geboren und wuchs dort im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester im afghanischen Familienverband auf. Später lebten dort auch seine Gattin, seine minderjährigen Kinder, sowie die Gattin seines Bruders samt deren Tochter im selben Haushalt. Der Beschwerdeführer hatte in Afghanistan auch eine Zweitfrau, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat. Er lebte an keinem anderen Ort in Afghanistan.

Er besuchte in Afghanistan keine Schule, sondern begann bereits in jungen Jahren zu arbeiten. Der Beschwerdeführer betrieb in XXXX am XXXX einen Supermarkt. Einer seiner Brüder, XXXX , half ihm nach der Schule im Geschäft. Die Familie des Beschwerdeführers besitzt weitere Geschäfte, die vermietet wurden. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , arbeitete im Jahr XXXX einige Monate bei einer schwedischen Organisation. Sein Vater war als Ingenieur beim Staat angestellt. Die finanzielle Situation der Familie ist als gut einzustufen.

Der Beschwerdeführer heiratete seine Erstfrau, XXXX , am XXXX in Afghanistan. Sie sind Eltern von sieben minderjährigen Kindern. Weiter heiratete der Beschwerdeführer in Afghanistan seine Zweitfrau, XXXX , mit der er einen gemeinsamen minderjährigen Sohn hat. Vor seiner ersten Ausreise Richtung Europa verließ der Beschwerdeführer seine Zweitfrau und den gemeinsamen Sohn, indem er diese zu ihrem Vater in dessen Haus in XXXX brachte. Der Beschwerdeführer und seine Erstfrau ließen sich am XXXX in Österreich vor dem Bezirksgericht XXXX einvernehmlich scheiden. Diese Scheidung ist seit XXXX rechtswirksam. In Österreich hat der Beschwerdeführer eine Freundin, mit der er eine gemeinsame Tochter hat.

Die Eltern des Beschwerdeführers, zwei Brüder, seine Schwester sowie seine Schwägerin und seine Nichte leben nach wie vor im familieneigenen Haus in der Stadt XXXX . Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie in Afghanistan, insbesondere mit seinem Vater. Weiter leben in Afghanistan ein Onkel väterlicherseits und drei Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers.

In Österreich leben die Ex-Frau des Beschwerdeführers, XXXX , sowie deren gemeinsame sieben minderjährigen Kinder XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX . Weiter lebt ein Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , in Österreich. Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Freundin, mit der er eine gemeinsame Tochter hat.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer nahm im XXXX am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF und am Modul " XXXX " der Landespolizeidirektion XXXX teil. Weiter besuchte er im Zeitraum XXXX bis XXXX einen Alphabetisierungskurs. Der Beschwerdeführer hat noch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem Fußballverein und verbringt seine Freizeit mit Fußball spielen oder schwimmen.

Die Ex-Frau des Beschwerdeführers, XXXX , sowie deren gemeinsame sieben minderjährigen Kinder XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und der in Österreich geborene XXXX halten sich in Österreich auf. Der Ex-Frau des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , der Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 zuerkannt. Den genannten minderjährigen Kindern des Beschwerdeführers wurde nach ihrer Mutter der Status der Asylberechtigten im Familienverfahren gemäß § 3 Abs 1 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 mit Erkenntnis vom XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , zuerkannt. Weiter lebt ein Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , in Österreich. Der Beschwerdeführer hat in Österreich auch eine Freundin, mit der er eine gemeinsame Tochter hat.

Weitere Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen leben nicht in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es, abgesehen von XXXX und der gemeinsamen Tochter des Beschwerdeführers und seiner Freundin, in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.3 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die Taliban aufgrund unterstellter politischer Gesinnung wegen seiner Weigerung, die Taliban (finanziell) zu unterstützen, sowie aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Bruders, XXXX , der für eine schwedische Organisation tätig gewesen sei.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die Taliban den Beschwerdeführer mehrfach aufforderten, sie (finanziell) zu unterstützen, der Beschwerdeführer sich weigerte und dieser in weiterer Folge mehrere Drohbriefe der Taliban erhielt. Der Beschwerdeführer wurde daher weder von den Taliban gezielt angeschossen, noch mit einem Messer verletzt. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen, Zwangsrekrutierung oder Verfolgung durch die Taliban aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung wegen der Weigerung, sie zu unterstützen, ausgesetzt wäre, ist daher nicht zu erwarten.

Der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , war im Jahr XXXX für einige Monate für eine schwedische Organisation als Hygiene-Promoter tätig. Der Bruder des Beschwerdeführers wurde aufgrund dieser Tätigkeit jedoch nicht von den Taliban unter anderem mittels Drohbriefes bedroht. Der Bruder des Beschwerdeführers beendete seine Arbeit für die schwedische Organisation im Jahr XXXX . Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Bruders durch die Taliban bedroht wurde, weil sein Bruder für eine schwedische Organisation gearbeitet hat. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen, Zwangsrekrutierung oder Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Bruders ausgesetzt wäre.

Es kann weiter nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan infolge seines Aufenthaltes in Europa als "verwestlicht" wahrgenommen und ihm deshalb eine Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung drohen würde.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.4.1.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp b

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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